Wanderer zwischen zwei Welten

Philipp Blom sucht atemlos nach dem Ursprung seiner Geige

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für eine zauberhafte Idee: eine Kulturgeschichte des Geigenbaus, geschrieben aus Liebe zum eigenen Instrument, dessen Erzeuger man sucht, vielleicht weil man selber kein großer Geiger wurde. Philipp Blom, Autor der großen europäischen Katastrophengeschichte (Der taumelnde Kontinent, 2009; Die zerrissenen Jahre, 2014), gilt als Historiker verblüffender Perspektiven; doch hier übertrifft er sich selbst. Mit sichtlicher Wonne bewegt er sich in der friedlichen, nicht selten genialischen Zone musikalischer Praxeologie, hat sich ins Fachwissen historisch, technisch und sprachlich eingearbeitet, ohne den Duktus des genealogischen (Kriminal)-Romans zu unterdrücken. Bis ins 15. Jahrhundert zurück reicht seine geigenvergleichende Wirtschafts- und Handwerksgeschichte, mit ungemein kenntnisreichen Ausflügen zu violinistischen Lebenswelten um 1700, teils in Italien, teils in Bayern, bald in Füssen, bald in Venedig, eigentlich unvergleichbar das deutsche Dorf mit der italienischen Weltstadt, mit einem wandernden Lehrling als Schlüsselfigur. Casanova kommt vor, Bach natürlich, dann auch der eigene Vater, ein Dirigent, und daneben stehen stark autobiographische Notizen, manchmal etwas zu viele.

Blom, der Violinist aus Leidenschaft, kennt jede Pore, jede Zarge, jede Decke und Ecke seiner anonymen Geige, und jedes Detail führt ihn in je andere wissensgeschichtliche Magazine. Von jedem verwendeten Material  – Lacke, Hölzer, Därme, Elfenbein – wandert der Blick zu Herstellung, Aufzucht und Handel, wechselt vom regionalen zum europäischen und sofort auch internationalen Gelände, natürlich auch zur Seidenstraße. Wie sah eine Manufaktur in Cremona oder Venedig aus, wie effizient wurde arbeitsteilig gedacht und gearbeitet – nein, einen einzelnen Instrumentenbauer kann sich der Historiker in eigener Sache bald nicht mehr vorstellen. Nachdem Fachleute über die Herkunft und den Wert seiner Geige widersprüchliche Antworten geben, legt er kurzerhand eine Erzählspur namens Hanns an, die Fiktion eines begabten Lehrlings, dessen denkbare Vita durch alle Provinzen seines Berufes führt; ein alter ego des Autors, geliebt wie die Geige selbst.

Leider wird dieser dann trotz der weit gediehenen Recherche ein sachhaltiges happy end verweigert. Vieles spricht zwar für eine ziemlich edle Abkunft – um 1722 gab es den Baum, um 1730 könnte der hoch geschätzte Einwanderer Goffriller sie erschaffen haben –, aber dann fällt Blom plötzlich noch ein Kollege namens Zuanne Curci auf, deutsch also Hanns (!) Kurz: „Er wurde nach Angaben von Zeugen 1651 in Füssen geboren, kam im Alter von zwölf Jahren in die Lagunenstadt. Nichts verbindet meine Geige unmittelbar mit Zuanne Curci, aber sein Leben, soweit bekannt, deckt sich fast vollständig mit dem Weg, den meine Nachforschungen nahelegten.“ Der Historiker ist zunächst zufrieden. Doch bleibt der Weg leider eine Sackgasse.

Woher stammen die Hölzer, welche Bäume wurden wo gepflanzt und geschlagen, wie ließen sie sich verschiffen und lagern, wie wurde der beste Lack erfunden und aufgetragen – und wie kann man ihn analysieren: Abenteuerliche Recherchen stecken hinter jedem Absatz dieses Buches, einer Hohen Schule des historischen Erwägens, Argumentierens und Entkräftens. Metis, die Kunst der Vermutung, regiert neben Clio, Muse der Geschichtsschreibung. Allein für die letzten Lebensjahre dieses Hanns Kurz mussten unzählige Akten studiert, mussten Beitragszahlungen an die Handwerkergilde, Steuern, Eingaben, Prozessakten, Schuldenregister eruiert und bewertet werden, mit dem bitteren Schluss: „Sonst gibt es keine Spur mehr von Hanns Kurz“ – aber eben auch kein Instrument seines Namens.

Klingende Namen, vor allem italienische, bevölkern bekanntlich die Branche: Amati, Stradivari, Guarneri de Gesù, Guadagnini, Bergonzi – und die Gutachter für Auktionshäuser gelten als Königsmacher im Handel. Frappierend die deutsche Tradition, von Blom spannend und liebevoll dargestellt. Der bayrisch-schwäbische Ort Füssen gilt wirklich als Ursprung des Lautenbaus; von 1436 bis 1846 wurde das Handwerk generationenlang betrieben, zum Geigenbau verfeinert, in ausgepichter Arbeitsteilung nach Italien transferiert und vollendet.

