Das Leben der Theorie

Die Neuausgabe von Christa Bürgers Autobiographie ist ein einzigartiges Dokument gelebter Wissenschaftsgeschichte

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Theorie erzählen ist schwieriger als Theorie rekonstruieren“, schreibt Christa Bürger in ihrem Buch, das weniger, zugleich aber auch viel mehr ist als eine klassische Gelehrtenautobiographie. Wer sich für Wissenschafts- und Ideengeschichte interessiert, für die/den ist Bürgers „Weg durch die Literaturwissenschaft“ eine wahre Fundgrube und spannender zu lesen als ein Krimi. Gemeinsam mit ihrem 2017 verstorbenen Mann Peter hat Christa Bürger die methodische, gedankliche, ja weltanschauliche Landschaft der bundesdeutschen Literaturwissenschaft nach 1968 geprägt wie keine andere Germanistin. Das gilt sowohl für ihren institutionssoziologischen Ansatz, mit dem die Bürgers ­– in der Nachfolge der „Kritischen Theorie“ Adornos und Horkheimers – die methodische Reflexion über den eigenen sozialen und ideologischen Standort als zentrale Perspektive einer „kritischen Wissenschaft“ etablierten, wie auch für ihren feministischen Blick auf die Weimarer Klassik ­– Blickwinkel und Fragestellungen, die inzwischen längst zu den kanonischen Methoden und Sichtweisen der modernen Literaturwissenschaft gehören.

Einer ihrer interessantesten, scharfsinnigsten, auch mutigsten Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur bezieht sich auf die besondere Situation deutscher Schriftstellerinnen im frühen 19. Jahrhundert. Ihre Analysen der Werke von Karoline von Günderode, Bettina von Arnim, Rahel Varnhagen, Sophie Mereau, Charlotte von Kalb, Caroline Schlegel-Schelling und Johanna Schopenhauer nehmen dabei den in der sogenannten „Goethe-Zeit“ oder „Weimarer Klassik“ sich ausbildenden und das gesamte 19. Jahrhundert prägenden poetologischen Topos der „Autonomie“ ins Visier. Die spezielle Lebenssituation intellektueller Frauen um 1800, die sich ganz grundsätzlich, gerade auch hinsichtlich ihrer künstlerischen Freiheit, von derjenigen ihrer männlichen Kollegen unterschied, habe dazu geführt, dass die unter dem Banner der „Autonomie“ geforderte Trennung der Kunst vom eigenen Leben für die genannten Autorinnen ganz unmöglich war. Die strikte Trennung von Ästhetik und Lebenspraxis, die laut Bürger u.a. auch zu einer Dichotomisierung der Literatur in eine „hohe“, künstlerisch und intellektuell anspruchsvolle, und eine „populäre“ Literatur führte, drängte schreibende Frauen in die Ecke eines vermeintlich minderwertigen Schreibens, das von Zeitgenossen wie Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller als „Dilettantisme der Weiber“ belächelt wurde. Ausführlich referiert Bürger in diesem Zusammenhang Vorkommnisse und Entwicklungen, die sie unter der griffigen Formel „Goethes Verrat“ zusammenfasst: „Goethes Weg von Frankreich nach Weimar, von Gretchen zu Iphigenie steht für mich, heute, im Zeichen der Entwirklichung“. Gemeint ist Goethes Hinwendung zum Klassizismus unter den „materiellen Bedingungen des höfischen Mäzenatentums“.  

Das Besondere und Innovative an Christa Bürgers literarturhistorischer Korrektur und Umwertung ist nun, dass sie die Lebensumstände der Frauen nicht etwa als Rechtfertigung oder gar als Entschuldigung für die – verglichen mit der Höhenkamm-Literatur eines Goethe, Schiller oder Hölderlin – weniger ausgereiften literarischen Produktionen zeitgenössischer Autorinnen ins Feld führt, sondern dass sie – ganz im Gegenteil – in dem entschiedenen expliziten oder impliziten Einspruch gegen eine Abtrennung des Werks von der eigenen Biographie eine Haltung erkennt, die aus den autobiographischen, fragmentarischen und „formlosen“ Schriften und Briefen der Frauen moderne, avantgardistische Schreibweisen avant la lettre macht. In seiner einschlägigen Studie zur Theorie der Avantgarde von 1974, an der auch Christa Bürger maßgeblichen Anteil hat, erklärt Peter Bürger die klassischen Avantgardebewegungen aus dem Bedürfnis der jungen Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts nach einer Ent-Sakralisierung der Kunst. Futuristen und Dadaisten zerstörten die Kultobjekte der bürgerlichen Kunst und verstanden ihre eigene (Anti-)Kunst als neue Form von Lebenspraxis. Daran knüpft Christa Bürger an, wenn sie die Verweigerung oder auch nur die Unmöglichkeit für Autorinnen des 19. Jahrhunderts, sich dem herrschenden Diskurs der Kunstautonomie unterzuordnen, institutionslogisch als Vorwegnahme poetologischer Positionen der Avantgardebewegungen interpretiert.

