Von der Weltliteratur und ihren Dichtern

Hans Christoph Buchs Essaysammlung „Ungestraft unter Palmen“

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was haben Fiesta von Hemmingway und Die Pest von Alber Camus mit Kurt Tucholskys Schloss Gripsholm gemein?“, fragt Hans Christoph Buch in seinem kurzen Epilog mit dem etwas provokanten Titel Unterster Literaturschlamm. Die Antwort ist schlicht: Nichts. Außer, dass sie in der rororo Taschenbuch-Reihe erschienen, die 1950 begann, den deutschen Literaturmarkt zu revolutionieren. Die günstigen (wohl auch billigen) Bändchen riefen bei den gewichtigen Vertretern der Höhenkamm-Literatur Abwehrreflexe hervor ‒ Arno Schmidt war es, der sie als „untersten Literaturschlamm“ bezeichnete, und selbst Hans Magnus Enzensberger beklagt die völlige Strukturlosigkeit der Reihe, ihr bloßes Nebeneinander. Das aber, so kontert nun Buch retrospektiv, war gerade die Stärke der Reihe: „Kein restriktiver Kanon, keine Erziehungsdiktatur, die vorschreibt, was man lesen und denken soll, keine Erbpflege und auch kein Agitprop, sondern das unzensierte Nebeneinander all dessen, was sich gewinnbringend vermarkten und verkaufen ließ“.

Vielleicht wäre diese nachträgliche Verbeugung vor dem Sammelsurium des Rowohlt Verlages ein passendere Hinführung zu der bunt gemischten Sammlung aus Themen und Textsorten gewesen, die vom Verlag etwas großzügig als Essay bezeichnet werden, als der geradezu obligatorische Weg über Johann Wolfgang Goethe. (Alle Wege zur Weltliteratur führen in Deutschland gerade über Goethe.) Über ein Zitat aus dem West-Östlichen Divan und Goethes Programm einer Weltliteratur, das persönlichen Kontakt und Austausch der Literaten der Welt vorsieht, kommt Buch schnell (und leider kurz) zu den eher selten zitierten Karl Marx und Friedrich Engels, die ausgerechnet im kommunistischen Manifest Goethes Idee der Weltliteratur aufnehmen. Aber schon stolpern wir etwas atemlos weiter (oder zurück?) zu Alexander von Humboldt und seinen Entdeckungsreisen um die Welt im Geiste deutscher Klassik, von hier ist es – zumindest für H.C. Buch ‒ nicht weit zu Paul Gauguin, August Mackes Tunesienreise, Afrikanismus, Orientalismus und Hubert Fichtes Provokation: „Ich ficke gern Neger“. Schließlich gelangen wir kurz (Moment einmal, wie eigentlich?) zu der jungen Kulturmetropole Berlin, von der aus alle Welt aufbricht, um den Spuren von Relativitätstheorie, Soziologie, Bakteriologie und Ethnologie zu folgen (oder meint Buch hier doch Wien, London und Paris?). Schließlich erfahren wir: „Doch Weltliteratur ist keine Reiseliteratur, auch kein Raritätenkabinett, das exotische Kuriositäten zur Schau stellt“. So bekommt dieser turbulente Einstieg eine kurze Atempause und die Frage, ob es ein Kriterium für Weltliteratur gibt, knüpft wieder an Goethe an ‒ und findet die eher banale Antwort, dass Weltliteratur keiner Tagesaktualität unterliegt, sondern zeitgebunden und zeitlos zugleich sei.

„Niemand wandle ungestraft unter Palmen“,wie es in Goethes Wahlverwandtschaft heißt ‒ was, wie Buch zu Recht anmerkt, zumeist ohne den Kontext zitiert und damit Goethe wenig gerecht wird. Durch die Streichung der ersten zwei Wörter erreicht Buch eine Umkehrung der Aussage; diesem bedeutungsoffenen Halbsatz folgen die versammelten Texte in ihrer Flanierlust und führen eher das bunte Sammelsurium der rororo-Bändchen fort, als systematische Überlegungen zu Status und Charakteristik der Weltliteratur zu liefern. So erzählt Buch lieber aus dem Raritätenkabinett internationaler Schriftsteller, als sich substantiell mit ihren Werken zu befassen. „Wege der Weltliteratoren“ wäre insofern ein passenderer Titel gewesen. Das schmälert aber in keiner Weise den Lesegenuss und den Facettenreichtum von Buchs Darstellungen. Gerade die Randseiten der Weltliteraturgeschichte interessieren Buch dabei wesentlich mehr als die Allgemeinplätze des europäischen Zugriffs auf das auch später im Buch nicht genauer profilierte Konzept „Weltliteratur“. Er folgt damit einem narrativem Muster, dass er selber bei der Auseinandersetzung mit Robinson Crusoe formuliert: „Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine gerade Linie, aber das gilt nicht für die Poetik des Romans, der von Anfang an andere, eigene Wege ging.“ Diesen eigenen Wegen folgt Buch leichtfüßig, vielbelesen und lesenswert. Er verknüpft etwa Daniel Defoes archetypischen Text mit dem abstrusen Cargo-Kult: Naturvölker haben Treibgut und die Reste gestrandeter Schiffe zu Artefakten erklärt und beten später gar die Flugzeuge an, die bisweilen, zur Kontaktaufnahme, erste Güter zum Kennenlernen abwerfen; ohne ein ähnliches Sammelsurium der Dinge, die er aus dem Wrack seines gesunkenen Schiffe bergen konnte, hätte auch Robinson auf seiner Insel keinen Monat überlebt.

