Medium und Melancholie

Jenny Bünnigs vorzügliche Dissertation diskutiert die Verlaufsformen des Melancholischen in der Kunst unter immenser Aufwertung des Rezipienten

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinen jüngsten soziologischen Schriften ‒ Das erschöpfte Selbst (2004), Das Unbehagen in der Gesellschaft (2011) ‒ stellt Alain Ehrenberg die radikalen Auswüchse des Kapitalismus in einen direkten Zusammenhang zu stark angestiegenen Formen der Depression. Seine empirisch fundierten Auseinandersetzungen mit Einblicken in die französische und amerikanische Gesellschaftsstruktur lassen ihn zu der Erkenntnis gelangen, dass das Subjekt der Gegenwartsgesellschaften weniger durch das Moment der Scham denn dasjenige der Schuld in Anbetracht der schier entgrenzten Handlungsmöglichkeiten bedrängt ist. Für Ehrenberg illustriert die Depression damit eine Krise der Handlungsfähigkeit infolge ungenutzter Freiheits- und Möglichkeitsspielräume. Die Modell-Qualitäten der Kunst, die die Lebenswirklichkeit über eine komprimierte Handlungsanlage simuliert und individuell ausdeutet, ermöglichen so Annäherungen an die von der Soziologie entwickelten Theorien.

Dass das Ästhetische als flächiger Wahrnehmungsraum darüber hinaus auch konkrete Handlungen und Wege im Sinne des Freiheitsgewinns aufzeigen kann, illustriert Jenny Bünnigs weitsichtige Dissertation. Auf dem Fundament eines kunstwissenschaftlichen Zugangs, der Literatur (Charles Baudelaire, Virginia Woolf), Malerei (Edward Hopper), Film und Installation (Gustav Deutsch) integriert, betrachtet sie das Melancholische (als tätige Vor-Form der Depression) in personaler Raum- und Zeitwahrnehmung zwischen den Polen Krise und Bewältigung. Gerade das von Ehrenberg in die Diskussion eingeführte Moment subjektiver Handlungsfähigkeit wird dabei auf zahlreichen Ebenen zum Leitmotiv ihrer Ausführungen und erhebt nicht zuletzt den aktiven Rezipienten des Ästhetischen in eine hervorgehobene Position der Selbstwirksamkeit. Subkutan argumentiert Bünnig so für einen kunsttheoretischen Rezeptionsansatz, der den Einzelnen in einen Zustand neu gewonnener Autonomie versetzt.

Den übergreifenden Theoriediskurs reflektierend, entwickelt die Autorin zunächst das Instrumentarium zur Beschreibung des Melancholischen als Ausdruck in die Krise geratener Raum- und Zeitbezüge des Subjekts: Allgemein gesprochen erweist sich die melancholische Zeiterfahrung als eine der Schuld, über die der Einzelne im fortwährenden Verpassen günstiger Gelegenheiten als Gefangener der ewigen Gegenwart (Hans Ulrich Gumbrecht) erscheint: Die Zukunft ist eher ein idealisiertes Noch-Nicht im Unerreichbaren, die Vergangenheit erweist sich als in weitgehender Erinnerungslosigkeit von ihm abgekoppelt. Im Kantischen Sinne eng damit verknüpft sind die räumlichen Erfahrungen des melancholischen Menschen, der selbigen lediglich als Fragment wahrnehmen kann, sich in seiner räumlichen Gegenwart isoliert fühlt und einen imaginären Fluchtpunkt (als Ideal des anderen Ortes) entwirft. Der fehlende Rückgriff auf kohärente Ordnungen und herkömmliche Zusammenhänge ist damit nachhaltig gestört und hinterlasst ein Feld der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Eindrücke.

Gerade Baudelaires Fleurs du mal konkretisiert jene ersten Befunde: Das lyrische Ich ist zurückgeworfen auf seine Handlungsgegenwart und verliert den Zugang zur eigenen Zukunftszeit. Wie Bünnig auf klare und strukturierte Weise anhand symptomatischer Beispiele darlegt, ermöglicht auch der Raum eine lediglich trügerische Ordnung: Das häufig anzutreffende Reisemotiv ist weniger Ausdruck eines Bildungsimpetus als vielmehr Sehnsucht nach absoluter (Selbst-)Distanz und arbeitet sich symbolträchtig an heterotopischen Nicht-Orten des Abgrunds sowie dem Meer als destruktivem Ort der Gleichförmigkeit ab.

