Von der Pantherzeit zum Vogelweg als Klangpfad

Marica Bodrožićs Gang mit Walter Benjamin in „Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme“

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Preisverleihung zum Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen am 8.11.2021 überraschte die Preisträgerin das Publikum mit dem Hinweis, dass sie aus ihrem unveröffentlichten Werk Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme ein Kapitel vortragen würde. Was nur einigen im Auditorium bewusst war: Dieses Geschenk einer Erst-Lesung hatte sie auch schon bei der virtuellen Feier des Preises am 23.11.2020 gemacht, als sie auf der „Digitalen Bühne“ im Einhard-Gymnasium aus ihrem Werk Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge vorgetragen hatte. Also ein doppeltes Geschenk, gemeinsam im Rahmen der doppelten Feierstunden zum Walter-Hasenclever-Preis 2020/21 Texte zu entdecken.

Beide Werke, Pantherzeit, erschienen am 23.2.2021, und Die Arbeit der Vögel, erschienen am 10.3.2022, beziehen sich als Texte aufeinander und können von den Lesenden der Gegenwart, der Jetztzeit auch nur im Vergleich gelesen werden.

Walter Benjamin ist in beiden Werken im Zentrum. Im Werk Die Arbeit der Vögel, das vor dem Corona-Tagebuch konzipiert war (vom 22.3.2020 bis 25.5.2020), wird seine Flucht über die Pyrenäen im September 1940 geschildert, ein Weg, der durch Lisa Fittkos Buch Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41 (1985) und jetzt durch den Film Der Pfad – Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit nach dem Roman von Rüdiger Bertram (2022) das Interesse eines wachen Erinnerns fand und findet.

Die Autorin selbst geht, im vierten Monat schwanger mit ihrer Tochter Friederike, die im Sommer 2018 geboren wurde („Meine Tochter kam in jenem Jahrhundertsommer 2018 zur Welt, der mir heute wie ein Vorbote dieser seelisch aufgeheizten Innenzeit erscheint.“, Pantherzeit, S. 21), im Februar die F-Route 18 Kilometer bis zur spanischen Grenze nach Portbou, zwei Flug- und zwei Auto-Stunden von Berlin her über Barcelona. Der eigentliche Beginn liegt im 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, den die Autorin zusammen mit Ruth Klügers Rede im Bundestag von 2016 als literarisch-geistig weckendes, aufbrechen lassendes Ereignis schildert.

Dieses Losgehen auf einen Gang wird zur sinnlichen Schilderung, die Motti zu Beginn der Bücher, „Pantherzeit ist Seelenzeit“ (Seite 13) und „Der Vogelweg ist ein Seelenweg“ (Seite 12) liegen wie übereinandergeblendet. Die Gänge als „Unterwegssein“ durch schwierige Zeiten, nur mit Lektüren als Wegzehrung, greifen den Leib der Schreibenden an, in Pantherzeit die schmerzende Hand im Lockdown, in Die Arbeit der Vögel das schmerzende Knie. Die Seelenzustände zusammenzusehen, rechtfertigt die Autorin von Walter Benjamin her: „Seine denkenden Augen sahen alles als Verbindung.“ (Ende des vierten Kapitels Innere und äußere Landschaft)

Die Autorin sucht auf ihrem „Gehen durch das Gebirge“ – wie Paul Celan das Gespräch im Gebirg (Prosatext von 1960) suchend, dessen Werkmotiv der „Herzzeit“, „die Zeit, die nicht vergeht, die sich in uns an uns erinnert, wenn wir sie selbst längst vergessen haben“, auch hier wie in Pantherzeit bestimmend ist – nach den Gerechten unter den Völkern, die den flüchtenden jüdischen Menschen halfen, und findet einen in Aristides de Sousa Mendes (1885–1954): den portugiesischen Generalkonsul von Bordeaux von 1938 bis 1942. Er hat – unter Einsatz seines Lebens – durch Vergabe von 10.000 Visa Verfolgte gerettet, indem er sich den Anordnungen António Salazars widersetzte. Sein Kontakt mit seiner Hausdienerin Fernanda, genannt „die Göre“, offenbart ein genaues Lebens-Porträt des Vaters von 14 Kindern, der auch Walter Benjamin hätte retten können, wenn dieser sich an ihn gewandt hätte (im fünften Kapitel Die Göre und der Konsul).

Gleichzeitig mit der Autorin auf ihrem Benjamin-Weg geht ihr Vater (1947–2013) mit ihr im Geiste, der auf einer „Hungerroute“ als Wanderarbeiter zu Fuß über Ungarn und Österreich nach Hessen in den Main-Taunus-Kreis ging. Neben der Familiengeschichte erscheint aber gleichwertig die Kulturgeschichte der Freiheitskämpferinnen, die der „geistigen Mitgeherinnen“ Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Sabina Spielrein (1885–1942). Die Autorin entdeckt diese Begründerin der Psychoanalyse, die im Kontakt mit Sigmund Freud und C. G. Jung stand. Bodrožić streut Namen, Lebens- und Werkgeschichten aus, sodass wir Lesenden Entdeckungen machen können, wir blicken auf das Ausgestreute wie auf „Stolpersteine“, die die Autorin in Berlin entdeckte.

