Faszinosum Stadtnatur
Mit Hanna Bjørgaas auf Entdeckungsreise in die Wildnis diesseits und jenseits unserer Haustür
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie norwegische, in Oslo lebende Biologin Hanna Bjørgaas mit den Schwerpunkten Biodiversität und Evolution und einer Zusatzausbildung in „Outdoor Life“ scheint das zu sein, was man einen hoffnungsvollen Fall nennen könnte:
Hoffnungsvoll in dem Sinne zum einen, dass sie, die auch als „Reiseleiterin für Kreuzfahrttouristen“ in der Arktis und Antarktis (siehe unten) gearbeitet und Touren zum Thema Pflanzen, Pilze und Flechten durchgeführt hat, ihre (Arbeits-)Tage selbst in vermeintlich vertrauter urbaner Umgebung offenbar stets voller Neugierde und Erwartungen auf neue Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse angeht, ‚bewaffnet‘ meist mit Skizzenbuch, Fernglas und Lupe.
Hoffnungsvoll in jenem Sinne zum anderen, dass sie als eine Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben pulverisierende Berufsenthusiastin optimistisch stimmt in einer Zeit, in der viele Hirne, ja selbst staatliche Institutionen den Begriff „Arbeit“ mit mehr oder minder starkem Beigeschmack versehen und von armseligen, Menschen auf eine Dimension reduzierenden oder dichotomisierenden Konzepten bzw. Begriffen wie „Job“ und „Jobcenter“, „Karriere“, „work-live-balance“ und dergleichen mehr zugemüllt scheinen.
Hoffnungsvoll zum dritten und last but on no account least dergestalt, dass sie nicht mit Aufmerksamkeit heischendem erhobenen Zeigefinger, mit Allwissenheitspose und schon gar nicht im mit Selbstgerechtigkeits- und Selbstgefälligkeitsfäden durchwirkten Ornat des Ordens „Unbefleckte Ökomoralisten“ auftritt. Vielmehr zeigt sie sich als der Natur in beeindruckend kenntnisreicher, beeindruckend intensiver Weise zugewandte, doch stets dankbar mit ihrem Unwissen konfrontierte, freilich auch für eigensüchtiges Verhalten anfällige Zeitgenossin – anfällig selbst bis hin zu Vernichtungsphantasien. Dazu gleich mehr.
Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis erschien 2021 unter dem Titel Byens Hemmelige Liv im Verlag Cappelen Damm AS in Oslo. Die bei Greystone Books in Kanada erschienene Übersetzung ins amerikanische Englisch wurde bereits von der Washington Post enthusiastisch besprochen. Ins Deutsche übersetzt wurde das Buch nun von Sabine Richter, der es, sieht man von wenigen Stellen ab, gelungen ist, den Spagat zwischen dem Kolorit und dem Rhythmus der Ausgangssprache und denjenigen der Zielsprache souverän zu meistern und einen flüssig zu lesenden Text mit leichter ‚Fremdheitsnote‘ und mit Anklängen an Alltags- und gesprochene Sprache zu präsentieren.
Dieser Text ist, sieht man von der „Intro“ genannten Einleitung ab, in 9 Kapitel recht unterschiedlicher Länge unterteilt, wobei diese den Monaten eines Kalenderjahres, in diesem Falle denen des Jahre 2018, folgen – Februar, Mai und September kommen freilich nicht vor. Im Unterschied aber zum Kalenderjahr hat man als Leser die Möglichkeit, die Monate bzw. die Kapitel in derjenigen Reihenfolge aufzusuchen, die einem – Stichwort: Interesse an den thematischen Schwerpunkten – behagt.
Thematische Schwerpunkte und Charakter des Buches: Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was dieses vom Künstlerkollektiv „MI“ mit 9 ansprechenden Illustrationen versehene Buch eigentlich darstellt: Allem anderen voran trifft wohl die Bezeichnung „zoologisches und botanisches Sachbuch“ am ehesten zu, geht es doch zentral u.a. um Ameisen, Amseln, Flechten, Fledermäuse, Krähen, die Linde, die Mikrowelt des Erdreichs, Möwen, Pilze, Regenwürmer und Spatzen. Doch ist das mit gut 240 (nicht zwangsläufig zu lesenden) Anmerkungen versehene und auf zahlreichen internationalen Studien, aber beispielsweise auch beim Thema „Ameisen“ auf AntWiki fußende Buch ungleich mehr. Es enthält auch so etwas wie Reisebeschreibungen, Autobiographisches inkl. Erinnerungen und Rückblicken, Bekenntnisse, Reflexionen, Kommentare, Statements und explizite Adressen an den Leser, Experteninterviews, Expeditions-, Abenteuer- und sogar Horrorerzählungen, anekdotische Abschweifungen, erzählerische Einbettungen und Ausschmückungen, Porträts von (zum Teil skurrilen) Zeitgenossen sowie Wissenschafts- und Kulturgeschichtliches – gewiss ließe sich noch anderes anführen.
