Ein italienisches Leben

Andrea Camilleri berichtet in „Brief an Matilda“ von sich und seiner Zeit

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland wurde Andrea Camilleri erst spät bekannt. Der italienische Schriftsteller, der im vergangenen Jahr im Alter von 93 Jahren verstarb, publizierte 1994 seinen ersten Kriminalroman. Die Fälle des Kommissars Salvo Montalbano fanden international Beachtung und eine interessierte Leserschaft. Der bereits erblindete Camilleri veröffentlichte 2018 einen autobiografisch kolorierten Prosatext, an seine Urenkelin adressiert. Er berichtet von seinem nicht immer einfach verlaufenden Leben in wechselvollen Zeiten – auch im Wissen darum, dass die kleine Matilda das Buch erst zu einem Zeitpunkt lesen und verstehen wird, wenn sie ihrem Uropa nur noch in ihren Erinnerungen begegnen kann.

Camilleri hält Rückschau auf sein Leben, unsentimental, aber gelegentlich auch ein wenig nostalgisch, mitunter dezidiert politisch. Matilda fungiert als Stellvertreterin für ihre Generation. Zunächst erzählt Andrea Camilleri von der Kindheit in Sizilien: „Stell dir vor, die Kinder der Bauern trugen ihre Schuhe auf dem Schulweg um den Hals gebunden, um sie nicht abzunutzen, und zogen sie erst an, wenn sie das Klassenzimmer betraten.“ Die Armut war allgegenwärtig. Er wuchs in der Zeit des Faschismus auf. Camilleri berichtet über den Treueeid, den Mussolini forderte und den kaum ein Italiener verweigerte. In der Schule sprachen alle das Bekenntnis zum Duce bereitwillig mit.

Andrea Camilleri schloss sehr früh Freundschaft mit Büchern, fand Gefallen an Joseph Conrad, Herman Melville und Georges Simenon. Im Alter von zehn Jahren sei er ein „glühender Faschist“ gewesen. Er schrieb an Mussolini, dass er sich freiwillig zum Einsatz in Abessinien melden wolle: „Zu meiner Freude und Verwunderung erhielt ich einen Antwortbrief, in dem er mir erklärte, dafür sei ich noch zu jung.“ Allmählich distanzierte sich Camilleri von seiner kindlichen Begeisterung für das Regime, bemerkte, dass die Großmütter weinten, wenn vom Krieg gesprochen wurde, und stellte verwundert fest, dass 1938 die jüdischen Kinder nicht mehr dieselbe Schule besuchen durften wie er. Dankbar erinnert er sich an die Worte seines Vaters, der die rassistische Ideologie erkannt hatte, ohne gänzlich mit dem Faschismus zu brechen. Die Verfolgung der Juden kritisierte er scharf dem Sohn gegenüber. Später bezeugte Camilleri eine Rede Baldur von Schirachs über dessen nationalsozialistische Vision von Europa. Er war entsetzt. Der Vater verlor den Glauben an den Duce und seine Getreuen, der Sohn kehrte sich ab vom religiösen Glauben.

Nach der Schule und dem Kriegsende sammelte Andrea Camilleri erste Erfahrungen mit dem Theater. Über Dottore Costa schreibt er, er sei „mein einziger Lehrer, nicht nur in Regie, sondern auch im Leben“ gewesen. Costa war ein strenger Lehrmeister, „hochgebildet, aber kalt wie ein Stück Eis“. Camilleri erhielt die Bestnote: „Am Ende des Jahres gab Costa mir eine Zehn in Regie, diese Note hatte er noch nie zuvor vergeben. Doch wenige Monate später wurde ich wegen unmoralischen Verhaltens von der Akademie geworfen – man hatte mich beim Liebesakt mit einer Studentin erwischt. Orazio, ein Mann von strengster Moral, nahm mich trotzdem als Regieassistent in seine Theatertruppe auf.“ Camilleri lernt Rom kennen und lieben. In Frauen verliebte er sich schnell, für immer dann in Rosetta, die – knapp und etwas feierlich formuliert – „mein Leben für immer verändern sollte“. Camilleri reiste nach Sizilien zur Familie, blieb aber in Gedanken immerfort bei Rosetta: „Ich war selbst sehr überrascht. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, warum, aber eins war nicht zu leugnen: Jeden Abend stand mir, bevor ich einschlief, ihr lächelndes Bild vor Augen.“ Nach der Rückkehr lud er Rosetta zum Essen ein. Sie stimmte sofort zu. Dass ein einziges Abendessen nicht genügen würde, wussten beide vom ersten Abend an. 