Solche Grundüberlegungen leiten nun auch ihre eigene Autobiographie: „Es ist ein langer Weg gewesen von der Ideologiekritik zum Essayismus, erst sehr spät habe ich angefangen, das selbstverständliche grammatische Subjekt der wissenschaftlichen Abhandlungen, die ich schrieb, nach dem wirklichen Ich zu fragen, das sich darin versteckte.“ Angesichts solcher Selbsteinlassungen und Erklärungen zielen die Verrisse des Feuilletons nach der Erstausgabe (Suhrkamp, 2003) wie: Bürgers „zwitterhaftes Buch“ sei eine „seltsame Mischung aus theoretischem Abstand und biographischer Nähe“, bei der offen bleibe, ob sie „ihr denkendes Erinnern oder erinnertes Denken und Fühlen an Weggefährten, Schülerinnen, Wissenschaftshistoriker oder sich selbst adressiert“ (FAZ, 22. Dez. 2003), oder gar, Christa Bürger sei „einer Selbsttäuschung aufgesessen“, denn ihre Autobiographie sei weder von öffentlichem Interesse, noch erfülle sie die gattungstypischen Erwartungen eines „ungeschützten“ subjektiven Schreibens  (SZ, 23. Sept. 2003), völlig an den Intentionen des Buches vorbei. Einzig die ausführliche Rezension ihrer Kollegin Irmela von der Lühe trägt dem „singulären Status“ (in: Tanja A. Kunz (Hg.): Lebensform Kritik, Göttingen 2018) dieser Autobiographie wirklich Rechnung: Die hier vorliegende „singuläre Form autobiografischen und wissenschaftsgeschichtlichen Schreibens“ sei ein „brillanter Durchgang durch die Methodengeschichte des Fachs, wie man ihn […] sonst nirgendwo lesen kann.“

Wenn Christa Bürger ihre persönlichen Erfahrungen als junge Deutschlehrerin an der Bonner Clara-Schumann-Schule, die bis Mitte der 1970er Jahre ein reines Mädchengymnasium war, mit der condition féminine und Simone de Beauvoirs innovativem Ansatz, feministische Theorie als Autobiographie zu erzählen, verbindet oder wenn sie die Idylle des Pariser Hotelzimmers, in dem sie und Peter Bürger sich an französischem Käse und Rotwein erfreuen, während sie gemeinsam ihre Tagesnotizen und Exzerpte durchgehen, oder die ihrer „sehr kleinen, sehr primitiven, ebenerdigen Wohnung“ am Rheinufer schildert, in der man zum Essen den Schreibtisch leerräumen musste, wenn sie von ihren Gesprächen auf den langen Straßenbahnfahrten erzählt, die sie am Rhein entlang und ins Siebengebirge führten, auf denen sie das Glück „einer spontanen Übereinstimmung“ erlebt, aber auch, wenn sie sich eingesteht, dass Freundschaften auch an dieser streng dem Denken und Schreiben gewidmeten Lebensweise gescheitert sind, die für Außenstehende zwar faszinierend, „auf Dauer aber schlechthin unerträglich war“, dann werden die Grenzen zwischen Leben und Werk gleich mehrfach überschritten. Ergreifend ist auch am Ende des Buches der Rückblick auf die Verstrickungen der eigenen Familie im Nationalsozialismus. Die ältere Schwester war eine fanatische Anhängerin der Nazi-Ideologie, der Vater arbeitete am Frankfurter Güterbahnhof und muss, so rechnet Christa Bürger es sich aus, von den Viehwaggons gewusst haben, in denen Juden nach Auschwitz deportiert wurden.

