Konsequent für die rechtliche Gleichstellung der Frau

Anne-Laure Briatte hat mit „Bevormundete Staatsbürgerinnen“ die erste umfassende Monographie zur „radikalen“ Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar liegt schon eine Reihe biographischer Studien zu Protagonistinnen der „radikalen“ Frauenbewegung um 1900 vor, so etwa zu Anita Augspurg oder Anna Pappritz. Auch wurden bereits einige einschlägige Ego-Dokumente veröffentlicht, wie etwa die Lebenserinnerungen Helene Stöckers. Eine umfassende Untersuchung zur Geschichte der „radikalen“ Frauenbewegung im Kaiserreich stand bislang jedoch noch aus. Dem hat die Französin Anne-Laure Briatte mit ihrer Monographie Bevormundete Staatsbürgerinnen Abhilfe geschaffen. Die Untersuchung erschien bereits 2013 in der Muttersprache der Autorin. Nun wurde sie endlich ins Deutsche übersetzt.

Da „die Kämpfe der Frauenrechtlerinnen mit den Denkkategorien und den Ideologien ihrer Zeit betrachte[t] und nicht anhand unserer heutigen Verständnisse historischer und feministischer Begrifflichkeiten beurteil[t]“ werden müssen, und die für die beiden Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zur Zeit des Kaiserreichs gebräuchlichen Bezeichnungen radikal und gemäßigt „Zuschreibungen im Kontext ihrer Entstehung“ sind, übernimmt Briatte zwar beide Begriffe, setzt sie jedoch stets in Anführungszeichen. Die vorliegende Besprechung ihres Buches verfährt ebenso.

Vom „gemäßigten“ Flügel der damaligen Frauenbewegung unterschied sich der „radikale“ ganz grundsätzlich dadurch, dass er dem „Kampf für die volle rechtliche Gleichstellung“ die höchste „Priorität […] beimaß[.]“. Da Briatte „die ‚Radikalen‘ als politische Akteurinnen“ versteht, deren „kollektives Handeln“ ein „grundlegendes gesellschaftliches Reformprojekt“ verfolgte, lautet die zentrale Fragestellung ihrer Untersuchung:

In welchem Maße trug die ‚radikale‘ Frauenbewegung dazu bei, die soziale und politische Ordnung in Deutschland umzustoßen und andere Repräsentationen als jene, auf denen die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs gegründet war, hervorzubringen?

Um sie zu beantworten, zeichnet die Autorin die Geschichte der „radikalen“ Frauenbewegung mit ihren „Kontinuitäten und linearen Entwicklungen“ wie auch mit ihren „Brüchen und Widersprüchen“ nach. Dabei erkundet sie zugleich das bewegungsinterne „Zusammenspiel“ von „Identität, Ethik und Politik“.

Briattes Quellenkorpus setzt sich aus den Zeitschriften der „radikalen“ Frauenbewegung, „weiteren Veröffentlichungen der Vordenker und Vordenkerinnen und der ‚Radikalen‘ selbst“ sowie aus publizierten und unveröffentlichten „Ego-Dokumenten der Hauptakteurinnen“ zusammen. Als besonders wertvoll erweist sich die Auswertung der bislang zum größten Teil noch nicht veröffentlichten Tagebücher Minna Cauers. Sie war gemeinsam mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann eine der Frauen, die das führende „Dreigestirn“ der „radikalen“ Frauenbewegung bildeten. Zudem gründete Cauer die Zeitschrift Die Frauenbewegung, als deren Herausgeberin sie über Jahrzehnte hinweg fungierte.

Briatte hat ihre Untersuchung „chronologisch aufgebaut“ und in drei Hauptkapitel gegliedert, die sich an „zwei Zäsuren“ im Wirken der „radikalen“ Frauenbewegung orientieren. 1899 erfolgte ein organisatorischer „Paradigmenwechsel“ der seit Ende der 1880er Jahre in zahlreichen, oft örtlichen Vereinen aktiven „radikalen“ Frauenbewegung. Gemeinsam traten sie aus dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) aus, in dem sie bis dahin zusammen mit den „Gemäßigten“ organisiert waren, und gründeten den Verband fortschrittlicher Frauenvereine (VfF). Sein Programm enthielt vier zentrale Punkte: die Förderung der Mädchenbildung, die Ablehnung der (staatlichen Regulierung von) Prostitution, die Forderung der Staatsbürgerrechte für Frauen, zu denen das Wahlrecht zählte, sowie „die Zusammenarbeit mit den Arbeiterinnen“.

