Eine dieser tausend Nächte
In seinem neuen Roman „Königskinder“ erinnert Alex Capus uns daran, was es eigentlich bedeutet, eine Geschichte zu erzählen
Von Anna-Zoe Mauel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Abend, wie er miserabler nicht sein könnte — eingeschneit auf einem Pass in den Schweizer Bergen, ohne Aussicht auf sofortige Rettung und ohne Verpflegung stellt ein Paar sich die nun einzig relevante Frage: Wie die Zeit überbrücken? Schnell kommen die beiden auf den Zeitvertreib schlechthin zu sprechen, das Lesen und das Vorlesen. An diesem Vorschlag gibt es jedoch einen Haken, denn ohne Buch kann auch nichts vorgelesen werden. Da bleibt nur eine Lösung.
Und auf einmal wird eine ganze Welt aus dem Nichts geboren. Ob die Geschichte, die Max seiner Frau in dieser Nacht erzählt, wahr ist oder erdacht, sei dahingestellt. Was aber stimmt, ist, dass das Erzählte greifbarer wird als alles andere, greifbarer als die Situation des eingeschneiten Paares und greifbarer auch als die Realität des Lesers selbst. Capus entführt uns ins Reich einer Geschichte und damit ins Reich aller möglichen Geschichten, denn der Leser wird immer wieder konkret dazu aufgefordert, sich Dinge vorzustellen, die Geschichte für sich selbst weiterzuspinnen, wenn man so will. Es ist die Kunst — nicht nur das Erzählen, sondern übrigens auch die Musik —, die hier als die große Zauberin dargestellt wird.
Jakob, der Held der Geschichte in der Geschichte, anfangs ein einfacher Knecht und Bergbewohner zur Zeit der Französischen Revolution, ist ein ewig Reisender. Gleichzeitig jedoch ist er auch ein Wartender. Auf was er wartet, muss wohl kaum gesagt werden: auf seine Liebste.
Der Autor von Léon und Louise arbeitet mit ganz klassischen Situationen der Literatur; doch genau diese Erwartungen an einen typischen Handlungsverlauf macht er sich zunutze und spielt mit ihnen, indem er offensichtliche Entwicklungen vorwegnimmt und an geeigneter Stelle unerwartete Pointen einfügt. Gerade die besondere Erzählsituation der Geschichte in der Geschichte ist es, die ein oftmals überraschendes Licht auf das Geschehen wirft. Es ist unterhaltsam zu lesen, wie das Paar sich zwischendurch immer wieder über die Geschichte Jakobs austauscht und Max’ Frau Tina ihren Mann aus der Reserve zu locken versucht. Tina bildet den Gegenpol zum Erzähler, ist nicht sparsam mit kritischen und humorvollen Einwürfen und bewahrt die Geschichte so oftmals vor einem Abrutschen ins Klischeehafte. Überhaupt liegt über der gesamten Erzählung eine alle Ebenen durchdringende Heiterkeit — das Gefühl, dass alles irgendwie gut gehen wird. Dieses Gefühl wird am Ende des Romans versinnbildlicht, indem das Anfangsmotiv wiederaufgegriffen wird. Was sagt uns das? Es ist doch alles nicht so schlimm, die Welt dreht sich trotzdem weiter.
Abseits des heiteren Tons wird zuweilen auch ein ganz anderer angeschlagen. Die Anspielung auf Tausendundeine Nacht ist ziemlich direkt, denn erzählt wird hier gegen die Nacht, gegen die Kälte, vielleicht sogar gegen den Tod: „Und dann diese Stille, wenn du nicht mehr erzählst. Als ob die Dunkelheit nicht schon genug wäre. Schwarze Nacht und Grabesstille, das ist wie tot sein.“
Gerade solche Momente der Reflexion kommen etwas zu kurz. An manchen Stellen wünscht man sich als Leser, es möge weniger schnell gehen, denn man liest ja gerne, lässt sich gerne eine Geschichte erzählen.
Alex Capus ist ein beeindruckend souveräner Erzähler — trotz der zuweilen etwas plump daherkommenden Anspielungen auf Rousseau und den Naturzustand, trotz der teilweise überladenen Formulierungen über die Verliebtheit („[S]ie verstehen den Sinn des Lebens und die Wellennatur der Materie, sie erfassen Anfang und Ende aller Zeiten“). Man kann sich jedoch sehr gut vorstellen, dass der Autor solche Stellen mit einem zwinkernden Auge konzipiert hat, denn was auf diese Weise bestehen bleibt, ist der heitere Grundton.
Die Frage, die der Roman unterschwellig stellt, könnte vielleicht lauten: Was spielt sich abseits des Weltgeschehens ab? Welche sind die kleinen und doch so großen Geschichten, die nicht erzählt wurden und die dennoch erzählenswert sind? Gezeigt wird, dass es auch abseits der Revolutionsereignisse noch Leben gibt. So werden ein Hirte und ein Bauernmädchen zu Königskindern. Es geht hier einmal „nicht um Meinungen“, „sondern um die Geschichte“, wie der Erzähler selbst betont. Und gerade das ist das Schöne an diesem Roman und eine willkommene Abwechslung.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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