Lesen in der Corona-Krise – Teil 19

Corona-Zeit – eine neue Sternzeit? Marica Bodrožićs „Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge“ entfaltet aus aktuellem Anlass ein Leitmotiv ihres Gesamtwerks

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn wir nicht solche Bücher haben, wissen wir nachher nicht mehr, wie es war. Unsere Lebens- und Kulturzäsur „und dann kam Corona – und alles war vorbei“ wird in diesem Buch zur Lese- und Denkformel „und alles fing an“, auch wenn das titelgebende Gedicht Rilkes Der Panther (1902) zunächst das genaue Gegenteil, nämlich das völlige Verlöschen aller Weltbezüge, suggerieren mag.

Das neue Buch von Marica Bodrožić, Pantherzeit, präsentiert sich als ein Tagebuch über die Corona-Zeit. Die sich autobiographisch offenbarende Ich-Erzählerin ist Schriftstellerin und Mutter eines fast zweijährigen Mädchens in Berlin-Kreuzberg. Der Aktionsradius scheint zunächst durch die Bedürfnisse des Kindes bestimmt, dann aber kommen die Einschränkungen durch die Pandemie. In unmittelbarer Nähe des gemeinschaftlichen Wohnprojekts „Metropolenhaus“ befinden sich u. a. das Jüdische Museum mit seiner Arche Noah für Kinder, eine schöne Promenade, zahlreiche Lichthöfe und das Café „Nullpunkt“, das so heißt, weil Schinkel dort die erste Sternwarte Berlins errichtete. Auf den exquisit begrünten Balkonen des Wohnprojektes aber liest man – angeregt durch die Autorin – Rilkes Panther-Gedicht. Ist die Corona-Zeit der Nullpunkt eines neuen Koordinatensystems, in dem wir von dieser Erfahrung ausgehend unsere Welt neu vermessen, mit einer gänzlich anderen Ausrichtung? Oder gewinnen wir wie Rilke eine neue Erdung des Geistigen? 

In Pantherzeit entwickelt die Autorin in genau 100 Abschnitten aus ihren alltäglichen Erfahrungen mit genauer phänomenologischer Beschreibung jeweils Reflexionen auf der Ebene eines philosophischen Essay. Dabei geben die beiden Motti des Buches das Leitmotiv in der Frage nach dem Umgang mit dem Neuen: einerseits die Frage nach dem Kreieren neuer Muster für das Leben auf dem verletzlichen Raumschiff Erde durch den Architekturphilosophen Richard Buckminster Fuller, andererseits Rilkes Frage nach einem neuen Sehen im „Neuen Gedicht“ Der Panther, die Gewinnung der Innenwelt trotz bedrängender Außenwelt.

Die von der Ich-Erzählerin überaus zahlreich ins Spiel gebrachten Lektüren, in denen man sich geradezu verirren könnte, zielen alle auf eine Reflexion der Zeit. Dabei verbindet sie ihre eigene Lebenszeit (z.B. „Inselzeiten“ auf La Gomera) mit der Entwicklung ihrer jetzigen Beziehung und der Kindheit ihrer Tochter. Von Ossip Mandelstam gewinnt sie die These vom Ende einer „zerbrechlichen Zeitrechnung“. Unter diesem Fokus werden einerseits Zeiten der Erinnerung an Lebens- und Lektüreerfahrungen synchron in die Corona-Zeit hineingeholt, ohne aber Nicht-Vergleichbares vergleichen zu wollen. Andererseits wird auf diese Weise das Zyklische menschlicher Erfahrungen veranschaulicht, sowohl individual- als auch menschheitsgeschichtlich werden „Verwandlungen“ aufgespürt, um die „Arbeit an der Biografie“ mit bewusster Ausweitung auf die „Zeitgenossenschaft“ voranzutreiben. Wird der Weg der Menschheit vom linear einseitigen Fortschrittswahn um jeden Preis auf eine neue Orientierung im geistig-geistlichen Raumkonzept des Labyrinths auf die Suche nach der Mitte gelenkt, um den Abgrund als logische Konsequenz der Ab- und Irrwege zu vermeiden? 

