Von der Schweiz in die USA und zurück

Der von Julia Schöll, Franziska Solana Higuera und Christian Wiebe herausgegebene Sammelband „Thomas Mann lesen!“ berücksichtigt vor allem die Zeit im Exil

Von Irina BrüningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Brüning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch im Jahr 2024 und somit pünktlich zum in diesem Jahr gefeierten Jubiläum wurden die Beiträge zu der gleichnamigen Ringvorlesung veröffentlicht. Stattgefunden hatte sie im Sommersemester 2022 an der TU Braunschweig. In ihrer Einleitung nehmen Julia Schöll, Professorin für Neuere deutsche Literatur und ihre beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Franziska Solana Higuera und Christian Wiebe Bezug auf die Frage Was halten Sie von Thomas Mann?, die Marcel Reich-Ranicki anlässlich des 100. Geburtstags des Autors im Jahr 1975 stellte. Die drei Herausgeber:innen stellen fest, dass es nach wie vor schwierig sei, die Texte Manns unabhängig vom Mythos der Autorfigur zu lesen: Zu bedeutend sei er auch als politische Figur gewesen und zu sehr habe er sich selbst bemüht, ein bestimmtes Bild von sich zu schaffen.

Die Beiträge gliedern sich in zwei Teile: Im ersten wird jeweils ein Roman von Thomas Mann genauer betrachtet. Im zweiten stehen die Kontexte, welche die Lektüren prägen, im Mittelpunkt; es geht größtenteils um die Frage, wie Zeitgenoss:innen Manns Texte gelesen und seine Person gesehen haben.

Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren von 1938 bis 1952, die Thomas Mann im US-amerikanischen Exil verbrachte. In ihrem Beitrag Die Politisierung des Mythos in Zeiten der Krise greift Professorin Julia Schöll das Thema ihrer Dissertation auf und widmet sich der vierbändigen Reihe Joseph und seine Brüder. Während die ersten beiden Bände noch in Deutschland entstanden, verfasste Mann den dritten bereits zum Teil im Schweizer Exil und den ursprünglich nicht geplanten vierten mit einigem zeitlichem Abstand in Kalifornien. Schöll betont, dass bereits die Wahl eines jüdischen Mythos als Grundlage für einen literarischen Text spätestens ab 1933 ein Politikum dar[ge]stellt habe. Darüber hinaus erzähle der dritte Band Joseph in Ägypten die Geschichte einer gelungenen Integration unter Beibehaltung der Werte der Heimat. Als Vorbild für die Ernährer-Figur des vierten Bands (Joseph der Ernährer) sieht Schöll den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und dessen Reformen im Rahmen des New Deal.

Franziska Solana Higuera befasst sich in Man(n) rezipiert Goethe im Exil mit dem Roman, der zwischen dem dritten und vierten Teil der Joseph-Tetralogie entstand: Lotte in Weimar. Thomas Mann vollendete ihn 1939. Solana Higuera greift das Mann-Zitat „Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me“ aus einem Interview mit der New York Times von 1938 auf. Sie beschreibt den von Mann stets verehrten Johann Wolfgang von Goethe als seinen „kulturellen Anker […] im Exil“, hebt Manns profunde Kenntnis von Goethes Werken hervor und interpretiert den Roman als Kritik am Goethebild in Nazideutschland.

Thomas Mann trat in Goethes Fußstapfen, indem er für seinen 1947 veröffentlichten Roman Doktor Faustus den gleichen Stoff wie jener bearbeitete. Cord-Friedrich Berghahn nennt das Werk in Keine freie Note eine deutsche Mentalitäts-, Kultur-, Geistes- und Musikgeschichte der Jahre 1880-1930, die […] mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus untrennbar zusammenhängt. Er verweist auf Manns Rede Deutschland und die Deutschen von 1945, in der der Emigrant die Musik als dämonisches Gebiet bezeichnet. Manns in dieser Rede getroffene Aussage, selbst Schuld auf sich geladen zu haben, interpretiert Berghahn als Distanzierung von den Betrachtungen eines Unpolitischen aus dem Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus nennt er in seinem Beitrag den ersten atonalen Komponisten Arnold Schönberg und seine Schüler als Vorbilder für die Hauptfigur Adrian Leverkühn und betont die Bedeutung der Bilder Albrecht Dürers.