Das macht in Summe: Den Leser erwartet ein ebenso lehrreiches wie abwechslungsreiches wie unterhaltsam-unkonventionelles Lesevergnügen – mit Hilfe von drei Slips aus Baumwolle, die sie vergräbt, betreibt sie beispielsweise so etwas wie „,investigative[n] Journalismus‘“und liefert „Geschichten aus dem Untergrund“, das heißt über Beschaffenheiten von Erdarten –, an dessen Ende er, so meine These, ein anderer sein wird als zuvor. Jemand nämlich, der dank enormen Erkenntniszuwachses und tierischen Stadtbewohnern gegenüber verändertem Gefühlshaushalt künftig mit anderen Ohren, mit anderen Augen, mit einer anderen Nase, mit einer anderen Haltung und hoffentlich auch mit einem veränderten Verhalten durch urbane Räume schreiten wird. So wie Hanna Bjørgaas selbst, die den Leser en détail an ihren fachlichen wie persönlichen Lern- und Reifungsprozessen im urbanen Raum teilhaben lässt.
Denn, um ein Beispiel zu wählen, ungezählte Ameisen, genauer, Schwarze Wegameisen als eine der „rund zwölftausend Arten von Ameisen“ in der eigenen Küche waren auch der Autorin anfangs alles andere als recht. So nachzulesen im mit gut 30 Seiten überdurchschnittlich langen Kapitel „April. Krieg den Ameisen. Über Sex, Gemeinschaft und dreckige Autoscheiben“. Diesem Kapitel ist auf der es einleitenden Illustration quasi als Motto aus gutem persönlichem Grund der überdies politisch eminent aktuelle Satz „Im Krieg werden die eigene Werte wirklich auf die Probe gestellt“ beigegeben.
„Ameisen gegenüber habe ich ein ambivalentes Verhältnis“, lässt uns Bjørgaas anfangs wissen, insofern nämlich, weil sie „mutig bis in den Tod hinein“ seien, was bewundernswert und „abstoßend“ zugleich sei. „Abstoßend“, weil sie im Unterschied zu den meisten Tieren keine Angst vor den Menschen hätten. Warum auch? „Auf jeden von uns Menschen kommen über eine Million Ameisen. Würde man den Erfolg in reiner Biomasse messen, tja, dann würde das Gewicht aller Ameisen der Welt zusammengenommen größer sein als das aller Menschen.“ Nach Bjørgaas kommt also die vermeintliche menschliche Dominanz und Allmacht anderen Lebewesen gegenüber beispielsweise bei Ameisen an ihre Grenzen.
Als sich die Ameisen immer weiter ausbreiten, bringt sie das trotz einiger Bedenken und des Versuchs eines auf Begrenzung hinauslaufenden „Abkommens“ mit den Ameisen kurzfristig zu der Überlegung, der Ameiseninvasion mit einem „Massaker“, einem Insektenvernichtungsmittel nämlich zu begegnen. Dann aber siegt doch das Forscherherz in ihr. Und so erfahren wir am Beispiel der Schwarzen Ameise Grundlegendes über das „System“ von Geschlecht bei Ameisen, „das meine Auffassung davon, was Geschlecht sein kann, in Frage stellt“, über den „Hofstaat“ bei Ameisen und deren ‚Gesellschaftsmodell‘, über die „Limonaden-Wirtschaft“ zwischen Schwarzen Blattläusen und Ameisen, über die „Sprache der Ameisen“, darüber schließlich, dass die „zweimal so schnell wie Wirbeltiere“ durch Menschenhand verschwindenden Insekten überhaupt „Nutztiere“ sind, deren wir, mögen sie zuweilen auch lästig sein, dringend bedürfen, nicht zuletzt auch in urbanen Räumen. Von daher Bjørgaas’ besorgte Frage: „Sind wir gerade dabei, einen irreversiblen Sieg im Krieg gegen unsere Quälgeister davonzutragen?“
Aber zurück zum Buchanfang und zum „Intro“, in dem sich Hanna Bjørgaas als Person und ihrem Werdegang nach einlässlich vorstellt und den Beginn ihrer „Geschichte über die Natur in der Stadt“ im Jahr 2017 auf Deception Island in der Antarktis schildert. An einfachen Beispielen wie dem Populationsrückgang von Pinguinen verdeutlicht sie, die damals als Reiseleiterin unterwegs ist, zum einen, dass es eine „Illusion“ ist, die hier anzutreffende grandiose Landschaft für „von Menschenhand unberührt“ zu halten – auch hier fordert vielmehr der weit entfernt von Menschenhand mitverursachte Klimawandel seinen Tribut. Um wieviel mehr gilt das für von Menschen besiedelte Räume, Städte und Ballungszentren zumal. Zum anderen erzählt sie davon, wie ihr zu Bewusstsein kam, um was es sich bei solchen Reisen in die Antarktis eigentlich handelt (Stichworte: Natur als Ware, Konsum, Prestige), dass sie selbst, „Hochschulabschluss in Biologie“ hin oder her, durch ihre befürchteter Weise wohl eigensüchtig motivierte Teilnahme an der Reise genauso wie die von ihr teils belächelten Touristen die „fragile antarktische Natur“ schädigte – und dass sie, ein erstes Schlüsselerlebnis, „mehr über die Flechten in der Antarktis wusste als über die in meinem eigenen Hinterhof“ früher in Trondheim und heute in Oslo.