Baudelaires Text inszeniert das Melancholische außerdem formal über die Brüchigkeit des Narrativs und das Spiel mit Erwartungen und Ambivalenzen. Auch Virginia Woolfs Mrs Dalloway verkörpert die krisenhaften Implikationen des Melancholischen und breitet dazu ein komplexes Netzwerk vielfältiger Darstellungsverfahren aus: Die raumzeitlich fast konventionell gerahmte Beschreibung eines Junitages 1923 im ehelichen Haus des Protagonisten gerät dabei als Spiel zwischen Figuren, Zeit- und sprachlichen Artikulationsformen sowie Bezugsräumen sukzessive aus den Fugen: Fragmentarisch und auf melancholische Weise desorientiert ist über die Erzählerstimme hinausgehend zuvorderst der räumliche Kontext der Subjekte: Die topographischen Beschreibungen, die neben dem Wirklichen auch die Ebenen der Imagination und des Wahns miteinbeziehen, erweisen sich als derart dynamisch, unscharf und vor allem uneindeutig, dass sämtliche Figuren in identitätsbedrohender Weise angegriffen sind. Diese Unfestigkeit von Wirklichkeit (als „Prisma von Wirklichkeiten“) zeigt sich auch im temporalen Sinne, zumal sämtliche Zeitformen simultan verschaltet sind und weitreichende Verunsicherungseffekte für die Subjekte produzieren. Diese raumzeitliche Wahrnehmungskrise des Melancholischen greift immer wieder auf den Leser des Textes über, dessen Zugänge zum Roman erheblich angegriffen und verunsichert sind. Er partizipiert damit gewissermaßen an der skizzierten melancholischen Grunderfahrung in Raum und Zeit.

Die Auseinandersetzungen um die Kunst des amerikanischen Malers Edward Hopper nehmen den Gedanken der Involvierung des Rezipienten an Prozessen des Ästhetischen in elementarer Weise auf: Neben den raumzeitlich-melancholischen Krisenimplikationen der Bilder, welche die Macht der Dingwelt gegenüber dem Individuum, die räumliche Leere und Ausdehnung und Verstärkung von Gegenwärtigkeit zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht anzeigen, wird die Lenkung des Betrachters zentral: Die Allgegenwart des Fensters (als spannungsreiches Paradox zwischen Öffnung und Grenze) lässt die Figuren im Bild als für den Betrachter inszenierte erscheinen, der als Voyeur in Erscheinung tritt. Zusätzlich forciert die Lichtgestaltung der Kunstwerke die explizite Teilnahme an den Handlungsprozessen innerhalb des Bildes.

Wie das Melacholische auf dieser Basis folgerichtig zu einer umfassenden Selbsterfahrung des Einzelnen im Medium der Kunst wird, zeigt Bünnig am Beispiel der Arbeiten des österreichischen Filmkünstlers Gustav Deutsch: Den rezeptionsorientierten Impetus der Werke Hoppers aufnehmend, versucht sich Deutsch im modellartigen Nachbau einzelner Bilder als eigene Installationen zunächst an einer phänomenologischen Begehbarkeit der Hopper’schen Werke: Die vorangegangenen (zweidimensionalen) Analysen werden so um ein Praxismoment erweitert, wobei über das Spiel mit verschiedenen Perspektiven auf die modellierten Werke die Unsicherheit der Melancholie dreidimensional erfahrbar wird. Im Versuch der Synchronisierung der Perspektiven (als ein scheiternder der Ortlosigkeit und Destabilisierung) provozieren Deutschs Installationen subjektive Erkenntnisschocks, die zu allererst die ästhetischen Effekte von Hoppers Bildern reproduzieren. Gleichzeitig werden die Modelle aber – im Sinne der Krisenbewältigung – zu vitalen Spielräumen, in denen sich das Subjekt über die Einnahme eines individuellen Bildstandpunktes zum handelnden Akteur entwickelt, sich sowohl den erlebten Irritationen bewusst wird und sie über Reflexion und Handlung gleichzeitig überwinden kann. Deutschs Modelle sind damit Seismografen der melancholischen Krise des Subjekts und ihre Handlungsfähigkeit generierenden Überwindungsmöglichkeiten zugleich.

