Die Neuentdeckung der greifbaren Nähe

Thomas Böhmes neuer Gedichtband „Strandpatenschaft“ ist eine Suche nach seelischer Balance und neuen Wegen

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die Begeisterung für Kastanien, die als Handschmeichler in Hosentaschen ruhen und später „mumifiziert“ wieder auftauchen? In Thomas Böhmes neuem Gedichtband Strandpatenschaft werden solche Kindheitserinnerungen erweckt. Er führt den Leser an Orte mit Birken und Enten. Amseln frohlocken. Mal steht ein voller Mond am Himmel, mal die warme Sommersonne, grelles Licht und Finsternis wechseln sich ab. Doch ein locus amoenus wird im Gedichtband nicht beschrieben. Denn „kein einziger Lichtstrahl/ dringt unter die Haut.“ Dorthin, wo im Ich ein Kobold sitzt, der wider die Vernunft nach Bier und Zigaretten verlangt. Im „Frühjahrsblues“ wird die Flüchtigkeit der Liebe beklagt. Einsamkeit ist ein wiederkehrendes Thema im Gedichtband. Zwar versucht das Ich sie wegzulachen, Scherze und lustige Wortspiele sind in viele Gedichte eingestreut. Sie können nicht überdecken, dass hier Konstanten im Leben fehlen. Die seelische Balance ging in einem „Herbst/ der gedämpften Erwartung“ verloren. Ängste wachsen und greifen in den Zeilen um sich, nehmen Sicherheit und schränken den Horizont des Verunsicherten ein. Man werde ohnehin ins Nichts zurückfallen.

Thomas Böhme bleibt in seinen Betrachtungen stets im vorstellbaren Raum, in der greifbaren Nähe. Ein Gedicht trägt den Titel Das Vorstellbare. Darin grübelt das Ich über den „endlos sich ausdehnenden Raum“ – später gar über die Stringtheorie – und kommt zum Schluss, dass es ausreicht, Laubrascheln zu hören, den Abendhimmel zu genießen und sich an seinem Leben zu erfreuen. Das Erkennen der Schönheit des Alltäglichen ist bei Böhme wichtiger als unerreichbare Träume. Zugleich ist die Einschränkung aber ein Resultat wachsender Ängste, die sich, wenn sie sich einmal in den Kopf eingenistet haben, ausdehnen, Entscheidungen beeinflussen und neue Wege vernebeln und verhindern.

In Strandpatenschaft ist von Reisen in ferne Länder die Sprache, welche man sich vorgenommen hatte und nie antrat: „Der Koffer verstaubt/ hinterm Schrank bei den Weberknechten.“ Nur noch auf Tagesausflüge in die nähere Umgebung von Leipzig, zur Burg Saaleck und nach Brandenburg („Fontane Gelände“) wagt sich das Ich. Anders als im von Hermann Allmers gedichteten Studentenlied aus dem 19. Jahrhundert sind aber keine trunkenen, schwärmenden Studenten an Saaleck und Rudelsburg anzutreffen. Während des Burgausflugs im Gedicht An der Saale findet der Wanderer nur noch Graffiti der „Corpsstudenten“ an den Wänden der Türme – keine Ritter oder andere Überraschungen. Er muss sich mit einem Blick auf den Kartenkiosk und mit einem Panoramablick nach dem Erklimmen der Ruine begnügen. „Ein wenig verdroß es ihn doch“; er verbleibt enttäuscht und belohnt sich hernach in der örtlichen Schenke. Allein.

Einsamkeit schlägt häufig bei älteren Menschen zu grantigem Verhalten und Jähzorn um. Die Angst davor, dauerhaft allein zu sein, kann ein Grund für Aggressivität sein. Hinzu kommen Schmerzen, Krankheit und die damit verbundene Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit, die in den Gedichten von Thomas Böhme als Zumutung empfunden wird. Die Wut steigert sich. Bei Böhme entleert sich angesammelter Zorn in „Gerüchten“ und richtet sich beispielsweise gegen den Staat, die scheinbare „Undurchlässigkeit seiner Instanzen“: „Reden & Schweigen unterliegen der Meldepflicht“, schimpft das Ich, fühlt sich eingeschränkt und ungerecht behandelt. Dann ist von einem greisen, gelähmten Pianisten die Rede, dessen Pflegerin seine Vergangenheit nicht kennt und ihn nicht sieht. Die „Alten“ sind bei Böhme einsam, hoffnungslos und unheimlich. Sie treten auf als „der greise Großinquisitor“ oder zitternd im Rollstuhl.