Wieder zurück in Oslo, hat sie dann zunächst den Eindruck, alles um sie herum sei „allein von Menschen gemacht“, die „wunderbare, komplexe Natur, aus der ich gerade zurückgekehrt war, war zu dem hier reduziert: Spatzen und Stadttauben, harte Oberflächen und rechte Winkel. Eine armselige Landschaft.“ Meisenknödel in Plastiksäckchen verdankt sie dann ein zweites Schlüsselerlebnis, was sie dazu bringt, sich näher mit Krähen zu beschäftigen, Krähen, deren Mund „dem Mund eines ältlichen Mick Jagger“ ähnlich sei.
Es ist hier nicht der Ort, nun all das Frappierende, Irritierende und Faszinierende im Stenogramm wiederzugeben, was Hanna Bjørgaas auf den folgenden annähernd 40 Seiten über die Krähe und die „Krähenkultur“ an Beobachtungen und an weltweit erarbeitetem Wissen zusammenträgt, geschweige denn all das, was die anderen Tiere und Pflanzen anbelangt. Aber auf drei Dinge ist abschließend aufmerksam zu machen:
Zum einen bleibt Bjørgaas trotz gelegentlicher Anthropologisierungen und bei allem Enthusiasmus für die von ihr erforschte Tier- und Pflanzenwelt diesen gegenüber gänzlich unsentimental. Wer ein ‚Kuschelbuch‘ erwartet, wird enttäuscht sein: „Ich habe keine Illusionen, was Krähen betrifft. Wir sind keine Freunde. Ich weiß, dass sie mir die Augen aushacken könnten, wenn sie dazu nur den Anlass bekämen“, heißt es beispielsweise am Ende des Krähenkapitels.
Zum anderen besteht die besondere Leistung von Hanna Bjørgaas in allen Kapiteln darin, es nicht dabei zu belassen, unser zoologisches und botanisches Wissen als solches zu erweitern, zu vermitteln also, wie es sich um dieses Tier und jene Pflanze ‚an sich‘ verhält. Bjørgaas hält nicht bloß einen quasi zeitenthobenen Status quo fest, betrachtet die Objekte ihres Interesses nicht bloß als ein mehr oder minder kontextloses Präparat, sondern lässt sie wie eine „kleine, verschandelte Hecke“ aus Linden Geschichten erzählen und stellt stets eine ganze Reihe von W-Fragen. Die zielen auf hochkomplexe Prozesse ab, auf die Interaktionen nämlich zwischen dem unablässig so oder so gestaltenden Menschen und der natura naturans in urbanen wie ländlichen wie vermeintlich naturbelassenen Räumen:
Warum gibt es in der Natur doch scheinbar so unzuträglichen urbanen Räumen überhaupt Amseln, Möwen, Flechten oder Linden? Wieso haben diese Tiere und Pflanzen ihre angestammten Lebensräume verlassen? Was bietet ihnen der urbane Lebensraum? Wie verändert dieser Lebensraum diese Lebewesen, wie verändern sie ihn? Inwiefern profitieren wir von der Ansiedlung dieser Lebewesen ‚bei uns‘, ja brauchen sie sogar dringend?
Dass sich die (selbst-)kritisch-pragmatische Hanna Bjørgaas bei all dem undogmatisch und ideologiefern verhält, sei noch einmal eigens hervorgehoben.
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