Den Tod wieder sichtbar machen
Corina Caduff vereint in ihrem Band „Sterben und Tod öffentlich gestalten“ interdisziplinäre Zugänge zum Tod in seiner kulturellen Dimension
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Soziologe Norbert Elias konstatiert 1982 in seinem Essayband Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen in der Begegnung mit dem Tod gesellschaftliche Abwehrtendenzen. Vierzig Jahre später dürfte er sich wohl anders äußern, denn im 21. Jahrhundert sind Sterben und Tod keine klassischen Tabuthemen mehr – dies zeigen verschiedene Künste und Medien, die Corina Caduff in ihrem interdisziplinären Band Sterben und Tod öffentlich gestalten. Neue Praktiken und Diskurse in den Künsten der Gegenwart beleuchtet. Der kulturwissenschaftliche Fokus richtet sich u.a. auf Literatur, Filme, künstlerische Fotografien und Social-Media-Beiträge, die sich mit dem Phänomen Tod im weitesten Sinne befassen.
Caduff versammelt in ihrem Band verschiedene Einzelstudien mit je eigenen Schwerpunkten und wirft Schlaglichter auf die kulturelle Dimension des Todes, die sich in den unterschiedlichen Künsten auf je ihre Weise manifestiert. Ob Poetiken des Todes bei Elfriede Jelinek, Leichnamsdarstellungen in Serien und Literatur oder neue Ausdrucksmöglichkeiten von Trauer im Internet – die Autorin deckt eine enorme Bandbreite ab und beweist, wie facettenreich Sterben und Tod kulturell verhandelt werden.
Dabei bezieht sich die Autorin hauptsächlich auf die Jahre 2010-2020. In diesem Jahrzehnt, so eine wichtige Erkenntnis Caduffs, habe sich der Tod zunehmend aus der Tabu-Zone gelöst, was nicht nur den digitalen Medien geschuldet sei. Bereits die aufschlussreiche Einleitung zeigt, dass der Sterbe- und Todesdiskurs durch Autoren wie Wolfgang Herrndorf, der an einem Glioblastom erkrankt war, im öffentlichen Diskurs angekommen ist. Sein Blog Arbeit und Struktur (2010-2013) gelte „als erster digitaler Sterbebericht“ im deutschsprachigen Raum. Caduff stellt in der zweiten Hälfte der Studie eine Zunahme derartiger Dokumentationen fest, die durch die Möglichkeit, sich in Text- und Videoblogs auszudrücken, begünstigt wird.
Nicht nur Herrndorf, auch andere Prominente haben ihr Sterben gleichsam in Echtzeit dokumentiert, etwa der deutsche Aktionskünstler Christoph Schlingensief oder der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy. Anhand dieser und weiterer Beispiele verfolgt Corina Caduff die These, dass sich im vergangenen Jahrzehnt die sogenannte ‚Autobiographische Sterbeliteratur‘ als neue Gattung etabliert hat. Dezidiert arbeitet die Autorin Gemeinsamkeiten in den Dokumentationen des eigenen Sterbeprozesses heraus.
Den öffentlich-kulturellen Umgang mit Sterben und Tod lediglich nur in einem engen Zeitfenster einer Dekade zu betrachten – wie der Umschlagtext explizit ausweist – greift zu kurz. Umso gelungener sind angesichts der starken Gegenwartsfixierung gewinnbringende Blicke ins 20. Jahrhundert. In Kapitel 5, „Tot geboren“, diskutiert Caduff u.a. die Darstellungsverfahren von Tot- und Fehlgeburten in dem Film Nahe dem Leben (1958) von Ingmar Bergman und in der Erzählung A Swimmer in the Secret Sea von William Kotzwinkle (1975). Auch das von Kornél Mundruczó viel beachtete Filmdrama Pieces of a Woman (USA/Kanada 2020), das im September 2020 Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig feierte, wird angerissen – eine komplexere Analyse gerade dieses aktuellen Films wäre wünschenswert gewesen. Darüber hinaus widmet sich Caduff auch in diesem Zusammenhang den Fotografien toter Babys in Social-Media-Kanälen sowie der mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichneten Graphic Novel Das Licht, das Schatten leert (2019) von Tina Brenneisen, die „ihre Erfahrung als Mutter eines tot geborenen Sohnes, Lasse, zur Darstellung bringt.“ Dank der multimedialen Perspektivierung des Bandes ergänzen 89 (!) Abbildungen den Text.
Dies gilt gleichzeitig auch für die Darstellung von Leichnamen. In Kapitel 4, „Der Leichnam in Film, Literatur und Kunst“, skizziert Caduff nicht nur fiktive Leichname, wie sie z.B. allen voran in der US-amerikanischen Serie Six Feet Under (2001-2005) in Szene gesetzt werden, sondern befasst sich überdies mit Totenfotografien des 20. Jahrhunderts, in der geliebte Verstorbene gezeigt werden. Erwähnung finden auch Leichnamsfotografien. „Eine solch direkte künstlerische Konfrontation mit toten Körpern erscheint als radikale Grenzform.“ Auch hier wird nicht mit (teils durchaus verstörenden) Abbildungen gespart.
In Kapitel 7, „Bestattungspraxis: Figurationen im Wandel“, diskutiert Caduff neue, von der Kirche losgelöste Bestattungsrituale. So werden für Trauer neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, insbesondere im Internet. Im Netz werden nicht nur digitale Friedhöfe angelegt, vielmehr fällt es den Trauernden im virtuellen Raum auch leichter, andere Menschen mit vergleichbaren Verlusterfahrungen kennenzulernen und in Foren miteinander ins Gespräch zu kommen. Kurios wirkt die 2010 etablierte Website Stayalive. Die dahinterstehende Firma warb damit, „sich schon zu Lebzeiten das eigene digitale Grab zu schaufeln und dieses auch zu bezahlen – in der Gewissheit, dass die Grabstätte dann nach dem Tod aufgeschaltet werde.“
Die gesammelten Einzelstudien, die Berücksichtigung verschiedener Künste und Medien sowie die exemplarisch skizzierten Romane, Erzählungen und Filme, die sich mit Sterben und Tod befassen, sind ausgesprochen informativ. Die Einzelanalysen – beispielsweise zu exemplarisch ausgewählten Kunstwerken – fallen verhältnismäßig kurz aus, um möglichst viele Beispiele aufzugreifen und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Dies schadet dem Erkenntnisgehalt des Bandes jedoch nicht. Zum einen zeigen die gründlichen Beobachtungen der Autorin, dass Sterben und Tod angesichts der öffentlichen Wahrnehmung und Gestaltung einen offensichtlichen Enttabuisierungsprozess durchlaufen. Zum anderen trägt Caduffs Band – nach dem 2013 veröffentlichten Essay-Band Szenen des Sterbens – wiederum zu diesem Prozess bei, indem die Phänomene im akademischen Kontext ebenfalls aus der Tabu-Zone herausgeholt werden. Dank der interdisziplinären und multimedialen Ausrichtung bietet Caduffs Band eine ergiebige Anschlussmöglichkeit für weiterführende Überlegungen in Literatur-, Film-, Kultur- und Medienwissenschaften.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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