Das Glück des Staunens

Nico Bleutges Essaysammlung „Drei Fliegen. Über Gedichte“

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die altgriechischen Gelehrten erblickten im Staunen einst den Anfangsgrund aller Philosophie. Verwundert über dieses Naturphänomen oder jenen logischen Zusammenhang sollte dem Wesen der Dinge nachgespürt werden, bis diese lückenlos erklärt werden konnten. Die Philosophie etablierte sich als erste Wissenschaft und emanzipierte sich von ihren vorsokratischen Ursprüngen, die wir nach heutigem Verständnis wohl mehr als neugierig-grüblerische Dichtung denn strenge Episteme lesen. Nico Bleutges ausgewählte und in feiner Komposition rearrangierte Essays aus den letzten 15 Jahren, die der schmuckvolle Band Drei Fliegen versammelt, treten nun an, den oft verunglimpften dichterischen Wissensdurst als eigenständige Erkenntnisform wieder in sein Recht zu setzen. Und zwar als eine, die das Staunen über die Welt lebendig erhält.

Das hingebungsvolle Interesse des mehrfach ausgezeichneten Lyrikers und Literaturkritikers gilt dabei stets dem Konkreten, dem Einzelfall, ganz gleich ob dies nun eine Lektüre, ein Gemälde, ein Tier auf der Flucht vor einem anderen oder eine Erinnerung aus früher Kindheit sei. Insofern mag der Untertitel des Bands Über Gedichte zunächst trügerisch erscheinen, geht es keineswegs nur um schriftlich fixierte Versgebilde, sondern viel elementarer um einen Modus Vivendi, sich den verschiedensten Entitäten der Welt staunend zu nähern, sich in sie zu vertiefen und sie in ihrer jeweiligen Eigenheit verstehen zu wollen. Solches Verstehen ist niemals abgeschlossen, sondern ein andauernder Prozess – eine unendliche Annäherung, die keinesfalls in eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Lehre oder Theorie münden kann. Andererseits sind es dann doch regelmäßig einzelne Gedichte, die höchste Verwunderung auslösen, die Neugier schüren und somit einen Impuls liefern, sich auf die Pirsch nach verdeckten Verbindungen zu machen.

So stößt Bleutge bei Jürgen Becker oder Elke Erb lesend auf eine Formel oder auch nur ein Wort, dessen Sinnhaftigkeit nicht auf einen Begriff zu bringen ist, sondern semantisch vielfältig oszilliert. Grundsätzlich fasst er Gedichte nicht als monolithische Werkblöcke auf, er betrachtet sie vielmehr als andauernde Suchbewegungen nach einer Sprache, die der Verwunderung Ausdruck verleiht. An Inger Christensens berühmtem alfabet hingegen regt Bleutge die Kompositionsstrategie des Ganzen an, dem für die Dichtung eminent wichtigen Verhältnis von Wiederholung und Variation nachzugehen. „Wiederholung. Variation“ ist zugleich der Titel eines gelungenen Stücks über Dževad Karahasan, Ernst Jandl und erneut Inger Christensen, das wenig später im selben Kapitel folgt und es beschließt.

Sowohl als Lyriker als auch Herausgeber des Jahrbuchs für Lyrik 2018 hat Bleutge mehrfach bewiesen, dass er einen überaus wachen Sinn für die Abstimmung von Texten besitzt. Bei acht der insgesamt 27 Texte handelt es sich um Erstveröffentlichungen. Es sind gerade diese zuvor noch nicht publizierten Essays, die über die Sammlung verteilt besondere Scharnierstellen bilden und nicht selten auch persönlicher im Ton ausfallen. Bei den übrigen Stücken handelt es sich um eine bunte Melange: Beiträge zu Sammelbänden und für Literaturzeitschriften sind darunter, Laudationes auf Zsuzsanna Gahse und Barbara Köhler, Dankreden zur Verleihung des Eichendorff- oder Christian-Wagner-Preises. Auf seine umtriebige Rezensionsarbeit für die NZZ oder SZ hat der Alfred-Kerr-Preisträger von 2016 dabei nicht zurückgegriffen; sie schlägt sich lediglich in allzeit glasklarem Stil nieder. Das dürfte durchaus als Wink zu verstehen sein, dass die Drei Fliegen für eine Ästhetik plädieren, die über jene zwangsläufigen Urteilssprüche des kritischen Tagesgeschäfts hinauszugehen trachtet. Wie gelungen ein Gedicht in Anbetracht des Gesamtwerks seines Verfassers und seiner Zeitgenossenschaft zu nennen ist, spielt hier keine Rolle – was zählt, ist, was es mit einem macht.