Camilleri erzählt von seinen Vorstellungen über Theaterregie. Ihm behagten weder „extravagante Regieeinfälle“ noch „künstliche Feuerwerke“. Entscheidend sei die „kritische Lektüre“ des Textes, um „begründete Ideen“ zu entwickeln. Er war bestrebt, genau dies seinen Studenten zu vermitteln:

Aus meinem Unterricht sollten keine braven Schüler hervorgehen, die sich meiner Sichtweise auf das Theater sklavisch anpassten, sondern autonome Persönlichkeiten. Höchstens versuchte ich im Verlauf ihres Studiums, ihren Ideen ein paar Kratzer zu verpassen, um zu prüfen, wie widerstandsfähig sie waren, aber ich war bereit, mich sofort zurückzuziehen und ihnen mein ganzes Wissen, meine ganze Erfahrung zur Verfügung zu stellen, damit ihre Konzepte sich vervollkommneten.

Mit seiner Familie, mit den drei Töchtern, habe er zu wenig Zeit verbracht, aber ein „guter Großvater“ sei er doch gewesen. Enkel und Urenkel spielten in seinem Arbeitszimmer, er ließ sich – mittlerweile vor allem schriftstellerisch tätig – sehr gern stören: „Du kannst dir also vorstellen, liebe Matilda, wie glücklich ich war, als ich erfuhr, dass auch du unter meinem Schreibtisch angekommen warst.“

Andrea Camilleri berichtet auch von italienischer und europäischer Politik, empört sich über die Verflechtungen einzelner Politiker mit der Ökonomie. Mehr noch erzürnt ist er über die Angstmacher, die einem neuen Nationalismus zu huldigen scheinen und die Not der Mitmenschen verkennen, ja die Armen verhöhnen, die nichts mehr als ein Obdach und ein neues Zuhause suchen. Trotz mancher düsteren Betrachtungen bekräftigt Camilleri, er sei kein Pessimist, im Gegenteil: „Ich glaube an die Menschheit, ich habe Vertrauen in sie.“ Er erinnert sich an einen Philosophen, auch wenn ihm dessen Name entfallen ist. Dieser habe gesagt, der „Held von heute“ sei ein „gewöhnlicher Mensch, der weiß, dass die Niederlage hinter der nächsten Ecke lauern kann, der aber im vollen Bewusstsein dieser Tatsache weiter voranschreitet“. Auf Ratschläge möchte er verzichten, auch wenn er darauf hofft – eher in allgemeiner Weise appellierend –, dass die jungen Menschen heute der „Politik ihre verlorene Moral“ zurückgeben könnten. Zugleich schreibt er: „Es ist nicht an mir, dir zu raten, was du aus deinem Leben machen sollst. Wie man sein Leben führen soll, lernt man nur, indem man es lebt.“ Das sentenziöse Moment ist am Ende des Buches gegenwärtig, aber es wirkt wie eine schale Spruchweisheit.

Andrea Camilleri erzählt anschaulich und präzise von seinem Leben, sehr schön, wenn er einfach von seiner Liebe zu Rosetta, von der Familie oder von Studenten spricht, unausweichlich aber gutgemeint sind die abschließenden Einsichten, die er präsentiert. Sein kurzer Brief an die Urenkelin Matilda hätte besonders zum Schluss hin vielleicht etwas kürzer sein dürfen. Das mindert aber nicht das redliche Bemühen des alten Schriftstellers, über sich selbst und seine Erfahrungen in bester Absicht Auskunft zu geben – und am Ende zu schreiben: „Und jetzt erzähl mir von dir.“ Vielleicht ist dieses letzte Wort an Matilda eine generationsübergreifende Bitte, ein aufrichtiger Wunsch: Wenn wir uns voneinander erzählen, werden wir einander immer besser verstehen lernen.

Titelbild

Andrea Camilleri: Brief an Matilda. Ein italienisches Leben.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Kindler Verlag, Reinbek 2020.
128 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783463000022

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