Auch seine filmische Inszenierung Shirley – Visions of Reality (2013) unternimmt den Versuch, das Multidimensionale des ästhetischen Mediums gezielt freizulegen und damit rezeptionsbezogen einen überaus flächigen phänomenologischen Zugang zur Kunst zu ermöglichen. Gegenstand des Films ist die Geschichte der politisch aktiven Schauspielerin Shirley. Ihr Agieren ist dabei konsequent eingebettet in die „zum Leben erweckten“ Bildkulissen und -räumlichkeiten Hoppers, womit seinen Werken eine narrative Tiefendimension verliehen wird. Deutsch radikalisiert die Bildästhetik Hoppers, in dem er gezielt mit der raumzeitlichen Rahmenstruktur des Films bricht, was sich maßgeblich an zeitlichen Leerstellen, unvermittelten Ein- und Ausstiegen der Handlung, unscharfen räumlichen Lokalisierungen oder nicht-eindeutigen Vermischungen von Gesagtem und Gezeigtem offenbart. Verstärkt wird diese melancholische Fragmentierung durch diffuse, undefinierbare und imaginative Geräuschdarstellungen. Gerade im Agieren Shirleys mit dem Publikum (als gezielte Ansprache an den Rezipienten) legt der Film zudem die eigene Illusion, seine künstliche Gemachtheit offen und intensiviert die ohnehin wirkungsvollen Wahrnehmungsstörungen mit Blick auf Figuren und Rezipienten.

Die darüber hinaus von Bünnig in den Fokus genommene Begleitausstellung zum Film löst die dort verwendeten Gegenstände und Kulissen aus dem übergeordneten Zusammenhang heraus und aktiviert damit abermals autonome Potenziale des Rezipienten: Dieser ist gewissermaßen in einer Position produktiver Neu-Assoziation der von Gustav Deutsch verwendeten Dinge und kann sie mit eigens imaginierten Geschichten unterlegen. Irritierend und verunsichernd wirkt dabei die Tatsache der Künstlichkeit und Nicht-Anwendungsfähigkeit einiger Gegenstände, die sich einem pragmatischen Zugang entziehen. Auch in zeitlicher Dimension, die Gleichzeitigkeit suggeriert, aber Linearität realisiert, spielt Deutschs Ausstellung mit Täuschung und Ent-Täuschung und versetzt den Zuschauenden in den vitalen Status eigener Handlungsnotwendigkeit. Er wird gewissermaßen vom Kunstwerk absorbiert und kann sich der Positionierung und dem Verhältnisbezug zum Werk nicht mehr entziehen.

Auf dem Fundament eines ausgereiften theoretischen Zugangs in kritischer Auseinandersetzung mit bisherigen Forschungen liefert Jenny Bünnig einen innovativen Blick auf die Relevanz der Kunst. Ihr umfassender und vieldimensionaler Materialfokus – ergänzt von einer Vielzahl von Bildern und Skizzen zu Gustav Deutschs Arbeiten – ermöglicht eine weite und gleichzeitig nuancierte Betrachtung des Ästhetischen als Reflexionsformat von Krise und Autonomiesicherung des Einzelnen. Die rezeptionsbezogene Involvierung des Subjekts in den Wahrnehmungsraum der Kunst wirkt gleichzeitig bewusstseinsschärfend und handlungsaktivierend und ebnet den Weg für einen selbstbewussten Umgang mit den von Ehrenberg konstatierten Phänomenen der Handlungsunfähigkeit. Dank der Autorin und ihrer pointiert und klar strukturiert dargelegten Analysen, die – bezogen auf den Gegenstand – vielleicht noch umfangreicher hätten ausfallen können, ist der Blick auf die Potenziale des Ästhetischen nochmals geschärft.

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Jenny Bünnig: Melancholische Zeit, melancholischer Raum. Charles Baudelaire – Virginia Woolf – Edward Hopper – Gustav Deutsch.
Ch. A. Bachmann Verlag, Berlin 2017.
288 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783941030961

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