Zugleich kam es in den Jahren 1898/99 zu erheblichen „ideologisch[en] wie auch persönlich[en]“ Differenzen innerhalb der „Radikalen“, die nicht selten auf ausgesprochen intransigente Weise ausgetragen wurden. Trotz der internen Zerwürfnisse bezeichnet Briatte die Jahre von 1899 bis 1908 zweifellos zu Recht als „goldenes Zeitalter der ‚radikalen‘ Frauenbewegung“.

Die Jahre 1907/08 markieren den zweiten großen Einschnitt in der Geschichte der „radikalen“ Frauenbewegung. Um den Jahreswechsel wurde zum einen das Vereinsrecht des Kaiserreiches geändert, sodass es Frauen nun erstmals erlaubt war, nicht mehr bloß in reinen Wohltätigkeitsvereinen aktiv zu sein, sondern sich in explizit politischen Vereinen zu organisieren. Zum anderen schloss sich der VfF dem BDF an.

Mit der Einstellung des Organs der „Radikalen“, der 1895 gegründeten Zeitschrift Die Frauenbewegung, im Jahr 1919 endete zugleich die Geschichte der „radikalen“ Frauenbewegung. Den sich so ergebenden drei Perioden in der Geschichte der „Radikalen“ entsprechen die drei umfangreichen Hauptkapitel des vorliegenden Bandes.

Das erste der „drei wichtigsten Tätigkeitsfelder“ der „Radikalen“ zielte darauf, Mädchen die Möglichkeit zur Bildung und Frauen den „Zugang zu qualifizierten Berufen“ zu eröffnen. Hinzu kamen der „Kampf gegen die Prostitution“ und vor allem die völlige „rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen“. Auf jedem dieser Gebiete bildeten sich „Spezialistinnen“ heraus, die arbeitsteilig vorgingen und sich zunehmend professionalisierten.

Briatte zeichnet all dies detailliert nach. Dabei stellt sie nicht zuletzt die Strategien der „Radikalen“ vor und zeigt wie erfolgreich sie jeweils waren. „Wirksam und unkonventionell“ war insbesondere die „Kommunikationsstrategie“ im Kampf gegen die staatliche Regulierung der Prostitution. Erwähnenswert ist auch, dass die „abolitionistischen Kämpferinnen“ bestrebt waren, Männer für die Arbeit in den einschlägigen „Frauenkomitees“ anzuwerben. Begründet wurde der Kampf gegen die Prostitution zwar auch mit der herrschenden Doppelmoral, die Prostituierte diskriminierte, Freier hingegen nicht. Interessant ist aber vor allem, dass die „Radikalen“ nicht nur das Wohl ihrer prostituierten Geschlechtsgenossinnen im Blick hatten, sondern die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Prostitution. So werden in der Ausgabe der Zeitschrift Die Frauenbewegung vom 15. Dezember 1900 die „Zerstörung der Gesundheit und Sittlichkeit unseres Volkes“ sowie „die furchtbaren Einwirkungen“ der Prostitution „auf Ehe und Familie“ angeprangert.

Von den Forderungen nach Staatsbürgerrechten auch für Frauen beleuchtet Briatte insbesondere den Kampf ums Frauenstimmrecht, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als „neuer Motor des ‚radikalen‘ Flügels der Frauenbewegung“ erwies. Auch hier waren die propagandistischen Aktivitäten der Frauenrechtlerinnen ausgesprochen innovativ.