Die Einblicke in die kulturell anregende Gemengelage  ausgerechnet des wilhelminischen Berlins, das man sich doch eher rechtskonservativ gedacht hat, sind verblüffend. Dass eine weltliterarische Größe wie José Rizal hier sein monumentales Werk Noli me tangere publizierte, hat man vielleicht schon gehört, aber dass der japanische Arzt und Schriftsteller Mori Ogai nicht nur durch sein Medizinstudium bei Robert Koch später die moderne Medizin in Japan einführte (weshalb nach Buch japanische Ärzte bis vor kurzem noch Deutsch lernen mussten), sondern auch beide Teile des Faust ins Japanische übersetzte, dürfte den meisten ebenso unbekannt sein, wie die Tatsache, dass der amerikanische Vordenker der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, William Edward Burghardt Du Bois, bevor er sein Hauptwerk The Soul of Black Folks verfasste (das wiederum Max Weber so beeindruckte, dass er es ins Deutsche übersetzen wollte), als Dandy das wilhelminische Berlin unsicher machte und trotz der von Korpsgeist, Rassedenken und Antisemitismus durchzogenen Gesellschaft nach eigenen Aussagen nie diskriminiert wurde, sondern im Gegenteil offene Türen einrannte.

Ebenso anekdotenreich wie lobenswert sind die kenntnisreichen Exkurse zu Literaturen, die selbst dem akademischen Publikum wenig bekannt sein dürften. Wer kennt hierzulande schon den chinesischen Dichter Du Fu, der schon im 8. Jahrhundert Verse voll selbstkritischer Ironie schrieb, wie sie hier – wenn überhaupt – erst ab der Renaissance denkbar wurden. Wirklich erhellend wird Goethes angebliche Gabe der Einfühlung in fremde Kulturen erst da, wo die Poesie der anderen Kultur in ihrem Eigenwert ernst genommen wird. Dies leistet auch Buch in seinem Essay; hier im Übrigen mal nicht am Westöstlichen Divan, sondern an Goethes spätem Gedicht Sagʼ, was könnt uns Mandarinen vorgeführt, indem poetische Bilder von besagtem Du Fu, Li Bai oder Lu Xun zum Vergleich herangezogen werden.

Zuletzt soll aus der Sammlung der Texte, die neben einem faszinierenden Interview mit dem Sinologen Wolfgang Kubin noch eine überfällige Würdigung Nuruddin Farahs („Afrikas führender Feminist“) oder Texte über und mit Joseph Brodsky bieten, ein Interview mit Mario Vargas Llosa herausgehoben werden, in dem der Nobelpreisträger betont und begründet, dass Lateinamerika kulturell zur westlichen Welt gehört, insbesondere, weil so viele der einflussreichsten Schriftsteller Lateinamerikas ihre wichtigsten Werke in Europa verfassten, da die Distanz zur Heimat ebenso befruchtend wirkte, wie der direkte Kontakt mit der europäischen Geistesgeschichte: „Wie viele Autoren meiner Generation wurde ich erst in Europa und durch Europa zum Lateinamerikaner.“ Ohne den westlichen Kulturhorizont ließe sich Lateinamerika ebenso wenig begreifen wie nur aus diesem.

Auch wenn die Sprunghaftigkeit und Themenvielfalt vieler Texte den Lesefluss oft hemmt und ein Verstehen erschwert, ist gerade diese Vielseitigkeit und Unerschöpflichkeit eine Stärke dieses auch verlegerisch schönen Bandes – und nicht zuletzt ein Wesensmerkmal der Literaturen der Welt, die sich gerade durch ihre nie ganz zu begreifende Vielfalt unseres nie erlahmenden Interesses sicher sein können.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Ungestraft unter Palmen. Wege zur Weltliteratur.
Herausgegeben von Anne Hamilton.
zu Klampen Verlag, Springe 2017.
105 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745643

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