Ein Fragment aus der Frühzeit des modernen Romans

„Das trojanische Pferd“ von Franz Blei, ein zahmes Caballo Mallorquin

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Jahrzehnte haben ihn die Zeitgenossen überaus geschätzt. Seine Essays, seine Porträts, seine Übersetzungen, seine ungezählten Aktivitäten, als Redakteur und Mentor den zunächst einmal noch keineswegs etablierten Repräsentanten der Moderne zum Durchbruch zu verhelfen, unter anderen Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Robert Walser, trugen ihm von vielen Seiten Lob und Anerkennung ein: Der „Doktor Franz Blei“, wie man ihn genannt hat, geboren 1871 in Wien, galt (zumindest dort) zwischen 1900 und 1930 als „der Wegbereiter des modernen Romans“ (Ernst Schönwiese). Aber wenig später war seine Zeit vorbei. Eine noch im Hinblick auf seinen 60. Geburtstag im Januar 1931 geplante Festschrift kam schon nicht mehr zustande; offenbar hatte, von Musil einmal abgesehen, kaum jemand rechtzeitig einen Beitrag dazu fertiggestellt.

Im Herbst 1931 verließ Blei die zentralen Standorte seiner Unternehmungen in Wien, München und Berlin, um in den folgenden Jahren in einem Fischerdorf auf Mallorca, Cala Rajada, zu leben. Zwar publizierte er auch von dort aus weiterhin und solange ihm das möglich war in Zeitungen und Zeitschriften, aber sein Hauptgeschäft, von dem er jedenfalls in Briefen gern erzählte, war seitdem ein großes Romanprojekt: Das trojanische Pferd. Ein Projekt, dessen Fortgang Musil, wie seinen Briefen zu entnehmen ist, allerdings mit einigem Misstrauen verfolgt hat; ein gewisser „Mangel an Arbeitswillen“ war jedenfalls aus seiner Sicht bei seinem Freund nicht länger zu übersehen.

Der Roman blieb denn auch Fragment. Bald nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs musste Blei Mallorca verlassen. Er kehrte zunächst nach Wien zurück, wo er fast täglich im Literaten-Café Herrenhof anzutreffen war, ging 1937 nach Italien, wo ihm Rudolf Borchardt in Saltocchio bei Lucca eine Zeitlang Unterschlupf gewährte, und flüchtete schließlich weiter nach Südfrankreich und Portugal, von wo aus ihm 1941 endlich die Ausreise nach New York glückte; schon ein Jahr später, im Juli 1942, ist er dort gestorben.

Es ist inzwischen nicht mehr zu rekonstruieren, wie weit das Manuskript des Romanprojekts in diesen Jahren gediehen, ob es überhaupt irgendwann einmal abgeschlossen worden ist. Die diversen Spuren, die sich noch in den Beständen des Deutschen Exilarchivs befinden und die nun Sylvia Asmus in diesem Buch nachzeichnet, verweisen jedenfalls darauf, dass alle Versuche, die offensichtlich fehlenden Teile des Romans aufzuspüren, wie sie u. a. Wilhelm Sternfeld oder auch Albert Paris Gütersloh unternommen haben, erfolglos geblieben sind.

Helga Mitterbauer, die sich schon wiederholt bemüht hat, zu einer tatsächlich längst fälligen Wiederentdeckung der Werke von Franz Blei einzuladen, hat nunmehr das Romanfragment redigiert und herausgegeben und in einem Nachwort ausführlich gewürdigt: als Warntafel vor allen faschistischen Diktaturen, der Form nach aber als Zeugnis der Moderne, wobei sie als „Referenzpunkte“ Brochs Schlafwandler-Trilogie und Musils Mann ohne Eigenschaften sowie André Gides Falschmünzer und zuletzt sogar den Ulysses von James Joyce rekommandiert. Der Text, das Fragment, kann indes mit derartigen Attesten nicht ganz mithalten.

Schon der Titel gibt Rätsel auf, die das Fragment dann auch nicht andeutungsweise löst. Dunkel bleibt ferner die Verbindung der Handlungsstränge. Am Anfang wird eine reichlich banale Liebesgeschichte erzählt (die Gütersloh unter dem Titel Lydwina schon einmal veröffentlicht hat). Später treten Figuren auf den Plan, die allesamt mehr oder weniger gute Gründe gehabt haben, sich der Flüchtlingskolonie in dem mallorquinischen Fischerdorf Cala Rajada anzuschließen; sie reden und reden, die einen über Sozialismus, Atheismus und Sex, die andern über Arbeitgeber und Arbeitnehmer, über kapitalistische und kommunistische Grundpositionen, aber in der Regel reden sie alle arg aneinander vorbei. Sie sind allesamt Entwurzelte, Verlorene.