Durchgehende Kleinschreibung und „schwankende Zeichensetzung“ waren seit den 1950ern in der Lyrik „über Jahrzehnte Beleg unbedingt moderner Gesinnung“, schrieb Robert Gernhardt einst. Wie erfrischend es daher ist, dass in den Gedichten von Thomas Böhme die Regeln der deutschen Rechtschreibung gelten. Kommata sind mit Bedacht gesetzt. Es gibt sie wieder, die satzbeendenden Punkte. Einfacher zu lösen werden die Rätsel dadurch kaum, welche der Autor dem Leser stellt. Sätze entstehen, die sich allmählich der Versform entziehen. Schließlich lösen sich sogar die Strophen auf, von der Gedichtstruktur bleibt nichts mehr übrig. In zwölf Vigilien – Nachtwachen eines heißen Sommers – ergießen sich fiebrige Gedankenströme in Fließtexte. Von der Versform in klassischen Strophen gelangt der zwischen Traum und Wahrnehmung taumelnde, somnambul Wachende gar bis zum im Blocksatz gesetzten Bericht. Dabei wechselt er nicht nur die Form, sondern „Gestalt, Alter, Geschlecht, das Jahrhundert, oder man findet sich in einer fernen Galaxis wieder“, kündigt ein Vorspiel überschriebener Text den sodann folgenden Gedankenstrom an. Es entsteht ein „Spiel mit den überreizten Sinnen“, das als symptomatisch für die Gedichte von Thomas Böhme gesehen werden kann. Dicht gepackt sind die Informationen in seinen Gedichten. Es gibt viele mythologische Bezüge zu Götterwelt und Geisterwelt, Bezüge zu einer „Vision Dostojewskis“, Leonard Cohen und Jimi Hendrix. „Die Krähen haben eiserne Schnäbel und lesen Ernst Jünger.“ Was bezwecken Bilder wie dieses?

Die Gedichte sind aufgeladen mit Bedeutungen. Es stehen sich schwere Rätsel und leichte Emotionen gegenüber. Sind die heißen Sommernächte in den Vigilien der Ort für Grenzgänger in Zwischenwelten, so sind die feuchtheißen Tage an anderer Stelle der romantische Ort für blühende „Inseln für Bienen & Hummeln“. Allein das inflationär gebrauchte Et-Zeichen „&“ sticht dann noch aus der Gewöhnlichkeit von Inhalt und Schreibweise heraus. Aus diesem kleinen Bruch mit der Empfehlung des Dudens, das Et-Zeichen nur in Firmenschreibweisen und Ausnahmefällen zu nutzen, folgt aber keine tiefere Bedeutung. Im Gedicht Die Mitte erscheinen beispielsweise gleich drei Et-Zeichen: „Hase & Elster“, „Erde & Lehm“ und „Wildgras & Buschwerk“. Mag Böhme mit dem ungewöhnlichen Einsatz auch Kürze und Prägnanz erzeugen wollen, es beeinträchtigt lediglich die Lesbarkeit seiner Gedichte.

Thomas Böhme legt mit Strandpatenschaft einen Gedichtband vor, der Schatten und Licht vereint. Schwächen und Überladung verhindern nicht, dass Böhmes Gedichte Wege eröffnen. Es lassen sich vergessene, kleine alltägliche Dinge neu entdecken. Ob es die Entdeckung von Kastanien in der Hosentasche oder das Überdenken der eigenen Reiseziele ist, das Nachgehen seiner Wege ermöglicht neue Sichtweisen. Sie regen zum Nachdenken und zum Rätseln an. Das bleibt eine Herausforderung, denn, so heißt es in der siebten Vigilie: „er ist auch ein Kind des 21. Jahrhunderts, und man darf nicht zu viel erwarten. Das Schnarren seines Smartphones holt ihn in die Realität zurück.“

Titelbild

Thomas Böhme: Strandpatenschaft. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2021.
176 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305116

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