Die Autorin verwendet auch die Metapher von „Wortarchiven“, das sind „Archive, die in den Worten mitgehen“ (im zehnten Kapitel Das Universum des eigenen Vokabulars). Dass sich immer wieder Welten aus den Zitaten auftuen, in denen man als Lesende versinken kann, wirkt im Denkstil der Autorin nicht belastend. Die Eleganz und Leichtigkeit, mit der sie sich in der Kulturgeschichte bewegt, bei der kleinsten Andeutung eine Deutungsexplosion entfaltend, findet eine Metapher im Titel ihres Werkes, es ist wie das Fliegen der Vögel:

Die Arbeit der Vögel vollzieht sich immer auf dieselbe Weise, ganz gleich, was in der Welt geschieht. Die Arbeit der Vögel ist leise, so leise, wie das Leben der Menschen kurz ist. [im neunundzwanzigsten Kapitel Die Menschenlandkarte]

Das Buch Die Arbeit der Vögel lässt sich aktuell noch vertieft lesen, im Hinblick auf Walter Benjamins Auseinandersetzung mit Russland. Der Untertitel Seelenstenogramme ist hier weiterführend und man entdeckt im Netz gleich Benjamins Rezension zu Ssofja Fedortschenko, Der Russe redet. Aufzeichnungen nach dem Stenogramm. Deutsch von Alexander Eliasberg. München: Drei Masken Verlag [1923]. 140 S:

Das Buch enthält Sätze, Perioden, Bruchstücke, wie sie in den Jahren 1915 und 1916 von der Verfasserin stenographisch nach den Äußerungen von russischen Mannschaften festgehalten wurden. Sie war bei ihnen an der Front. Unter der Arbeit, ohne daß es auffiel, hat sie jedes Wort aufgezeichnet, das ihr bemerkenswert vorkam, keines mehr. Alle Angaben über die Person des Sprechenden und den Zusammenhang der vorgelegten Stelle fehlen. So tritt der Leser in dies Buch wie in die Stube: er weiß nicht, wovon die Rede ist. Er versteht schlechter, er hört schärfer, als wer im Bild ist. Vernimmt die Stimmen aus den unabsehbaren Gesprächen, deren epische Breite in ihren unscheinbarsten Fragmenten noch liegt. […] (12.03.2022)

Aber es bleiben dann doch eher die Zitate der Nobelpreisträgerin von 2015, Swetlana Alexijewitsch, 1948 im Westen der Sowjetrepublik Ukraine geboren, Mutter Ukrainerin, Vater Belarusse, im Gedächtnis: „Jetzt machen wir allen damit Angst, dass die Russen gute Soldaten und zu allem bereit sind. Wir kennen nur einen Weg, wie man erzwingen kann, uns zu respektieren: Man muss uns fürchten. Putin ist gekommen, und die Welt hat wieder Angst vor uns.“ – „Die Luft unseres Lebens war vergiftet. Wir wurden vom Bösen ständig belauert. Daher ist es sehr schwierig, uns zu ändern.“ (Die Arbeit der Vögel, S.328f)

Welcher Gattung lassen sich diese 47 Kapitel zuordnen? So wie die Nobelpreisträgerin in der Verbindung von Reportage und Kommentar einen vielstimmigen Chor des Gegenwartsbewusstseins in Collagenform konzipiert und performativ dirigiert, wird hier Besonderes, Neues geschaffen, vor allem hinsichtlich der Lesefrüchte gleichsam in einem Bibliothekspark, in dem sich die Lesende wie aus der Vogelschau leicht zu bewegen versteht. Das Essayistische ist der genuine Prosa-Raum der Autorin, die phänomenologische Beschreibung der leiblichen Befindlichkeit motiviert die Lektüre-Spuren und Entdeckung paralleler Biographien Intellektueller, die zu Zeitgenossen werden.

Neu gegenüber Pantherzeit ist hier der Mut zu Gebet-Kapiteln wie Schenke uns gute Augen, das sich anschließt an das Kapitel über die jüdische Philosophin und Essayistin Sarah Kofman (1934–1994), als Parallelgestalt zu Derrida wie zu Benjamin. Der Autorin danke ich herzlich für den Hinweis, dass es sich um ein Kaddisch für Sarah Kofman handele. Gesteigert sind die autobiographischen Beschreibungen der gewaltbestimmten Erziehung durch den Vater der Autorin, aber auch die nicht widersprechende Mutter, z. B. das brutale „Reisspiel“ als endloses Knien auf Reis oder das quälende Hochhalten von Brettern, sogar mit Beschwerungen. Gegenbilder zu diesen schrecklichen Erfahrungen sind die Vogelstimmen als Kontrastfolie, die mit „inneren Träumen“ korrespondieren. Sie „schöpfen aus der Archiv-Fülle des Wissens“, als ‚ewiger Archiv-Klangraum‘ aller „Lebewesen“, „Menschheitsgesang“ (aus dem zweiunddreißigsten Kapitel Die Vögel rufen sich ihre Lieder zu).

Somit entwickelt die Autorin die Formel ihres Lieblingsschriftstellers Danilo Kiš (1935–1989) weiter, der davon spricht, dass jeder Mensch „ein Stern für sich“ sei: „Jede Stimme ist ein Stern für sich, ein Klangpfad zur Welt, in der wir alle gemeinsam in dieser uns zugeteilten Zeit leben“. Das Lesen dieses wichtigen Werkes über die Erinnerung an „jenen menschenfeindlichen September“ 1940 wird allerdings seit diesem menschenfeindlichen Frühjahr 2022 von ganz schrecklichen Klängen aus dem Land Paul Celans und Rose Ausländers begleitet und wir müssen ganz anders als vermutet „miteinander leben lernen“ nach den letzten drei Worten.

Titelbild

Marica Bodrožić: Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022.
344 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875941

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