Gleich zu Beginn schenkt Bodrožić ihre Aufmerksamkeit dem mythischen Raum-Konzept des Labyrinths, wie es im antiken Kreta und im rituellen Tanz des Dionysos-Kultes erscheint. Diese Figur findet sich dann in der christlichen Kirchenkunst wieder – etwa im Labyrinth der Kathedrale von Chartres. Das wahre Ziel, Jerusalem, ist nicht am Ende eines Weges in den Osten, sondern durch das Gehen im Kreis zu erreichen, in der bewussten Einschränkung auf sich selbst, das ‚innere Jerusalem‘. Die ‚innere Burg‘ ist ein Bild, das die Autorin bei Teresa von Avila entdeckt. So betont Bodrožić im Stil einer Meditation und offenbar geprägt durch den Katholizismus ihrer kroatischen Heimat das Hervorgehen aus der Krise durch Erneuerung, die indes eine Umkehr (Metanoia) zur Voraussetzung hat. Das Leitmotiv des Neuen, des Anfangs wird konkret präsent in den staunenden Beobachtungen der Kindesentwicklung der Tochter, aber es bleiben auch selbstkritische Fragen und der Verdacht der Täuschung. 

Es stellt sich die angesichts der globalen Bedrohung bange Frage, ob wir Menschen wirklich zu Veränderung, Wandlung, Umkehr bisheriger unbedachter, ja unvernünftiger Verhaltensweisen fähig sind. Der Ton dieser Befragung wird durchaus konkret aus Tücken und Lücken in einfachen Alltagssituationen gewonnen, die in unbekannten Einzelheiten ins Bewusstsein rücken, das Kleine wird plötzlich – unter Corona-Auflagen – unglaublich anders und sehr groß: Einkaufen, Fahrradfahren, Balkongestaltung, Nähe zu Menschen wie Nachbarn.

Die erzählte Zeit umfasst vor allem den ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie, die den globalen Zusammenhang in unserer Welt hautnah bewusst machte, vom Inkrafttreten der Beschränkungen am 22. März bis zum 29. Mai, als Freizeitparks wieder öffneten. Schon jetzt müssen diese Daten im Corona-Ticker-Archiv nachgeschaut werden. Im Buch werden sie gerahmt durch äußere und innere Erschütterungen, das Erdbeben in der kroatischen Hauptstadt Zagreb am 22. März 2020 und der rassistische Mord an George Floyd in Minneapolis am 25. Mai 2020. Zu diesem weltpolitisch weiten Blick gehört auch der engere auf Kulturereignisse, wie die Eröffnung der Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum am 27. März einerseits, aus deren Katalog Bodrožić unveröffentlichte Quellen zum ungewollten ‚schicksalhaften Unterwegssein‘ zitiert, und andererseits der 50. Todestag Paul Celans (30. April) mit seinem Gedicht Corona (1952) über seine „Herzzeit“ mit Ingeborg Bachmann wie den im Frühjahr lange vorbereiteten 100. Geburtstag Hans Blumenbergs (13. Juli), des Philosophen der „Neuzeit“. Bodrožić zitiert Blumenbergs Metapher der Geschichte als einer Tiefebene, welche die eigene Lebenszeit als Weltzeit erschließt. Die Formel des Zeitbewusstseins seit der Vertreibung aus dem Paradies als Beginn von Geschichte lautet nach Blumenberg „Nicht mehr alles und nicht mehr für immer“, woraus eine „Ausschöpfung der Welt“ und der Impuls zum Neuen, zum Beginn und Anfang schmerzhaft drängend und zwingend hervorgeht.

Die Schreibweise ist bestimmt durch die Zeitstruktur einer Chronik, aber auch die Freiheit des Essays mit Höhepunkten im Aphorismus und in kritischen Kommentaren, welche mit „Zettelkasten“-Weisheiten und Zitat-Funden ausgefüllt werden, die zeitgeschichtliche Vertiefungen wie Tiefenbohrungen und Auslotungen bieten. Darin liegt eine Nähe zu Hans Blumenberg. Bodrožić darf man als einer poeta docta ihre Belesenheit nicht vorwerfen. Vielfältig sind die Bezugnahmen auf Walter Benjamins Denkbilder, das Passagenwerk und die Berliner Chronik. Der Reflexion über die Bedeutung des Neuen, wie es im Kontakt zur achtzehn Monate alten Tochter erscheint, kommt besondere Bedeutung zu: „Walter Benjamin hat einmal geschrieben, der Erwachsene könnte gehen – ‚aber eins kann er nicht mehr – gehn [sic!] lernen‘.“ Die Erfahrung der Corona-Zeit als Pantherzeit könnte allerdings ein solches Novum sein: Wir lernen wieder atmen, ausgehen, vorwärts- wie rückwärtsgehen, leben, trotz Maske und Abstand. Dabei ist das Atmenkönnen durchaus real. An George Floyds letzten Worten „I can‘t breathe“ wird ein grundsätzliches Nicht-mehr-Atmen-Können in einer menschenverachtenden Welt global vernehmbar.

