In eines Menschen Herz
Alba de Céspedes Tagebuch-Roman „Das verbotene Notizbuch“ liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnders als ihre berühmten, ebenfalls im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geborenen Schriftstellerkolleginnen Elsa Morante und Natalia Ginzburg ist Alba de Céspedes, als Tochter eines kubanischen Diplomaten und seiner italienischen Frau 1911 in Rom geboren, dem deutschsprachigen Lesepublikum kaum bekannt. Ihr bereits 1952 mit dem italienischen Titel Quaderno proibito erschienener Roman wurde nun in einer glänzenden Übersetzung von Verena von Koskull zum ersten Mal ins Deutsche übertragen – und man fragt sich, wie ein solch atemberaubender, gleichsam poetischer Text so lange im Archiv überdauern konnte, ohne dass ein Verlag auf ihn aufmerksam geworden ist. Denn der Text ist sowohl eine Synthese als auch Wiederaufnahme der für die Autorin und ihre Werke schon vor dem Zweiten Weltkrieg relevanten Themen wie die soziale Stellung der Frau, gesellschaftliche Spannungen und Verwerfungen in krisenhaften Umbruchszeiten.
Von den italienischen Faschisten wurde de Céspedes aufgrund ihrer selbstbewussten Protagonistinnen geächtet. Im Mittelpunkt von Das verbotene Notizbuch steht wiederum eine Frau, Valeria, die aber zunächst alles andere als eigenbestimmt wirkt, sondern vielmehr den Prototyp eines Frauenlebens in den fünfziger Jahren darstellt. Geboren nicht lange nach der Jahrhundertwende heiratet sie 1928 ihren Mann Michele und hat mit ihm zwei Kinder, Riccardo und Mirella. Alles andere als selbstverständlich hingegen ist, dass Valeria in einem Büro als Sekretärin arbeitet, wozu Frauen auch in Italien noch bis weit in die 1960er Jahre hinein eine ‚Genehmigung‘ des Ehemanns benötigten.
Im Ehe- und Familienleben von Valeria bilden sich zum einen die aus heutiger Sicht rückwärtsgewandten, restaurativen sozialen (Geschlechter-)Verhältnisse im Italien nach dem Zweiten Weltkrieg ab, zum anderen aber ist ihre Familie auch Beispiel eines durchaus liberalen Aufbruchs aus angestaubten Familien- und Geschlechterkonzepten. Über den 2016 in Paris gestorbenen französischen Regisseur Jaques Rivette, der bekannt war für seine teils langen, handlungsarmen, gleichzeitig aber auch atemberaubenden und betörenden Filme, hat man einmal gesagt, dass er zeige, was passiert, wenn nichts passiert. So ähnlich verhält es sich auch mit der Handlung in diesem Roman: Äußerlich geschieht im Grunde nichts und wenn, dann nur Alltägliches, was den Text auch in die inhaltliche – weniger ästhetische – Nähe des literarischen und filmischen italienischen Neorealismus rückt.
Der gesamte Roman ist eine Introspektion der Hauptfigur Valeria, eine Bestandaufnahme innerer Vorgänge, Regungen und Verhältnisse, in denen sich freilich die Außenwelt und ihre Ereignisse (und umgekehrt) spiegeln. Dass dies gelingt, den Leser überzeugt und auch immer mehr in seinen Bann zieht, liegt an einem formalen Kunstgriff, den die Autorin anwendet: Sie bedient sich der traditionsreichen Gattung des fiktiven Tagebuchs, das Subjektivität und Authentizität suggeriert – und auf das der Titel des Romans ganz konkret anspielt.
Ihre Tagebuchaufzeichnungen beginnt Valeria am 26. November 1950 und sie enden am 27. Mai 1951. Verboten ist das Notizbuch, das Valeria zum Tagebuch wird, in doppelter Hinsicht: Der Kauf des Notizbuches findet an einem Sonntag statt, als ihr Mann Valeria zum Zigaretten holen geschickt hat. Am Kiosk im Italien der fünfziger Jahre war aber eigentlich nur der Verkauf von Tabakwaren erlaubt und nur durch eindringliches Zureden kann Valeria den Verkäufer überzeugen, ihr mit den Zigaretten auch das (verbotene) Notizbuch zu verkaufen. Schon die Besitznahme der Schreib- und Reflexionsgrundlage, das Notizbuch, beginnt also mit einem Regelbruch. Fast wie in einer klassischen Novelle wird aus dieser einmaligen Handlung und Übertretung von Konventionen ein Wendepunkt, der aber für die Außenwelt und auch für Valerias Familie verborgen bleibt. Das Tagebuch und das Aufschreiben ihres Alltags und ihrer Gefühle, ihrer Sehnsüchte und Bewertungen werden Valerias wohlbehütetes Geheimnis und individueller Rückzugsraum.
Gleichzeitig kreisen ihre Gedanken aber auch immer sowohl um die Gefahr, von der Familie entdeckt und entlarvt zu werden, als auch darum, dass diese intime Selbstaussprache vielleicht doch nicht jene Gewissheit und Orientierung schafft, die sich Valeria davon erhofft hat:
Diese Heftseiten machen mir Angst: All meine Gefühle, so gänzlich ausgeweidet, verfaulen und verwandeln sich in Gift, und je mehr ich versuche, Richterin zu sein, macht mein Gewissen mich zur Täterin.
