Mit Winnetou im Diorama
Der von Andreas Brenne herausgegebene Band „Blutsbrüder – Der Mythos Karl May in Dioramen“ dokumentiert die gleichnamige Ausstellung
Von Thomas Merklinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKarl Mays Imaginationen exotischer Gegenwelten fanden nicht nur ein langanhaltend großes Publikum und machten ihn zu einem der meistgelesenen deutschen Schriftsteller, sondern formten sich zu einem eigenständigen popkulturellen Abenteuer-Kosmos aus, der sich von der Kaiserzeit bis heute in unterschiedlichen medialen Formen präsentiert. Bilden die Bücher auch den Ausgangspunkt, um in die Fantasiereiche des ‚Wilden Westens‘ mit der ikonischen Zentralfigur des ‚Apachenhäuptlings‘ Winnetou einzutauchen, gibt es darüber hinaus bildliche Repräsentationen, Filme, Festspiele und Merchandise-Artikel, die den von Karl May angestoßenen mythischen Raum aufgreifen und fortführen.
Einen Blick in diese Fantasiewelt bot die Ausstellung Blutsbrüder – Der Mythos Karl May in Dioramen, die vom 26. Januar bis zum 2. Juni 2019 im Kulturgeschichtlichen Museum im Museumsquartier Osnabrück stattfand. Im Mittelpunkt standen unterschiedliche historische Dioramen, die Szenen aus den Winnetou-Romanen inszenieren und als frühe Formen der mentalitätsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem „Kosmos Karl May“ gelten können. Die anderen Exponate zeigten weitere Gegenstände und Arrangements, an denen die vielfältigen Ausformungen des Mythos aufscheinen. Es gab auch die Möglichkeit, sich in Verkleidungen fotografisch in die fiktive Welt einzufügen. Dabei wiesen eine solche und andere performative Herangehensweisen selbst wiederum „eine quasi ,dioramatische‘ Struktur“ auf, verstanden als „lustvolle Inbesitznahme simulierter fremder Welten“, wie Andreas Brenne schreibt, der den gleichnamigen Dokumentationsband herausgegeben hat und auch an der Ausstellung beteiligt war.
Der erste Teil des Buches führt durch die von Birgit Kersting fotografisch festgehaltene Ausstellung und ihre Exponate, die mit kleinen Begleittexten von Thorsten Heese, Andreas Brenne, Willi Stroband und Wolfgang Willmann versehen sind. Zu Beginn fanden sich die literarischen Werke selbst: Neben den Bänden aus dem Karl-May-Verlag waren historische Ausgaben aus dem 19. und 20. Jahrhundert ausgestellt. Nicht allein die sich verändernde Buchgestaltung ließ unterschiedliche Kontextualisierungen des Werks sinnfällig werden. Neben eher auf Jugendliche abzielenden Coverillustrationen fanden sich unter anderem die symbolisch gehöhten Bildcover Sascha Schneiders (die wiederum in einer eigenen Sektion der Ausstellung aufgegriffen wurden) sowie eine Ausgabe von Der Schatz im Silbersee in der vom Oberkommando der Wehrmacht herausgegebenen Soldatenbücherei.
Die Erzählungen Mays bieten eine „Begegnung mit dem Fremden“ und seien somit „quasi ein dritter Ort“, so Andreas Brenne und der Kurator Thorsten Heese in ihrer Konzeptbeschreibung der Ausstellung, da sie einerseits eine eskapistische, aber auch „befreiende“ Gegenwelt präsentierten, andererseits jedoch zugleich zu einer Verklärung und Stereotypisierung historischer Wirklichkeiten führten. Über Jahrzehnte hinweg haben die Erfindungen Karl Mays in unterschiedlichen medialen Formen die Fantasie zahlreicher Rezipient*innen angeregt und in fantastische Welten entführt. Davon zeugen diverse Exponate, die insbesondere jugendliche Sehnsüchte bedienen: das reicht von Spielzeugfiguren, Schulbedarf und Karnevalaccessoires bis hin zum lebensgroßen Starschnitt von Pierre Brice als Winnetou aus der BRAVO.
Gleichzeitig zeichnen die in Nordamerika angesiedelten Romane Karl Mays ein idealisiertes und verfremdendes Bild der amerikanischen Ureinwohner und haben damit stereotype Vorstellungen der ‚Indianer‘ geschaffen. Die Werke Mays haben es zwar durchaus vermocht, gerade in Deutschland ein starkes Interesse an der Lebenswelt der First Nations zu wecken. Dennoch muss man zugleich konstatieren, dass die allgemein kursierenden Bilder amerikanischer Ureinwohner von der fiktiven Welt eingefärbt sind. Bereits in sogenannten ‚Völkerschauen‘ wollte man ein vorgefertigtes Bild der ‚Indianer‘ bestätigen, wodurch die Vielfalt indigener Gruppen auf bestimmte Präriestämme reduziert wurde, die zudem ein Verhalten wie in den Romanen an den Tag legen sollten. Ahistorische Phänomene wie Totem- und Marterpfähle bei den Apachen oder Blutsbrüderschaften tauchen dann auch in den Verfilmungen aus den 60er Jahren auf und verfestigen eine teilweise schon kitschige Indianerfolklore. Das jüngste Beispiel davon bietet der Kinofilm Der junge Häuptling Winnetou.