Diese prinzipielle Offenheit ist auch der Grund, weshalb der Privatkanon der zusammengebrachten Dichter und Gedichte die Leser nicht weiter verwundern sollte. Auf den ersten Blick haben die Schreibweisen von Bleutge und Christensen, Georges Perec oder Ezra Pound zugestandenermaßen recht wenig gemein. Doch Autoritätsargumente zur Stützung der eigenen poetologischen Position ausfindig zu machen, stellt für Bleutge ohnehin keinen gebührlichen Anlass zur nähergehenden Beschäftigung mit Literatur dar. Bloße Bestätigung der eigenen Wertmaßstäbe in den Worten anderer sucht er nicht, solche Augenwischerei ist der Mühe nicht wert. Vielmehr geht es um Dichtung und wie diese uneingeschränkten Kontakt zur Welt ermöglicht. Die eigenen Verdikte dürfen, ja sollen in diesem Zuge gerne bröckeln.

Dennoch ist auch das ein oder andere wie in Stein gemeißelte Credo zu finden, das als Schlüssel zum dichterischen Oeuvre Bleutges taugt. In seiner Rede zum – wohlgemerkt – Erich-Fried-Preis heißt es:

Eine Literatur, die gleichermaßen auf die Beobachtung wie auf die Kraft der Imagination baut, wird den Phänomenen und den Ideen und Widersprüchen ihrer Gegenwart nicht mit einer bloßen Aussage begegnen, sie wird nicht moralisieren und schon gar nicht didaktisch sein wollen. Vielmehr wird sie versuchen, die Widersprüche in sich aufzunehmen und in ihrer Form zu reflektieren. Sie wird versuchen, der Vielschichtigkeit ihrer Struktur zu antworten. Ich wüßte nicht, was dafür geeigneter wäre, als das Gedicht.

Beim Wort nehmen lässt sich selbst diese Passage allerdings nur auf den ersten Blick, denn wogegen sie sich richtet, ist jene ignorante Eindeutigkeit, die sich ihrer Sache stets sicher gibt. Die Antwort auf die vielschichtigen Probleme der Welt kann niemals ihre Komplexitätsreduktion sein. Gerade weil sie die Dinge nicht vereinfachen, sind Gedichte geeignet, unser Verhältnis zur Welt auf die Probe zu stellen. Politisch naiv ist das nicht, Bleutge weiß, „etwas ins Gedicht zu holen, allein, rettet es nicht.“

Das betrifft vor allem das Verhältnis zur Natur. Wer einfach nur ‚Dodo‘ sagt, hat lediglich einen Namen genannt. Das vollbringt jedes Lexikon. Anders in den vorliegenden Essays, hier sind die Tiere omnipräsent, und nicht nur die mit WWF-Exoten-Charme. Bleutge studiert Fliegen und ihre Darstellungen in der Kunst, ihre Bewegungsabläufe und die Erinnerungen, die er mit ihnen verbindet. Ein andermal reflektiert er anhand einer Geschichte Brigitte Kronauers über einen vom Marder gejagten Hasen, der beim Anblick seines Verfolgers in Verwunderung erstarrt, doch dabei so gänzlich anders staunt als ein Mensch. Der naheliegende Anthropomorphismus wird ausgeschlagen, alle Einfühlungsduselei vermieden.

