Störpotential im Wirtschaftswunderland
Mit seiner Studie „Cool“ schreibt Stephan Braese eine Geschichte der Jazzrezeption in Westdeutschland bis zum Popzeitalter
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWill man die Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik Deutschland darstellen, kann man unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Man kann sich vor allem um das Wiederaufleben einer Hochkultur kümmern, die jahrelang als „entartete Kunst“, „volksfremd“ oder „artfremd“ verunglimpft wurde, um die nun wieder beachtete Kunst der Emigranten und damit um die Wiederaufnahme abgerissener Traditionen und Innovationen von vor 1933; im Bereich der Literatur würden dazu die meisten Texte der Gruppe 47 gehören. Oder man richtet das Augenmerk auf eine Traditionslinie, die als kulturkonservativ charakterisiert werden kann und vor allem in den Schullesebüchern ihren Niederschlag fand, die Literatur der „inneren Emigration“, für die Namen wie Carossa, Wiechert, Alverdes, Binding und viele andere stehen. Schließlich kann man sich anschauen, was in der Adenauerzeit und in den Jahren danach, mindestens bis 1968, massentauglich war, also Schlager, Heimat- und Historienfilme inklusive Sissi, Hörspielserien und ab 1960 bestimmte Fernsehformate.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Stephan Braese hat sich für einen anderen Fokus entschieden. Er beschäftigt sich mit der westdeutschen Rezeption des Jazz in vielfältigen und teils durchaus unerwarteten Erscheinungsformen und charakterisiert das gesamte Feld als „Gegenkultur“. Dieser wiederum schreibt er das Attribut „cool“ zu, das ein weites Bedeutungsspektrum aufweist. Jazzkundige werden versucht sein, eine bestimmte Stilrichtung des Jazz, eben den Cool Jazz, angesiedelt zwischen Bebop und Hardbop, damit zu assoziieren. Erinnerungen an weich gespielte, oft recht befremdlich anmutende Saxophon-Phrasen etwa eines Lee Konitz oder Hans Koller, an spröde Soli des frühen Miles Davis oder an die Polyrhythmik des Pianisten Lennie Tristano werden geweckt. Wer sich auf eine Darstellung dieser Musik einstellt, wird seine Erwartungen bei der Lektüre des umfangreichen Bandes nicht erfüllt finden.
Vielmehr ist „cool“ in einem viel umfassenderen Sinn gemeint, nämlich als Kennzeichnung „spezifischer Haltungen sozialer wie performativer Art“, aus denen ein „Gegenentwurf des Lebens zur Umgebungsgesellschaft“ resultiert bzw. vorgeführt wird. Es ist also eigentlich kein Jazzbuch, das Braese vorlegt, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass es um eine Darstellung der als Jazz bezeichneten Musik und ihrer Entwicklung ginge, sondern es ist ein Buch über eine Kultur, die sich zwischen Untergrund und „kommerziellen Verlockungen“ (so die Formulierung in einem zeitgenössischen Jazzbuch) bewegte. Nicht nur Musik macht diese Kultur aus, sondern zu ihr gehören auch Literatur, Film, Fotografie, Zeitschriften, Kleidung und Habitus im weitesten Sinn. Was die Musik selbst anbetrifft, fasst der Autor den Begriff ‚Jazz‘ sehr weit, an einigen Stellen mag man ihn sogar überdehnt finden. So ist fraglich, ob der Schlager Swing! Swing! Swing!, gesungen von Margot Hielscher in Rudolf Jugerts Musikfilm Hallo, Fräulein -! (1949) wirklich als Jazz zu bezeichnen ist.