Die mythische Karl-May-Welt ist von deutlichen Ambivalenzen geprägt und diese sollten auch in der Ausstellung nicht durch eine einseitige Positionierung kaschiert werden. Die Abenteuerbegeisterung überliest gerne den christlich-paternalistischen Zugriff Mays auf die selbst angelesene Welt des zeitgenössischen Nordamerikas. Dennoch erzählt May zugleich von humanistischen Idealen und versöhnlichen Utopien. Den Romantisierungen in den Romanen steht jedoch auch eine rassistische und koloniale Wirklichkeit entgegen, wie sie in einzelnen Ausstellungsstücken, Fotografien etwa, aufscheint. Dass die Auswanderungsbewegungen aus Deutschland noch zu Lebzeiten Karl Mays daran ebenfalls Anteil haben, wird etwa an originalen Exponaten sinnfällig, die der Osnabrücker Kaufmann Arnold Wilhelm Flohr im 19. Jahrhundert aus Amerika in die Heimat zurückgebracht hat. Die Mischung dieser ganz verschiedenen Felder, die den Mythos Karl May ausmachen, verläuft zwischen „Original und Fiktion“. So stehen – im Dokumentationsband unter der Rubrik „Authentizität“ – die Kostüme und Waffen der Winnetou-Filme neben originaler Kleidung indigener Menschen, Reproduktionen historischer Fotografien und Tierpräparaten von Bisons und Grizzly. Darin darf man sicherlich auch eine bewusste Irritation erkennen, um einen individuellen Ausgleich der im Mythos enthaltenen Heterogenität anzuregen.
Bilder der historischen Dioramen, auch in Detailansicht, schließen den Dokumentationsteil ab. Ein darauf bezogener Text von Wolfgang Willmann informiert über Dioramen im Allgemeinen und stellt die unterschiedlichen Typen vor, die gezeigt wurden.
Der zweite Teil des Bandes druckt Vorträge ab, die im Rahmen der Ausstellung gehalten worden sind und das aufgeworfene Thema weiter vertiefen und entfalten. Helmut Schmiedt problematisiert etwa die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand, indem er zeigt, dass sich die Begegnung nicht auf Augenhöhe ereignet, sondern der Ich-Erzähler vielmehr den Erziehungsauftrag von Winnetous altem Mentor Klekih-petra erhält – ebenfalls ein Deutscher –, dessen Mission fortzusetzen. Zuletzt aber gewinne Winnetou, denn sein Mythos übersteigt inzwischen den seines Blutsbruders wie auch den seines Autors.
Volker Neuhaus setzt sich mit der Genese von „Mythen aus den Niederungen der Trivialliteratur“ auseinander und vergleicht die Figuren Karl Mays mit Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes. Die weiteren Vorträge behandeln die „Weltwestromantik“ in der DDR als Ausdruck einer auch politisch zu verstehenden Sehnsucht nach Freiheit (Frank Wolff), und die erste Romanfassung des Pocahontas-Stoffs von Carl Friedrich Scheibler aus dem Jahre 1781 sowie das darin gezeichnete Bild der indigenen Bevölkerung Nordamerikas wird von Sabine N. Meyer vorgestellt. Zwei bildwissenschaftliche Texte beschließen die Vortragsreihe: Ulf Abraham analysiert die narrative Topographie der Karl-May-Romane sowie ihre Umsetzung im Film, während sich Dietrich Grünewald mit ihrer Comic-Adaption, insbesondere der Helmut Nickels, auseinandersetzt.
Den Abschluss des Bandes bilden persönliche Erfahrungsberichte von Studierenden der Universität Osnabrück. Auch in der Ausstellung sollte das Persönliche nicht fehlen: Die Besucher*innen waren eingeladen, private Kinderbilder in Karl-May-Verkleidung einzuschicken und konnten sich in Verkleidungen, die im Rahmen eines kunstdidaktischen Seminars angefertigt worden sind, in einem begehbaren Diorama vor einem Greenscreen fotografisch festhalten.
Tatsächlich ist der Umgang mit dem wirkmächtigen Erbe Karl Mays nicht einfach. Es öffnet eine fremde Welt und ermöglicht Alteritätserfahrung, verstellt aber zugleich einen authentischen Blick und schafft nachhaltige Stereotype. Dabei ist es aber wohl nicht der richtige Weg, diesen durchaus auch problematischen Kosmos peinlich berührt totzuschweigen. Immerhin stehen auf der anderen Seite Millionen begeisterte Leser*innen, die sich in ferne Sehnsuchtsräume haben entführen lassen und positive Erinnerungen mit Karl May verbinden. Diese Ambivalenz wird sowohl in der Ausstellung als auch dem Dokumentationsband deutlich. So sind die Werke Karl Mays zuletzt Fiktionen und erzählen weniger von einer historischen Welt, an die sie lose anknüpfen. Sie erzählen mehr über uns selbst, unsere Sehnsüchte und Wunschbilder, die zu unterschiedlichen Zeiten und in sich verändernden politischen Kontexten vermittels der von Karl May entworfenen Welten Ausdruck fanden. Dazu passt dann auch der gewählte Titel der Ausstellung, denn die topisch gewordene ‚Blutsbrüderschaft‘ ist der indigenen Kultur Nordamerikas unbekannt und war vielmehr – darauf verweist Dietrich Grünewald – ein germanisches Ritual.
Einen Mythos zeichnet aus, dass er einen kollektiven Bereich eröffnet, in den man sich einbeziehen kann und der sich mit der Zeit weiterentwickelt und neu ausformt. In diesem Sinne kann die Ausstellung ebenfalls als Diorama gelten, das die Ambivalenzen der May’schen Imaginationen und ihre Nachwirkungen in Szene setzt. Dass es zuletzt aber nur unsere eigenen popkulturellen Fantasien sind, auf die wir in diesen Wild-West-Welten stoßen, mag dann durchaus jenes Befremden auslösen, das sich der Museumsdirektor Nils-Arne Kässens in seinem Grußwort erhofft. Diese Möglichkeit, „uns befremden [zu] lassen – durchaus auch von uns selbst“, ist mit dem Dokumentationsband ebenfalls gegeben.
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