Die vorliegende Reflexion über die Pantherzeit umfasst einen großen Bogen wie Hans Blumenbergs Lebenszeit und Weltzeit (1986) und Jan Assmanns Zeitkonzepte unter der ägyptischen Dichotomie von „Steinzeit“ (linear, abgeschlossen, irreversibel, das Dauerhafte, das Sein, das Alte, Erinnerung) und „Sternzeit“ (zyklisch, unabgeschlossen, reversibel, das Wandelbare, das Werden, das immer wieder Neue, Erneuerung). Von Bodrožićs benannten Quellen her wird eher die jüdisch-christliche Pessach- und Osterzeit, als Frühlings-Pflanzzeit, mit Meditations-Impulsen zu einer ständigen Auferstehung gegen das Dunkel einer Endzeit, eine Phönixzeit.

Nach der Lektüre stellt sich die Frage: Konnten wir in der Corona-Zeit nicht doch noch etwas lernen, gewannen wir eine Lernzeit? Haben wir wenigstens Zeit gewonnen zu lesen, eine Auszeit als Lesezeit? Können wir jetzt mit Einschränkungen umgehen? Vor allem in der Mobilität, da uns die Klimakrisen-Zeit mit ihren jetzt absehbaren Katastrophen doch noch mehr abverlangen wird als die Corona-Zeit? Die Autorin fragt gleich zu Beginn nach den auf uns zukommenden „Klimakatastrophen“, später nach den „katastrophal anmutenden Klimaveränderungen“, die bisher nicht als Herausforderung eines „neuen Denkens“, d. h. alle betreffend, ernstgenommen wurden. Sie hofft, dass durch die Corona-Zeit ein anthropologisch gemeinsamer Kern gewonnen ist und Orte des Leidens ins kollektive Bewusstsein rücken, um „rücksichtslose Abgrenzung zu überwinden“. Wodurch geschieht dies? Nicht durch Appelle von oben oder von außen, sondern durch Orte der Zeitgenossenschaft: „Sie lassen Zeit, und sie sind selbst Zeit. Neue Gedanken werden möglich“.

Damit ist Literatur wie Pantherzeit in einer solchen Form der Gegenwartsbeschreibung eine Lebensnotwendigkeit zugesprochen, aus dem Essay heraus in die verbindliche Form des Aphorismus gegossen in variationsreichen Formulierungen wie Ist-Aussagen: „Pantherzeit ist Seelenzeit“, einerseits tageszeitlich die allabendliche Rezitation auf dem Balkon, andererseits jahreszeitlich der erste Lockdown, Paradoxa: „das Unnötige, es fällt mir auf, weil es wegfällt“, Urteilen „Wir haben uns selbst in eine Gefangenschaft gebracht, aus der wir uns auch selbst wieder herausholen müssen“ und radikale Umkehrungen: „Eltern wiederum hätten in dieser eigenartigen Situation die Gelegenheit gehabt, etwas von ihren Kindern zu lernen. Auch Lehrerinnen hätte es so ergehen können – die doch am Ende nur glaubwürdig sein können, wenn sie selbst Lernende bleiben“, sowie grundsätzliche Philosopheme „Manchmal ist mit weniger Zeit mehr Zeit geschenkt, weil aus dem Druck der Zeit die Tiefe der Zeit sprechen kann“, „Ethik und Ästhetik sind eine Sache“.

Das Buch Pantherzeit ist somit, bei allen genannten Antworten und Thesen, doch der offen bleibenden Frage nach dem „Kompass“ gewidmet: Wie kann aus der Reflexion der Innenwelt eine neue Orientierung gewonnen werden, mit dem Bewusstwerden der „unendlich langen Zeit der Sterne“ (Olivier Messiaen), eine in der Kunst erkennbare Kraft für eine Erneuerung, mit der größeren Spanne der Sternzeit, d.h. mit einem langen und bewussteren Atem?

(Michael Szczekalla danke ich für Lese- und Gesprächszeit.)

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

Marica Bodrožić: Pantherzeit. vom Innenmaß der Dinge.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2021.
262 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783701312870

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