Der Titel des zweiten Hauptteils „Durchbruch in die Diskurse 1951-1954“ zeigt, worum es Braese in erster Linie geht: Jazz wird vor allem als Diskursphänomen aufgefasst. So ist ein erster Schwerpunkt des materialreichen Bandes die Darstellung der „Hör zu!“-Kampagne von 1947/48. Die soeben neu begründete, im Umfang noch bescheidene Programmzeitschrift wurde zum Forum für ein Radiopublikum, das sich von den Musiksendungen mit dem Radiotanzorchester des NWDR nicht angesprochen fühlte. Die Musik war vielen Hörerinnen und Hörern zu jazzig, die Melodien schienen verfremdet, die Spielweise zu wild und unzivilisiert, kurz gesagt: für „deutsche Ohren“ nicht geeignet. Der NWDR ging daraufhin Kompromisse ein, die aus heutiger Sicht unnötig waren, aber damals den Programmverantwortlichen offenbar unvermeidlich erschienen. Anders verhielt es sich wenige Jahre später bei einer ähnlichen Kampagne, als die Erstsendung des Hörspiels Träume von Günter Eich wütende Höreranrufe auslöste, die allerdings vom Redakteur im Studio elegant pariert wurden.
Braese diagnostiziert, dass in den ersten Nachkriegsjahren der Kulturkonservatismus noch sehr verbreitet war, u. a. weist er auch in Joachim-Ernst Berendts erster Publikation „Der Jazz – eine zeitkritische Studie“ (1950), die in der Reihe „Der Deutschenspiegel“ erschien, eine kulturkonservative Tendenz nach. Die bestand vor allem darin, dass Berendt den Jazz in der Hochkultur verankern wollte, um damit das Ansehen dieser Musik in Deutschland zu heben – ein durchaus anerkennenswertes Bemühen, das er mit seinem später oft wieder aufgelegten „Jazzbuch“ (1953) und dem verdienstvollen Fotoband „Jazz optisch“ (1954) weiterführte.
Dazwischen kam es zur Merkur-Kontroverse zwischen Theodor W. Adorno und Berendt, der Braese einen längeren Abschnitt widmet. Er attestiert Adorno einen Sieg, obwohl der Philosoph, der sich bereits in den dreißiger Jahren zum Jazz geäußert hatte, inzwischen kaum Erfahrungen mit dieser Musik gemacht hatte. Adorno geht mit ihr aber scharf ins Gericht, er wirft ihr „Standardisierung“ und „Pseudoindividualisierung“ vor und nimmt besonders Anstoß am „Synkopentrick“, dem angeblichen Verstecken des 4/4-Taktes, den er auch „Marschtritt“ nennt, hinter Synkopen. Offenbar ging es Adorno weniger um eine musiktheoretische Analyse des Jazz als vielmehr um eine weitere Untermauerung seiner Kulturindustrie-These, der auch Braese etwas abgewinnen kann. In deren Licht ist Jazz nichts anderes als jedes von der Kulturindustrie produzierte und vermarktete Kulturprodukt: Statt zur Emanzipation führe er in die Regression, statt zum Widerstand gegen „das Seiende“ anzuleiten, wie es wahre Kunst sollte, verführe er zur Akzeptanz des Bestehenden, vor allem bestehender Herrschaftsverhältnisse.
Wo bleibt dann das widerständige Potential des Jazz, vor allem wenn man ihn in erster Linie als „schwarze Musik“ auffasst? Wo es aufblitzt, erfasst es Braese in seinen ausführlichen Analysen, zu denen immer auch Darstellungen der Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit gehören. Das Buch ist überaus quellengesättigt – und es verlangt deshalb der Leserin und dem Leser einiges an Geduld ab. Beispiele aus der Literatur, in der Jazz auftaucht, sind: Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras (1951), Günter Grassʼ Welterfolg Die Blechtrommel (1959), Jack Kerouacs Roman Unterwegs (1959), der als Ausdruck der Kultur der Beatniks galt, Fritz Rudolf Friesʼ sicherlich zu wenig beachteter Roman Der Weg nach Oobliadooh (1966) und als Nachklang die im Rückblick auf ein Erlebnis aus dem Jahr 1966 geschriebene Erzählung Die Zukunft der Schönheit (2018) von Friedrich Christian Delius.
