Die Dramen hinter den Dramen

Nach den autobiografischen Schriften folgen in Band 2 der Hermann-Borchardt-Werkausgabe im Wallstein Verlag die Theaterstücke

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Verdienst, das wurde bei Erscheinen des ersten Bandes der Werke Hermann Borchardts im Wallstein Verlag an dieser Stelle hervorgehoben, liegt schon in der Intention, einen Autor zu würdigen, der zu Lebzeiten damit haderte, immer knapp unter der Wahrnehmungsgrenze zu bleiben, alle berühmten Protagonist*innen des Literaturbetriebs zwar zu kennen, sogar mit ihnen oder für sie zu arbeiten, selbst aber im Dunkeln zu bleiben. Üblicherweise sind Werkausgaben den ganz großen, bekannten Autoren (und noch viel weniger Autorinnen) vorbehalten, Borchardt wird mit dieser Werkausgabe aber erst so richtig auf die literarische Landkarte gehievt. Im ersten Band editieren die Herausgeber Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier umsichtig die autobiografischen Schriften und lieferten damit einen wertvollen Beitrag nicht nur, aber vor allem für die Exilforschung. Nun sind autobiografische Texte – zumal solche, die über historisch so relevante Erfahrungen wie Exil, Verfolgung und Internierung berichten –auch dann von Bedeutung, wenn ihre ästhetische und sprachliche Originalität sich in Grenzen hält. Bei rein literarischen sieht das anders aus, daher entscheidet sich jetzt, mit Band 2 und den Dramen, wohin die Reise geht und wie diese auf fünf Bände angelegte Werkausgabe einzuschätzen ist. Siebe Stücke, zwei Stückfragmente und fünf dramatische Szenen umfasst der Band. Borchardt veröffentlichte 1928/29 mehrere Stücke bei S. Fischer, auch im Exil entstanden einige Dramen, die aber unveröffentlicht blieben, außerdem arbeitete er auch anderen Autoren zu, seinem Freund Bert Brecht etwa, oder Ernst Toller, was, wie die Forschung rund um Borchardt und Toller mittlerweile herausgearbeitet hat, in sich selbst ein kleines Drama birgt.

Die Stücke selbst sind von recht unterschiedlicher Qualität. Auch wenn Borchardt sehr viel Pech hatte und auch ungünstige Umstände seinen Erfolg ein Stück weit verhindert haben mögen, erstaunt es doch, wie wenig Resonanz seine Stücke damals hatten. Kollegen, Bekannte und Freunde wie Brecht und George Grosz schätzten seine Werke hingegen sehr. Hegt man zunächst vielleicht die Vermutung, dass es schon Gründe geben wird, weshalb Borchardts dramatisches Werk es nicht auf die Bühne schaffte, so wird man bei der Lektüre eines Besseren belehrt. Borchardt zeigt sich als vielseitiger, spannender Dramatiker, der sich verschiedenen Themen und Genres annimmt, auch wenn eine konservative Note, aus der man die vehemente Ablehnung moderner Theaterströmungen im Geiste Erwin Piscators stark herausliest, nicht abzustreiten ist. Diese innere Gegnerschaft, den Eindruck gewinnt man an manchen Stellen, verhindert die eigene Größe und Modernität. Das Drama Musik der nahen Zukunft ist hier ein gutes Beispiel, in dem der Lehrer Borchardt sein Leiden am nationalistisch geprägten, konservativen Schulsystem verarbeitet und gleichzeitig eine böse, manchmal etwas zu schenkelklopfende Satire auf Piscator und das politische Theater der Weimarer Republik verfasst.

Ein Verdienst der Herausgeber ist es, dass sie mit dem, was gute Editoren ausmacht, nämlich Unermüdlichkeit und Intention, für immer verschollen geglaubte Dramenmanuskripte ausfindig gemacht haben, sodass man sich nun selbst von Borchardts Texten überzeugen kann. Sehr gelungen sind auch in diesem Fall wieder die Kommentare der drei Herausgeber. Das Herzstück ist in diesem Fall neben dem Kommentar zum erwähnten Stück Musik der nahen Zukunft, der interessante biographische Informationen bietet und auch zeigt, wie vielversprechend und wohlwollend aufgenommen Borchardts frühen dramatischen Arbeiten waren, der Kommentar zum Dramenfragment Befreiung des Pfarrers Müller. Der historische Kontext der Entstehung dieses Stücks ist besonders interessant, verbirgt sich dahinter doch ein brisanter rechtlicher Fall und ein Stück Exilgeschichte: Der (damals) berühmte Dramatiker Ernst Toller hatte mit Borchardt eine Übereinkunft geschlossen, dass dieser ihm Material für ein Stück liefern sollte, wobei die Darstellungen auseinandergehen, ob damit eher die Idee zu einem Stoff oder im Prinzip ein fertiges Stück gemeint war. Was Borchardt Toller lieferte, wurde, soweit herrscht Einigkeit, Tollers letztes Stück Pastor Hall. Die Kollaboration endete mehr als unglücklich, Borchardt war mit Tollers Vorstellungen des Schlusses nicht einverstanden, Toller reklamierte alleinige Autorschaft für Pastor Hall, obwohl man heute im Vergleich mit Borchardts Befreiung des Pfarrers Müller sehr deutlich sehen kann, dass die Haupturheberschaft bei Borchardt liegt, der darin auch seine eigene Lagererfahrung verarbeitete. Es kam zum Rechtsstreit, der noch lange über Tollers Tod, der sich 1939 im Hotel Mayflower in New York erhängte, andauerte, inklusive unschönem Nachtreten Borchardts gegenüber Toller, der sich nicht mehr wehren konnte. Interessanter als die kleinen Details, die eher die biographische Spezialforschung interessiert, ist, was sich daran über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Exildramatiker ablesen lässt: der Zwang zur gegenseitigen Unterstützung und Zusammenarbeit, was Segen und Fluch sein konnte, damit verbunden aber auch Abhängigkeiten und Verzweiflung. Die Herausgeber zeichnen diesen exemplarisch interessanten Fall genau nach, wenngleich (hier spricht die Toller-Forscherin in der Rezensentin) die objektive Distanz zu Borchardts Darstellung des Falles etwas zu kurz kommt, z. B. wo von „Drohungen und Erpressungen“ Tollers die Rede ist, für die es – außer Borchardts Aussage – keinen Beleg gibt. Interessant in diesem Kontext ist auch das abgedruckte Dramenfragment Der Unterirdische, in dem Borchardt sein für ihn erniedrigendes Ghostwriting für Toller verarbeitet.

Band 2 der Borchardt-Werkausgabe wird den Erwartungen, die der Auftakt geweckt hat, gerecht. Gerade das Panorama von den frühen, vielversprechenden Dramen, die sich dem modernen Theater der Weimarer Republik widersetzen, bis zu den Exildramen, die sich am Schluss mit dem Kriminalstück Die Frau des Polizeikommissars an den amerikanischen Geschmack anzupassen versuchen, ist werkgeschichtlich und literaturhistorisch interessant und mit den ausführlichen Kommentaren hervorragend kontextualisiert.

Titelbild

Hermann Borchardt: Werke. Band 2.
Hgg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
687 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351349

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