Letzteres gilt auch für private Erfahrungen, vor allem die doppelbödige Beziehung zu einem Großelternpaar, die den Ausgangspunkt gleich mehrerer Stücke darstellt. Aufschlussreich ist zudem ein Text über den Vater, einen Hobbymaler, der im Überarbeitungsprozess eines seiner Gemälde schließlich den in der Landschaft stehend portraitierten Sohn aus dem Bild tilgt. Die Atmosphäre des Bildes aber wirkt weiterhin merklich von der Präsenz des vormaligen Protagonisten geprägt, nur kreist das Spannungsverhältnis der Szenerie nun um eine Leerstelle. Eine bemerkenswerte Analyse, die sich lohnen würde, auf die offensichtliche Menschenferne vor allem der ersten Lyrikbände Bleutges selbst zu übertragen.

Konkretion – einer Begebenheit, Erinnerung oder Fantasie, ganz gleich – ist das hehre Ziel dieser Essays. Beizeiten allerdings beruft Bleutge dafür zu viele Gewährsleute in den Zeugenstand, dann gehen die Lektüren mit ihm durch und er verfährt in der Anführung von Belegstellen zu sprunghaft. Ist der Leser gerade dabei, sich auf ein Zitat Alec Bakers einzulassen, ist Bleutge bereits bei Perec, geht über zu Kronauer, muss an Friederike Mayröcker denken und kommt schließlich auf Peter Kurzeck zu sprechen. Das alles auf drei Seiten. Es folgen zehn weitere Namensnennungen im selben Text. Das ist zu viel des Guten, zumal nicht wenige Zitate einigermaßen dekontextualisiert präsentiert werden. In welchem Zusammenhang sie einst standen, wird des Öfteren übergangen, wenn die Quellenangabe lediglich lautet, Elias Canetti habe diesen Ausspruch „einmal“ getan oder Thomas Kling jene Sentenz „einmal“ niedergeschrieben. Das verwässert ein wenig den einlässlichen Blick, der Bleutges Beobachtungen ansonsten so stark macht.

Wie wunderbar an anderer Stelle wiederum eine Anekdote eingeflochten wird, um von ihr ausgehend über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier lyrischer Granden des 20. Jahrhunderts zu reflektieren, die paradigmatisch für die poetische Verflechtung von Wahrnehmung und Einbildungskraft und damit auch für Bleutges Verständnis von Dichtung stehen, sei an einem abschließenden Beispiel demonstriert:

Als die junge Elizabeth Bishop 1934 ihre Dichterkollegin Marianne Moore kennenlernt, entdecken beide schnell die gemeinsame Leidenschaft für den Zirkus. Der erste Besuch führt sie in den berühmten Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus. Moore hat eine Tüte mit altem Schwarzbrot dabei – ‚für die Elefanten‘, wie sie sagt. Doch hinter der vermeintlich selbstlosen Geste steht ein handfestes Interesse. Ihr Bruder hat ihr einst einen Armreif aus Elefantenhaar geschenkt, dem nun eine Strähne fehlt. Zur ‚Reparatur‘ benötigt sie ein paar Haare vom Kopf eines Babyelefanten. Bishops Aufgabe an diesem Tag besteht darin, die erwachsenen Elefanten und die Wärter mit der Fütterungsaktion abzulenken, damit Moore die Haare vom Babykopf abschnippeln kann. Die großen Elefanten verursachen einen gewaltigen Lärm – doch am Ende hat Moore, was sie will: ‚Sie öffnete ihre Tasche und zeigte mir drei oder vier derbe, graue Haare in einem Kleenextuch‘, notiert Bishop. 

In nuce enthält diese Szene, was Bleutges Schreiben ausmacht – eine unaufgeregte Neugierde und durchaus erdverbundene Liebe zum Detail. Das gilt für seine Gedichte und nicht minder für seine Essays. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nico Bleutge: Drei Fliegen. Über Gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
327 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783406755330

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