Für den Kommunikationsstatus des Textes und auch seine formale Anlage ist entscheidend, dass das Notizheft sowohl Gegenstand der Erzählung als auch überhaupt erst die Möglichkeit des Erzählens ist, was die Lektüre ausgesprochen spannungsreich macht, weil es der Autorin gelingt, diese Unmittelbarkeit des Mediums sprachlich plausibel zu gestalten. Immer wieder und deutlicher nimmt Valeria einen Bruch wahr zwischen ihrer äußeren Rolle und innerer Befindlichkeit: „Obwohl unser Innenleben uns allen das Teuerste ist, müssen wir ständig so tun, als seien wir uns seiner kaum bewusst, als lebten wir es mit fühlloser Standfestigkeit.“
Dabei ist Valeria aber keine Wiedergängerin von Emma Bovary, Effi Briest oder Anna Karenina. Das Thema versäumter erotischer oder leidenschaftlicher Gelegenheiten oder gar Ehebruch spielt keine Rolle, wohingegen Phänomene der Langeweile und des Abstumpfens, der Routine und gesellschaftlichen Konventionen natürlich die in die fünfziger Jahre transferierten Parallelen darstellen.
Das Tagebuch sammelt auch und gerade das Flüchtige, Momenthafte und schafft für Valeria eine Wirklichkeit neben dem Alltag, denn was aufgeschrieben ist, beansprucht eine eigene Realität. Ihre innere Suche nach Glück und Erfüllung jenseits vorgegebener Muster von Ehe, Kindern und Familienleben ist indessen keine plötzliche Erkenntnis, sondern vollzieht sich als Prozess während des Tagebuchschreibens. Und auch hier wird die von der Form des Tagebuchs eigentlich vorgegebene Authentizität dekonstruiert: Wenn Valeria über die Gründe für das Auseinanderleben mit ihrem Mann räsoniert, kommt sie ebenso wenig zu einem befriedigenden oder endgültigen Schluss wie bei der kritischen Bestandsaufnahme des komplexen Verhältnisses zu ihrer Mutter: „Vielleicht ist es das, was uns seit Jahren daran hindert, so zu sein wie als Frischverheiratete oder wie zu der Zeit, als die Kinder noch klein waren und nichts mitbekamen: Es ist die Gegenwart der Kinder jenseits der Wand.“ Auch wenn der Mensch mit sich alleine ist, ist er eben nicht immer in der Lage, sich mit sich selbst bekannt zu machen.
Gerade die Mutterfigur erweitert das hier abgebildete Spektrum von Frauenrollen, insofern sie mit den Bestrebungen der Tochter Valeria nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit wenig anfangen kann, gleichzeitig aber auch durch ihre Privilegien einer sozial gehobenen Herkunft und Stellung auch nicht die Niederungen von Valerias Familien- und Eheleben kennt. Im Verhältnis zu ihrer Mutter einerseits und zu ihrer Tochter Mirella andererseits spiegelt sich sozialgeschichtlich betrachtet die ganze Tragik und auch Lähmung der italienischen Gesellschaft in den frühen Nachkriegsjahren zwischen Restauration und Aufbruch. An der verletzlichsten, nämlich der Gelenk- und Scharnierstelle findet sich Valeria wieder und analysiert hellsichtig und resignativ ihre Position:
Die eine ist mit der alten Zeit untergegangen, die andere ist daraus geboren. In mir prallen diese beiden Welten aufeinander, lassen mich aufstöhnen. Vielleicht fühlte ich mich deshalb oft, als hätte ich keinerlei festen Bestand. Vielleicht bin ich nur dieser Übergang, dieser Zusammenprall.
Die Erstübersetzung von de Céspedes Das verbotene Notizbuch ist eine Neu- und Wiederentdeckung, die dem Leser bisweilen aufgrund der Schonungslosigkeit, mit der die Protagonistin ihre Lebensverhältnisse seziert, den Atem raubt. Am Ende des Romans, so scheint es jedenfalls, ist die Angst vor dem eigenen Inneren größer als die Bereitschaft zum Aufbruch. In jedem Fall aber spiegelt sich in der angekündigten Vernichtung des Notizbuches die Zerrissenheit einer Frau, die zwischen Pflichterfüllung und verdrängten Sehnsüchten sich selbst und auch ihre Lebenszeit verloren hat:
Jetzt frage ich mich, wo ich am ehrlichsten war, ob auf diesen Seiten oder in den Dingen, die ich getan habe und die ein Bild von mir hinterlassen wie ein hübsches Porträt. Ich weiß es nicht, niemand wird es je wissen. Ich spüre, wie ich verdorre, meine Arme sind Äste eines vertrockneten Baumes. Dies wird die letzte Seite sein: Die folgenden werde ich nicht mehr beschreiben, und meine künftigen Tage werden sein wie sie, weiß, glatt und kalt.
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