Nietzsche als Weggefährte

In seinem Roman „Auf das, was noch war“ begibt sich Otto A. Böhmer in Grenzregionen der Philosophie

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Autoren veröffentlichen, am Rand des Literaturbetriebs und in dessen Windschatten segelnd, beharrlich ein Buch nach dem anderen. Man begegnet ihnen hin und wieder auf den Rezensionsseiten der Feuilletons, überfliegt mehr oder minder interessiert die Kritiken und wird bald von anderen, vielleicht wichtigeren Dingen abgelenkt. Wer weiß schon, ob diese anderen Dinge wirklich so wichtig sind? Sternstunden, denen Otto A. Böhmer mehrere seiner Bücher gewidmet hat, sind im Leben der Normalbürger und Alltagsmenschen eher selten. Die Literatur hingegen kann aus ihnen Gegenmodelle zur „planen Kontinuität“ schaffen, wie Karl Heinz Bohrer einmal gesagt hat.

Böhmer schrieb mehrere Bücher über „Sternstunden“ sowohl der Philosophie als auch der Literatur. Von den Philosophen haben es ihm vor allem Hegel, Schopenhauer und Nietzsche angetan. Letzteren, über den er 2004 bereits eine kleine Biographie publiziert hat, lässt er auch in seinem neuen, als „Roman“ deklarierten Buch auftreten. Ein Filmemacher folgt dem Philosophen im Jahr 1875 auf einem Gang durch den Schwarzwald zum ehemaligen Kurbad Steinabad, dann mit seinem Team an Orte, an denen sich auch der Philosoph aufgehalten hat: Turin, Basel, Naumburg, die Geburtsstadt.

Doch ausgerechnet der Ort der Sternstunde des Philosophen, Sils-Maria im oberen Engadin, dessen Bedeutung Böhmer bereits in Sternstunden der Philosophie (1983) gewürdigt hatte, wird vom Filmteam nicht besucht, obwohl er auf dem Reiseplan stand. Der Regisseur hat „auf einmal keine Lust mehr, nach Sils-Maria zu fahren“. Produzent Wiedemann hat offenbar recht, wenn er an dem ganzen Projekt, bei dem ein bis dato unbekannter Schauspieler den Philosophen verkörpert, zweifelt. Immerhin hat der Schauspieler eine kräftige Stimme und sieht in einem altmodischen Aufzug seiner Rollenfigur ziemlich ähnlich. Der Film wird tatsächlich geschnitten, was die Cutterin Jahre ihres Lebens kostet, und hat eine Länge von gut zwei Stunden. Bei der Vorführung wird der Produzent fast wahnsinnig, sorgt aber dann dafür, dass der Regisseur abgeführt und in eine Heilanstalt eingewiesen wird.

Mit dieser Anstalt hat der Ich-Erzähler, der sein Lesepublikum manchmal direkt in Sie-Form anspricht, dieses längst vertraut gemacht. Es ist die KBA (Künstlerbewahranstalt) Friedrichskoog Spitze, in der unter anderem der Schriftsteller Rafael Klugmann behandelt wird, der nicht mehr und nicht weniger als ein gutes halbes Jahr Ruhm erlebte und dann von der Öffentlichkeit vergessen wurde. Sein Roman heißt Nachts ist es kälter als draußen und ist, wen wundert es, ein Nietzsche-Roman. Der ominöse Ich-Erzähler, dessen Identität nicht zweifelsfrei aufgedeckt wird – ist er wirklich der Regisseur, ist er etwa der Schriftsteller Klugmann oder handelt es sich um einen persönlichen Freund Nietzsches? – verbindet am Ende seine eigene (bevorstehende) Beerdigung mithilfe einer Computer-App mit der Beerdigung „des Kollegen Nietzsche“. In der Grabrede ist dann von zwei Verstorbenen, Nietzsche und seinem Freund, die Rede. Zeitliche Abstände spielen jedenfalls keine Rolle, das späte 19. Jahrhundert geht umstandslos in die Jetztzeit über.

Im dritten Teil des Romans befindet sich der Ich-Erzähler, der bereits körperlich arg geschwächt ist und seinem Ende entgegensieht, in einer weiteren Heilanstalt: in Hindeloopen an der niederländischen Nordseeküste. Hier teilt er sich das Zimmer mit einem in der Ecke sitzenden koboldhaften Nietzsche, der zu allem, was er tut und sagt, seine ironischen Kommentare abgibt. U.a. hält er ihm vor, er sei „ein Geschädigter, ein Kleingeist, Erfinder der Resterampe, vor allem ein unangenehmer Plagiator“. Das letzte Wort hat allerdings nicht Nietzsche, sondern der Romantiker Joseph von Eichendorff: „[D]er Sommer war vorbei, die Sonne lange untergegangen, ihn schauerte in der herbstlichen Kühle […]“.