Im Jahr 1949 bekam Thomas Mann Besuch von einer begeisterten Leserin, die später selbst als Autorin bekannt werden sollte: Susan Sontag. In Den Zauberberg lesen in Arizona vergleicht Kai Sina den vermutlich bald nach der Begegnung entstandenen Text At Thomas Mann’s (der mittlerweile Bekanntheit erlangt hat, da er in Tilmann Lahmes Biographie in deutscher Übersetzung enthalten ist) mit dem Essay Pilgrimage von 1987. Sina zeigt, wie die beiden Texte die realen Ereignisse in unterschiedlichem Maße fiktionalisieren. Dabei geht aus beiden deutlich hervor, wie wichtig die Lektüre des Zauberberg für die junge Studentin war. Sontags von Sina erwähnte Schwierigkeiten, ihre echten Erinnerungen von dem Bild zu unterscheiden, das Mann im Rahmen seiner Imagepflege für Fotografen inszenierte, erinnern an den Beitrag Felix Krull – der ‚authentische‘ Hochstapler? von Erik Schilling. Der Autor unterscheidet zwischen sechs „Formen der Authentizitätszuschreibung“ und weist unter anderem darauf hin, dass die fiktive Person Felix Krull auch noch in ihren Memoiren lügt, da beispielsweise die schwärmerischen deutsch-französischen Verse der Diane Houpflé unmöglich improvisiert sein können. Die von einigen Fachleuten aufgestellte These, Thomas Mann spreche an bestimmten Stellen im Felix Krull von seinen eigenen Empfindungen, weist Schilling zurück.

Schon Julia Schöll erwähnt die immer wieder geäußerten Zweifel an der Modernität der Texte Thomas Manns. Christian Wiebe zitiert als Einstieg in seinen Beitrag Thomas Manns frühe Erzählungen und die Literatur der Klassischen Moderne zeitgenössische Kritiken, die den Tod in Venedig unterschiedlich bewerten. Er listet einige Punkte auf, in denen sich die frühen Erzählungen von der Klassischen Moderne abheben – unter anderem handelt es sich bei ihnen nicht um Großstadtliteratur. Daraufhin nennt er drei Kriterien, die ein anderes Licht auf die Frage werfen: Fatalismus, Außenseiterfiguren und Stil. An diversen Beispielen zeigt Wiebe, dass Thomas Manns um die Jahrhundertwende entstandene Erzählungen durchaus Parallelen zu anderen Texten aus der gleichen Zeit aufweisen. Friedhelm Marx spricht in Technik und Technikkritik in Thomas Manns Der Zauberberg gar von einer avantgardistische[n] Signatur des Romans und bezeichnet ihn als Enzyklopädie der Moderne. Sein Beitrag legt den Schwerpunkt auf den Stellenwert des Röntgengeräts und des Grammophons im Zauberberg und zitiert ergänzend Passagen aus Manns Tagebuch, aus denen dessen Interesse an diesen technischen Errungenschaften deutlich wird.

Nicht nur Johann Wolfgang von Goethe, auch Friedrich Schiller findet in Thomas Mann lesen! Erwähnung. Matthias Steinbach zeichnet in Denn er ist unser! den Weg zu Manns Ehrenpromotion an der Universität Jena im Schillerjahr 1955 nach. Er zeigt auf, dass die Entscheidung dazu von der Philosophischen Fakultät nicht ganz ohne Druck von oben getroffen wurde, da Thomas Mann sich im Nachrkriegsdeutschland instrumentalisieren ließ, wie auch Schiller selbst politisch instrumentalisiert wurde. Mann selbst stellte in seiner Rede Versuch über Schiller den Namensgeber der Universität als „Symbolfigur der deutschen Einheit“ dar und vermied eine allzu starke Positionierung. Steinbach betont, dass der aus den USA nach Europa Zurückgekehrte dennoch in der DDR beliebter als in der BRD war, wo ihm „Altnazis und Nationalkonservative“ frühere Aussagen übelnahmen. Da Thomas Mann noch im Jahr der Jenaer Ehrung nicht in Deutschland, sondern in Küsnacht bei Zürich starb, gehört das Thomas-Mann-Archiv zur Bibliothek der ETH Zürich. Seine Geschichte erzählt Tobias Amslinger in Thomas Mann (neu) lesen – im Archiv. Er erwähnt in seinem Beitrag das ausgeprägte[s] Nachlassbewusstsein‘“ des Autors und erzählt von Sammlungen, die bereits zu seinen Lebzeiten in verschiedenen Ländern existierten.

Thomas Mann lesen! beleuchtet ganz unterschiedliche Aspekte und berücksichtigt zahlreiche Werke. Eine kleine Enttäuschung stellt das Fehlen der Buddenbrooks dar. Thomas-Mann-Kenner:innen werden jedoch durch die Erwähnung wenig bekannter Fakten entschädigt – erstens: Es existiert ein Roman mit dem Titel Olympia, der aus der Sicht von Felix Krulls Schwester geschrieben ist. Zweitens: Grammophone, wie sie im Zauberberg beschrieben werden, kamen in Wirklichkeit erst in den 20er-Jahren auf. Drittens: Der große Schriftsteller war sich der Tatsache bewusst, dass er eine Sauklaue hatte.

Titelbild

Julia Schöll / Christian Wiebe / Franziska Solana Higuera (Hg.): Thomas Mann lesen!
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
182 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826077531

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