Wie Matschewski; „als Kaufmann und Ehemann ein Mensch, der unsicher und abenteuerlich lebt, ohne natürlich eine Ahnung davon zu haben. Wie alle Kaufleute und Ehemänner.“ Oder Heilmann, der Geschäftspartner Matschewskis, ein Jude, den bloß bekümmert, dass ihm die Zigarren einmal ausgehen könnten. „Geschäfte haben mir nie Sorgen gemacht. Auch wenn sie faul waren. Wenn ein Kapitalist Geld verliert, so verliert er nie die Hoffnung, es wieder zu gewinnen, Herr Matschewski.“ Und Seewald schließlich, ein kommunistischer Ingenieur, der neun Monate lang im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war und dann ausgebrochen ist und sich mit einem gefälschten österreichischen Pass nach Mallorca durchgeschlagen hat; auch er verliert sich gerne in Sentenzen, so wie Matschewski, so wie Heilmann, wie vor allem auch der Erzähler: „Man hat überall sein Kreuz zu tragen, es ist egal, ob hier oder sonstwo in der Welt.“

Allerdings, da ist noch etwas, was alle diese Männer und alle diese Unterhaltungen verbindet: Herablassung den Frauen gegenüber, eine Arroganz sondergleichen namentlich auch gegenüber den einheimischen Mädchen und Frauen; und zu keiner Zeit dahinter ein Fragezeichen. Von Lydwina weiß der Erzähler zu berichten, sie habe sich immer an das längst Erprobte und Bewährte gehalten:

Sie steigerte etwa ihre anreizenden Körperformen gern durch ein um ein weniges zu knapp gearbeitetes Schneiderkleid, das bei gewissen von ihren gekannten und gekonnten Bewegungen und Stellungen besonders ihre unteren Extremitäten auf eine eindrucksstärkere Weise modellierte.

Sie hätte darüber hinaus eine winzige Nase gehabt, ergänzt er wenig später.

Mit dieser kleinen Nase hatte Lydwina Glück: Sie schloss in der Naivität ihrer Bildung von vornherein jeden Intellektualismus aus, wie er gerade bei den um ein Lustrum jüngeren Damen in Mode kam, sich etwa in Meinungen über Joyce und die Psychoanalyse äußerte.

Hin und wieder erinnert dieser seltsame Erzähler, vor allem wenn er sich ironisch zu Wort meldet, ein wenig an die Pranke des (jüngeren) Heimito von Doderer. Aber eben doch nur aus der Ferne, ganz aus der Ferne!

Der Roman hätte, soviel man weiß, mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges enden sollen. Wie er diesen Ausbruch auf Mallorca selbst noch erlebt hat, darüber hat Blei im Oktober 1936 in der Wiener Boulevardzeitung Die Stunde recht anschaulich berichtet. Diese Reportage ist im Anhang noch abgedruckt. Sie handelt von den Versäumnissen der republikanischen Regierung, von den Illusionen der Kleinbauern und Fischer, von den Carlisten, die mit den Faschisten wohl doch nur vorübergehend ein Zweckbündnis schließen wollten und von den Kämpfen auf der Insel, die sofort viele Verwundete und Tote forderten … und kommt zum Schluss, dass dieser Bürgerkrieg nie und nimmer als Klassenkampf, sondern als Religionskrieg interpretiert werden sollte. Der Faschismus auf der einen und der Kommunismus auf der anderen Seite seien nämlich, so Blei, „einander in ihren Zielen näher als sie glauben: Beide wollen den totalen Staat etablieren, beide sind Gläubige an die absolute Allmacht des Staates.“

In dieser kurzen Reportage trifft Blei zweifellos weit öfter ins Schwarze als in seinem Zeitroman-Fragment Das trojanische Pferd, wo er sich, man kann es kaum vornehmer apostrophieren, pausenlos in von farbenprächtigen Adjektiven eingefassten Blumenarrangements verirrt.

Titelbild

Franz Blei: Das trojanische Pferd. Romanfragment. Herausgegeben von Helga Mitterbauer in Kooperation mit dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2022.
158 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783732908547

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