Italien und Deutschland, zeigt Blom, haben mit der Violine das externe Herzstück der abendländischen Musikübung erfunden. Kein Instrument außer der menschlichen Stimme kennt einen derartigen Spagat zwischen solistischer und orchestraler Performanz, keines spannt sich so zwischen Metaphysik – Bachs abgründige Violinsoli – und laszivster Straßen- und Kneipenkunst. Der Teufel spielt Geige ebenso wie der Sensenmann im mittelalterlichen Totentanz. All das wird elegant und locker erzählt, im Modus einer Gebirgswanderung mit immer wieder verblüffenden Gipfelblicken, unterbrochen von schamhaften Minuten eigenen, leidenschaftlichen, aber als zu schlecht empfundenen Musizierens.

Gäbe es für dieses exzentrische Hybrid einen akademischen Namen? In Zeiten der beinahe wütenden Ansprüche auf Provenienzforschung mutet es exemplarisch an, wenn auch etwas zu romanhaft, denn wie weit kann so eine Forschung zurückreichen, wie vernetzt muss sie angelegt und wie „gut“ darf sie geschrieben sein? Mag Neil MacGregors Bestseller Die Welt in hundert Objekten als Vorbild gedient haben, so liefert Blom hier mit der doppelten Rückbindung einer einzelnen Geige an einen einzelnen Besitzer und einen einzelnen Hersteller eine fast maßlose Ego-History. Oder besser: eine Ego-and-Alter-History, aber diese nur halb biologisch, denn die Geige ist ja unsterblich. Das alles erinnert an Virginia Woolf, die vor achtzig Jahren am Beispiel ihres Freundes Lytton Strachey fragte, ob biographisches Schreiben mit Kunst vereinbar sei. Nein, war ihre Antwort, Biographen sprechen von Sterblichen, das literarische Sprach-Handwerk zielt aber auf Unsterblichkeit. Kunstvoll dagegen dürfen die Perspektiven sein: „Biography will enlarge its scope by hanging up looking glasses at odd corners.”

Brillen aus beliebig vermehrbaren schrägen Ecken: Leicht könnte man dem Buch Bloms auch Daten zum Musikmarkt, zur Schulung und Karriere unter kapitalistischen Bedingungen entnehmen, könnte an die heutige Rolle der Stiftungen erinnern, die kostbare Instrumente den besten Solisten ausleihen, oder an den Sündenfall reicher Anleger, die unbespielte Instrumente im Safe verschwinden lassen. Einen der schrägsten Blicke könnte man aber mit dem Göttinger Historiker Hermann Heimpel zur Geige wenden: Die halbe Violine hieß dessen bekannter Rückblick auf seine Münchner Jugend ab 1907. Die Kindergeige verschaffte ihm eine leidenschaftliche Lehrerin, unvergesslich streng, ein Liebesobjekt eigener Art. Historiker unter sich: Blom, Jahrgang 1970, liebt nicht den Lehrer, sondern das fleischgewordene Instrument.

Den Schluss seines Buches könnte man redundant finden, das Ausklingen der Liebesgeschichte hart am Kitsch. Ihr gelehrter Autor findet jedenfalls spielerisch zu sich und dem nur erahnten Werkmeister, er spürt Hände, die Generationen vor ihm dieselben Saiten bewegt und dieselben Stücke gespielt haben könnten: ein wahrhaft unheimliches Nähe-Gefühl für den Historiker. Nicht aber für den Liebenden. Statt einer Welt in hundert Objekten findet Blom mithin hundert Welten in einem Objekt – eben dem Objekt des Begehrens, ganz so als hätte er Georg Simmels Essay über die Koketterie gelesen:

„Da liegt sie, meine wunderschöne Geige. Sie hat ihr Geheimnis nicht preisgegeben, gewährt immer wieder verheißungsvolle Einblicke, weckt Hoffnungen, weigert sich aber, auf meine Fragen eine letzte, klare Antwort zu geben, behält sich jederzeit das Recht vor, nicht das zu sein, wofür ich sie halte. Sie balanciert eine Vielzahl von Geschichten über sich und ihre Vergangenheit, über ihre Ursprünge. Ihr Alter ist ungewiss, der Ort ihrer Herkunft und der Name ihrer Familie ein Geheimnis, das sich nur anhand von kleinen Manierismen und Details zumindest teilweise lüften lässt.“

Titelbild

Philipp Blom: Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute.
Carl Hanser Verlag, München 2018.
320 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260719

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