Selbstverständlich kennt die Autorin die Spielregeln, Diskurse, Codes und Tabus wissenschaftlichen so gut wie literarischen und feuilletonistischen Schreibens. Deswegen ist ihr Buch eine ganz bewusste, ja gezielte Grenzüberschreitung, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen überschreitet sie als Literaturwissenschaftlerin und Historikerin des eigenen Fachs „das Verbot, im eigenen Namen zu sprechen“, zum anderen liefert ihre Autobiographie, gegen die Erwartungen des Genres, keine intimen Enthüllungen. Die erzählten Episoden aus ihrem Leben sind stets funktional, ausgewählt im Hinblick auf ihre wissenschaftliche oder fachgeschichtliche Exemplarik. Prägende Begegnungen mit Lehrerinnen und Schuldirektorinnen werden kommentiert durch Überlegungen zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen im jeweiligen zeitgenössischen Kontext. Im Gegenzug werden kritische Einlassungen zur Ideologie der textimmanenten Interpretationsmethode begleitet von Berichten aus ihrer Studienzeit. Dabei zitiert Bürger aus Tagebüchern und Briefen, aus alten Seminararbeiten, aus Aufsätzen ihrer SchülerInnen, aus wissenschaftlichen Werken von ihr und Peter Bürger, aus Zeitungsartikeln und Sitzungsprotokollen.

Beeindruckend an diesen in alle möglichen Richtungen abschweifenden Erinnerungen ist die Präzision, mit der Christa Bürger das Erwachen eines neuen kritischen Bewusstseins in den 1970er Jahren immer wieder auf den Punkt bringt: „Wie die Philosophie aus dem Schatten Heideggers heraustrat, so die Literatur aus dem Schatten Rilkes“. Und sie erzählt, was das konkret bedeutete, welche Rolle beispielsweise Autoren wie Enzensberger oder Peter Schneider bei diesem Umbruch spielten. Dabei fällt auch das eine oder andere kritische Wort. Von der naiven Radikalität, mit der marxistische Autoren damals gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausschütteten, indem sie die Literatur als solche als „historisches Produkt des Spätkapitalismus“ diffamierten, setzt sich die Autorin klar ab. Der „pastorale Unterton“, das „herausfordernde, moralische Überlegenheitsgefühl“ in Parolen wie „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot“, letztlich aber vor allem der „Realitätsverlust“ von führenden Köpfen der Studentenbewegung habe sie damals abgestoßen.

Auf mehreren Seiten wird diesbezüglich auch an das Schicksal von Peter Szondi erinnert. Und es werden die zeitgenössischen, damals ganz neuen bildungspolitischen Diskurse mit ihrem teilweise ausgeprägten anti-intellektualistischen Ressentiment kritisch unter die Lupe genommen. In den heißen Jahren der Protestmärsche, Sit-ins und Streiks an den Universitäten orientiert sie sich an den Vertretern der Kritischen Theorie, an Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas, deren dialektisches Denkmodell sie vor allzu stereotypen politischen Thesen bewahrt: „Es ist mir nicht immer leicht gefallen, gegen das verhängnisvolle Bündnis von linkstechnokratischen Bildungspolitikern und Didaktikern, die nur allzu schnell breit waren, mit dem ,Muff unter den Talaren‘ zugleich die kanonisierten Werke wegzufegen, auf einem dialektischen Begriff der ,affirmativen Kultur‘ (Marcuse) zu bestehen.“

Ähnliches gilt etwas später auch für die ideologisch-methodischen Exzesse im Zuge von Postmoderne und Dekonstruktivismus. Auch hier dominiert bei Bürger eine an Gadamer und Habermas geschulte Skepsis. Spannend, stellenweise fast anrührend sind auch die kleinen Hommagen an Werke heute fast vergessener Literaturwissenschaftler wie Robert Minder, Erich Auerbach oder Werner Krauss, deren früher Einspruch gegen die Dominanz der sogenannten „Geistesgeschichte“ in der Germanistik den ideologiekritischen Ansatz von Christa und Peter Bürger gewissermaßen vorwegnahm.

Abgesehen von einzelnen Stellen, an denen sich unvermittelt der Jargon ihrer gutbürgerlichen Erziehung Gehör verschafft, etwa wenn Bürger Ulrike Meinhof „verstockte Aufsässigkeit“ attestiert, ist auch die Sprache dieses Buches eine streckenweise höchst anspruchsvolle Mischung aus wissenschaftlicher Prosa und persönlichem Statement. Nicht nur stilistisch interessant ist die Verwendung der Personalpronomen. Da ist zum einen die direkte LeserInnen-Anrede, mit der Christa Bürger ihre Leserschaft auf überraschend vertrauliche Art ins Geschehen einbezieht (mit Wendungen wie: „… so unverständlich Ihnen das vorkommen muss“, oder: „Sie lachen, mir war damals nicht ganz danach zumute“), zum anderen das geradezu programmatische, bisweilen vielleicht auch irritierende „wir“, das sich immer wieder über das erzählte „ich“ der Autorin schiebt. Was sich 2020 vielleicht als romantische Hommage an den verstorbenen Lebens- und Weggefährten Peter Bürger missverstehen lässt, ist, wie ein Vergleich mit der noch zu Lebzeiten ihres Mannes publizierten Erstausgabe, die sich – abgesehen von dem dort noch fehlenden Nachwort der Journalistin Dorion Weickmann und stellenweise leicht veränderten Anmerkungen – in nichts von der Neuausgabe unterscheidet, zeigt, jedoch wohl nichts anderes als der grammatikalische Tribut an eine Lebensgemeinschaft, die im deutschsprachigen Raum Ihresgleichen sucht.

