Paranoia bis zur Groteske
Auf der Folie des Nordirland-Konflikts hat Anna Burn mit „Milchmann“ einen außergewöhnlichen Roman über das Anders-Sein, Parteinahme und soziale Kontrolle bis hin zur Paranoia geschrieben
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Protagonistin von Anna Burns hat keinen Namen und wird nur die „Mittlere Schwester“ genannt, hat wiederum „Kleinere Schwestern“, eine „Große Schwester“ und einen „Vielleicht-Freund“ sowie eine „Älteste Freundin“. Sie hält sich aus den Konflikten und Intrigen ihres Viertels heraus, vergräbt sich – am liebsten im Gehen draußen – in ihre klassischen Romane und versucht nicht weiter aufzufallen. Doch genau das passiert ihr, als sie in das Visier des „Milchmanns“ gerät, der eine große Nummer in der Widerstandsbewegung zu sein scheint und erstaunlich viel über sie und ihre Familie weiß. Er lauert ihr an verschiedenen Stellen auf und ohne das Zutun der „Mittleren Schwester“ entsteht im Viertel das Gerücht, sie hätte eine Affäre mit dem Milchmann: „Bis an die Grenzen der Absurdität und Widersprüchlichkeit denken sich Menschen alles Mögliche aus. Dann glauben sie es und bauen darauf wiederum alles Mögliche auf.“
Aus dieser Ausgangsposition spinnt Anna Burns ein immer engeres Netz aus Gerüchten, Intrigen, Missgunst und zeigt, wie ein Mensch einen sozialen Stempel verpasst bekommt und plötzlich nicht mehr zur ‚Ingroup‘, sondern zur ‚Outgroup‘ gehört. Brisanz bekommt dieser soziale Ausschluss durch die fast eher nebenbei erzählte Bürgerkriegssituation in Nordirland, in der es immer nur eine richtige Seite und striktes Schwarz-Weiß-Denken gibt – denn ungezählt sind die Toten in den Familien, der Hass der „Verweigerer“, die Repression der „Besatzer“. In dieser Gemengelage ist der soziale Ausschluss mit dem Status des Verräters und der Lebensgefahr für sich und die engsten Verwandten und Freunde verbunden.
Anna Burns erzählt ihren Roman ganz aus der Innenperspektive der „Mittleren Schwester“ und schafft eine leicht verfremdete und kafkaeske Atmosphäre. Allerorten führt die Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, zum Schweigen und bringt nur für Insider zu entziffernde Codes hervor. So entsteht eine ausgeprägte Paranoia, die bei genauerem Hinsehen immer groteskere Züge annimmt. Schließlich muss die Ich-Erzählerin für sich feststellen: „[E]rst da erkannte ich, wie sehr ich mich eingeigelt hatte, wie sehr ich mich von diesem Mann [dem Milchmann] in ein sorgfältiges konstruiertes Nichts hatte navigieren lassen.“
Mit sezierendem Blick und literarisch sehr eigenwillig zeigt Anna Burns eine soziale Gemeinschaft und eine Gesellschaft, die sich selbst zersetzen. Es ist ein außergewöhnlicher Roman, der 2018 mit dem Man Booker-Price ausgezeichnet wurde, der aber auch nicht so ganz ohne Schwächen ist. Über die 450 Seiten hinweg wird die Geschichte durch die vielen kleinen redundanten Bewusstseinsströme der Ich-Erzählerin und einige überflüssige Nebenstränge doch etwas langatmig und vermag den Leser nur punktuell zu packen. 100 bis 150 Seiten weniger hätten diesem Roman durchaus gutgetan.
|
||