Handelt es sich bei dem Werk überhaupt um einen Roman?, so muss gefragt werden. Die Konstruktion des vielschichtigen Textes kann am besten mit dem englischen Wort sophisticated charakterisiert werden: raffiniert, subtil, vertrackt. Wer eine chronologisch durcherzählte Geschichte mit überschaubarem Plot erwartet, kann das Buch getrost ungelesen weglegen oder sich an der schönen Aufmachung erfreuen: ein fast surrealistisches, symbolträchtiges Titelbild, Leinenrücken, Lesebändchen. Schon der mehrdeutige Titel lässt die Erwartung auf ein traditionelles Erzählwerk gar nicht erst aufkommen. Auf das, was da noch war. Ist es ein Trinkspruch? Welches Wort soll betont werden, noch oder war? Im ersten Fall ginge es um das, was außerdem, vielleicht außer dem gewöhnlichen, durchschnittlichen Leben noch da war, im zweiten um den letzten Rest, wovon auch immer, vielleicht vom Leben selbst, worauf der Schluss des Romans hindeutet.

Statt einen Roman möchte man das Buch eher eine Textcollage nennen, mit langen, zitatgespickten essayistischen Passagen, die erst als Vorträge von Figuren eingebettet, dann unvermittelt eingefügt sind und sich, in kursiver Schrift gesetzt, über viele Seiten erstrecken. Gegen Ende werden die Erzählfragmente immer kürzer, die Essays immer länger. Es geht vor allem um Erinnerung und Vergessen und die mögliche oder unmögliche Einheit des Ichs. Als Zitatnachweise sind sieben Titel ans Ende des Buchs gesetzt, es drängt sich aber der Verdacht auf, dass aus viel mehr Werken, vor allem aus denjenigen Nietzsches zitiert wird.

Nicht zuletzt könnte es sein, dass der Autor wieder aus eigenen Vorgängerwerken zitiert, wie er es schon in früheren Büchern gemacht hat, was an dieser Stelle nicht überprüft werden soll. In einer F.A.Z.-Rezension zum Roman Nächster Halt Himmelreich (2013) monierte Martin Halter, es handle sich um ein „ärgerliches Autoplagiat“. Dennoch könne man dem „weisen Konfusius nicht wirklich gram sein“, beweise er doch die Fähigkeit, „witzig, sprachgewaltig und unangestrengt philosophisch zu schreiben“. Dies kann man dem Autor auch für sein neuestes Werk attestieren. Dabei geht es nicht nur um Nietzsches Philosophie und deren Nachwirkung – ein längerer Essay ist der Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche, und ihrer Bedeutung für die Rezeption der Werke ihres Bruders gewidmet. Vielmehr geht es auch um Kierkegaard, Hölderlin, autobiographisches Erzählen in der neueren Literatur (Marcel Proust, Nabokov, John Updike, Martin Walser) und nicht zuletzt um Eichendorff, über den Böhmer auch bereits publiziert hat.

Vergnüglich wird die Lektüre durch die (Selbst)Ironie des Autors. So bezichtigt sich der Ich-Erzähler, „[d]ie schlechteste Promotion aller Zeiten, ungelogen“ abgeliefert zu haben. Danach sei man wahnsinnig froh gewesen, ihn loszuwerden. Thema war, „wenn meine Erinnerung da noch stimmte“, Johann Gottlieb Fichte, über den zufällig auch der Autor promovierte. An einigen Stellen erlaubt er sich zeitbezogene spöttische Bemerkungen über eine nicht näher spezifizierte, aber leicht zu identifizierende Pandemie und deren Bekämpfung sowie über die in Schleswig-Holstein überall „den Horizont verstellenden“ Windräder: „Freie Sicht für freie Bürger.“

Böhmer hegt offenbar eine besondere erzählerische Vorliebe für psychiatrische Kliniken, die schon in seinen vorigen Romanen zentrale Orte des Geschehens waren. Sicher nicht zufällig gelten seine Aufmerksamkeit und Sympathie immer wieder solchen Geistesgrößen, die in ihrem letzten Lebensabschnitt geistig umnachtet waren, wie im vorliegenden Buch Nietzsche und Hölderlin, die aber in diesem Zustand womöglich wacher waren als viele ihrer Zeitgenossen. Nietzsche wird dem Ich-Erzähler im vorliegenden Buch zur Instanz ironischer Selbstreflexion. Als er seinen Wunsch äußert, noch etwas mehr Zeit im Leben zu haben, tröstet ihn Nietzsche:

„Nicht weinen“, sagte Nietzsche. „Für Sie lohnt sich das nicht, glauben Sie mir. Ich möchte stattdessen vor allen nicht anwesenden Zeugen bekanntgeben, dass ich damit einverstanden bin, in diesem Büchlein vertreten zu sein. Ich hätte mir allerdings eine deutlich prominentere Platzierung gewünscht. Und die Zitate, die mir zugeschrieben werden, kommen mir eher unbekannt vor. Um nicht zu sagen: komisch.“

Titelbild

Otto A. Böhmer: Auf das, was da noch war. Roman.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021.
285 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783520757012

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