Wie Briatte weiter zeigt, gingen die Anliegen der „radikalen“ Frauenbewegung „weit über Partikularinteressen “ ihres Geschlechts hinaus. Denn „wenn sie die gleichen Rechte wie die Männer einforderten“, taten sie dies nicht etwa, „um Frauen ihre individuellen Wünsche zu erfüllen“, sondern weil sie überzeugt waren, „dass ein Volk nicht frei sei, wenn die Hälfte der Bevölkerung es nicht ist“. So „trugen ihre Aktionen dazu bei, die traditionellen Vorstellungen von Politik und die Regeln des politischen Betriebs aufzuweichen“. Zudem sei „das systematische Insistieren der ‚Radikalen‘ auf der Verantwortung des Staates für das Gemeinwesen“ von herausragender Bedeutung gewesen, da es den Wohlfahrts- bzw. Sozialstaat vorbereitete.

Für die Zeit nach 1908 konstatiert Briatte einen zunehmenden „Kohäsionsverlust der ‚radikalen‘ Frauenbewegung“, zu dem auch die stärker aufflammenden „ideologische[n] Konflikte innerhalb der Frauenstimmrechtsbewegung“ beitrugen. Einschneidend war aber vor allem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Aufgrund der Lügen der deutschen Kriegspropaganda, glaubten die „meisten Frauen aus der ‚radikalen‘ Frauenbewegung“ nach Kriegsbeginn, Deutschland sei angegriffen und zu einem „Verteidigungs- und daher gerechtfertigten Krieg“ gezwungen worden. So verhielten sie „sich nicht viel anders als die anderen Frauenrechtlerinnen und die Frauen aus der Arbeiterinnenbewegung: Sie dienten im nationalen Frauendienst“, der zu Kriegsausbruch von Getrud Bäumer, der „gemäßigten“ Vorsitzenden des BDF, gegründet worden war. Nur eine Minderheit um Lida Gustava Heymann, Anita Augspurg, Minna Cauer und Helene Stöcker „weigerte sich, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen, und setzte sich für den Pazifismus ein“.

„Die Einführung des demokratischen Wahlrechts für beide Geschlechter“ nach Kriegsende, vor allem aber „die inneren Unruhen im Lande und der brüchige Frieden von 1919 bewirkten“ bei den „Radikalen“ eine weitere „Verschiebung der Prioritäten“. Gerade die bekanntesten wie Helene Stöcker, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Gertrud Baer widmeten sich nun noch stärker dem pazifistischen Engagement. Stöcker arbeite zudem weiterhin intensiv im von ihr 1905 mitgegründeten Bund für Mutterschutz und Sexualreform, der allerdings schon immer weitgehend unabhängig von der Frauenbewegung tätig war. Auch wurde 1919 die von Cauer herausgegebene und finanzierte Zeitschrift der „Radikalen“ Die Frauenbewegung eingestellt. All dies hatte zur Folge, dass die „radikale“ Frauenbewegung zu Beginn der Weimarer Republik zu einem Ende kam.

Zum Abschluss ihrer Untersuchung beantwortet Briatte ihre eingangs gestellte Frage nach der Wirksamkeit der „radikalen“ Frauenbewegung dahingehend, „dass ihre Kämpfe nicht umsonst gewesen waren, auch wenn einige von ihnen nicht sofort Erfolge zeitigten“. „Die Prinzipien, die die ‚radikalen‘ Frauenrechtlerinnen als Gedanken in die Köpfe der Menschen pflanzten, sind in unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgegangen und bilden heute die Grundlage der sozialen und politischen Ordnung westlicher Demokratien.“

Briatte hat die „radikale“ Frauenbewegung auf ihrem Weg ganz offenbar mit Sympathie begleitet. Dies hat jedoch nie ihren wissenschaftlichen Blick getrübt, sodass eine exzellente Arbeit entstanden ist. Möge die Hoffnung der Autorin daher in Erfüllung gehen, dass ihre Untersuchung „einen Beitrag dazu leisten“ wird, die „radikale“ Frauenbewegung um 1900 auch über den engeren Kreis feministischer HistorikerInnen hinaus „wieder sichtbar werden zu lassen“.

Titelbild

Anne-Laure Briatte: Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die »radikale« Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich.
Übersetzt aus dem Französischen von Meiken Endruweit.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
490 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783593508276

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