Vergleicht man nämlich die Lebensläufe von Philosophinnen oder Germanistikprofessorinnen ihrer und der nachfolgenden Generation mit der ihrer männlichen Kollegen, fällt die große Anzahl von Frauen auf, deren Ehemänner oder Lebensgefährten zwar ebenfalls vom Fach, meist aber um etliche Jahre älter sind. Nicht so bei Christa und Peter Bürger, die ihren „Weg durch die Literaturwissenschaft“ als Gleichaltrige beschreiten. Christa Bürger ist sogar ein Jahr älter als Peter. Parallelen zum „Traumpaar“ der europäischen Intellektuellen-Szene des 20. Jahrhunderts, zu Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, drängen sich (und auch der Autorin selbst) auf, auch wenn Christa Bürger – im Gegensatz zu de Beauvoir – die ihr als intellektuelle Frau zugefügten Kränkungen auf Kongressen (man denke unter anderem an die harsche Kritik an ihrem feministischen Ansatz, die ihr auf dem Germanistentag von 1991 entgegenschlug) oder unfaire Zurücksetzungen in akademischen Berufungsverfahren (hier kam es zu intriganten Interventionen bis auf Minister-Ebene) nur ganz en passant und ohne Nennung von Namen erwähnt. Womöglich verweist das „Wir“ des Erzählens als existenzielle und keineswegs nur rhetorische Figur auch auf den Umstand, dass Frauen als intellektuelle Einzelkämpferinnen im damaligen Kontext gar keine Chance hatten.

Etwas unbeholfen, doch bisweilen durchaus aufschlussreich wirken die von ihr selbst gefertigten, leider nur als kleine Schwarz-Weiß-Illustrationen abgedruckten Collagen aus den 70er und 80er Jahren. So montiert und kontrastiert die Autorin zum Beispiel Photos zur Affäre um die Nazivergangenheit des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger mit Bildern von Demonstrationen gegen den sogenannten „Radikalenerlass“. Oder sie zeigt einen Helmut Schmidt in Denkerpose, umgeben von Polizisten in voller Montur. Mit diesen Collagen inszenierte sie, so Bürger, „einen direkten und polemischen Zugriff auf tagespolitische Vorkommnisse“. Die Collagen dienen der direkten Konfrontation und illustrieren den „Mentalitätswechsel“ dieser Jahre.

Dass ihre Autobiographie auch als (diskreter) Einspruch gegen den Absolutismus des noch von Adorno vertretenen Mimesis-Verdikts zu werten ist, wäre eine weitere Lesart dieses vielschichtigen und in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Buches, in dem Christa Bürger eine Haltung, ein Denken und Schreiben stark macht, das sie mit Blick auf Peter Weiss, Ingeborg Bachmann, Hans Henny Jahn oder Uwe Johnson als „ein Schreiben, das mehr sein will als Literatur“, bezeichnet. Das gilt, freilich unter anderen Vorzeichen, auch für ihre Autobiographie, die mehr und anderes ist als ein persönlicher Lebensbericht. Und wenn Bürger am Ende ihrer Wegbeschreibung gesteht, sie sei erst spät an den Punkt gelangt, an dem der institutionssoziologische Ansatz und das feministische Erkenntnisinteresse endlich Hand in Hand gingen, weil ihr klar geworden sei, dass über den Status von Texten der herrschende Diskurs entscheide, und wenn sie sich dabei explizit auf Virginia Woolf und deren Nachdenken über die Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts bezieht, dann wird die persönliche Dimension ihres „langen Wegs […] von der Literaturwissenschaft bis zum feministischen Essay“ in all ihrer exemplarischen und noch immer hochaktuellen Tragweite überdeutlich. 

Titelbild

Christa Bürger: Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. 1968-1998.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
316 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835335097

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