Man kann zwar hier und da Zweifel anmelden, etwa dahingehend, was die Maiwiesen-Episode in der Blechtrommel, in der Oskar die NSDAP-Marschierer aus dem Tritt bringt, indem er erst einen Walzer, dann einen Charleston trommelt, mit Jazz zu tun hat, aber das wäre allzu kleinlich. Die Deutung ist überzeugend. „Eine dem Jazz gleichsam immanente Opposition gegen alles Militärische, gegen das ihm innewohnende repressive Körperregime […] wird in ein einprägsames Bild verwandelt, das dem Jazz geradezu eine Entmachtungskapazität einschreibt.“ Hatte Berendt diese Kapazität Adorno gegenüber nur „ins Feld zu führen versucht“, wie Braese schreibt, oder hatte er damit womöglich recht?
Weitere Beispiele für gegenkulturelle Strebungen und Kunstwerke, mit denen der Autor sich auseinandersetzt, sind Louis Malles Film Fahrstuhl zum Schafott (1958) mit der großartigen, direkt beim Anschauen der Filmszenen entstandenen Musik des Miles Davis-Quintetts und die Hörcollage Der Tod des James Dean (1959), in der Alfred Andersch Reportagen über den Jugendrebellen James Dean und einen berühmten Boxkampf sowie Allen Ginsbergs Howl (1956) mit der Musik von Miles Davis verkoppelt. An diesem Beispiel zeigt der Autor, wie das gegenkulturelle Potential der Musik aus dem Film durch deren Verwendung im Hörspiel entschärft wird und in den Sog der Kommerzialisierung gerät. Denn die „Stilisierung James Deans zum Rebellen“ habe „längst kommerzielle Aufgaben zu erfüllen begonnen“.
Besonders eindringlich – und mit Fotomaterial angereichert – kann Braese diese Entwicklung am Beispiel der Existentialisten und ihrer bevorzugten Clubs und Jazzkeller zeigen. In der Zeitschrift „Twen“ schlug sich die Kommerzialisierung dieser „Exi“-Gegenkultur nieder. Das ging so weit, dass die zur Mode gewordenen Kleidungsstücke in den Heften sogar mit Preisen ausgezeichnet waren.
Das Buch schließt mit einer Betrachtung zu LeRoi Jonesʼ (später: Amiri Baraka) Buch Blues People (1963, dt. 1969) und seiner Rezeption in Deutschland, die teils kritisch (Berendt), teils prophetisch (Nachwort zur deutschen Ausgabe) war: Die Verfasser des Nachworts zur deutschen Ausgabe sagten richtig eine Wandlung Jonesʼ vom schwarzen Nationalisten zum Marxisten voraus. Braese nutzt dieses Kapitel für eine knappe Schlussbemerkung, statt eigens ein zusammenfassendes Schlusskapitel anzufügen. Offenbar scheint ihm mit dem Siegeszug der Popkultur und der Klassenkampfrhetorik der Achtundsechziger das selbstreflexive und gesellschaftskritische Potential der von ihm dargestellten Gegenkultur vertan.
Wegen der Fülle an zitierten Quellen und an aufschlussreichem Bildmaterial ist das Buch eine Fundgrube. Über die Thesen des Autors kann man geteilter Ansicht sein – was ja kein Nachteil ist. Letztlich geht es doch immer wieder um die Tendenz, dass Subkulturen früher oder später kommerzialisiert und damit ‚eingemeindet‘ werden. In Bezug auf den Starkult ist dieses Phänomen ausgiebig untersucht worden. Stars, die keine sein wollten, also sich als Anti-Stars verstanden, wurden schließlich doch vom Kulturbetrieb vereinnahmt – oder sie zerstörten sich selbst, wofür es ausreichend Beispiele gibt. Manchen gelang es aber auch, sich der Vereinnahmung listig zu entziehen, indem sie ihr Image immer wieder wandelten. Dieser Vorgang, der Raum für Optimismus lässt, kann auf den Jazz, ob cool oder hot, schwarz oder weiß, national oder weltmusikalisch, übertragen werden. Er ist sich nie gleichgeblieben, er war immer offen für neue Einflüsse und Ideen und hat sich seine widerständige Kraft daher bis heute bewahrt.
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