Empört euch nicht nur!

Noam Chomsky fordert in „Rebellion oder Untergang!“ einen umfassenden zivilgesellschaftlichen Aktivismus, hinkt der Gesellschaft dabei aber selbst etwas hinterher.

Von Timo KrstinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Krstin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was würden die wohl heute sagen? Das war so eine in den Trump-Jahren beliebte Floskel, meist Auftakt zu wehmütigen Gesprächen über diese Art öffentlicher Intellektueller, die noch wussten, wie man sich einmischt. Eben diese studierten Philosoph:innen und (meistens) linke Aktivist:innen aus einer irgendwie besseren Vergangenheit, von denen man zu gerne gewusst hätte, was sie zu den aktuellen Verhältnissen sagen würden.

Leider erübrigt sich die Frage in den meisten Fällen. Mit wenigen Ausnahmen sind sie verstummt oder ins alterskonservative Geschwurbel abgedriftet – man muss nur Slavoj Žižek nennen. Eine wichtige Ausnahme heißt natürlich: Noam Chomsky. Obwohl einer der ältesten unter den alten Intellektuellen, hat er nie aufgehört, sich zu äußern, und ist trotzdem noch nicht in den Widersprüchen zwischen alter Theorie und neuer Welt verloren gegangen. Bis heute kommen aus seiner Schreibstube in regelmäßigen Abständen Beiträge zu aktuellen Debatten, die sich durchaus auf der Höhe der Zeit bewegen. Was von Chomsky noch gefehlt hat, waren seine Gedanken zur Klimabewegung im ausgehenden Trumpismus. Der Westend Verlag liefert sie jetzt unter dem Titel Rebellion oder Untergang! nach. Und die Frage in Bezug auf Chomsky lautet natürlich: Hat er uns heute noch was zu sagen?

Man muss das mit einem klaren Ja – und einem noch entschiedeneren Nein beantworten. Sein kurzes Büchlein besteht aus dem Aufsatz Die zweifache Bedrohung und aus vier im Verhältnis wesentlich längeren Gesprächen und Interviews. Die zweifache Bedrohung wird ergänzt durch ein paar Gedanken zur trumpschen Abwahl unter dem Titel Die dritte Gefahr. Wie die „zweifache“ Bedrohung schon sagt, kreisen die Texte im Wesentlichen um zwei Themen, von denen das eine mit seiner beinahe überkommenden Gestrigkeit und das andere mit seiner am Trend entlang schlitternden Aktualität überrascht. Beides hätte man so vom weisen alten Mann, der sich noch einmal ins Geschehen einbringen will, eher nicht erwartet – und genau darum zeichnet es Chomsky als den weisesten der alten Männer aus: er hält unbeirrbar an seinen Themen fest und integriert ohne jede Altherren-Widerborstigkeit das Neue.

Im konkreten Fall gelingt es ihm, sein Urthema, die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs, mit den Sorgen und Anliegen der Klimabewegung zu verbinden. Beides hat das Potential wenn nicht zur Welt- dann doch zur Menschheitsvernichtung und darum – das ist die alte und immer wiederkehrende Chomsky-Dialektik – Potenzial zur echten Rebellion. „Die zweifache Bedrohung“ zeigt an ein paar historischen Wegmarken, wie sich aus dem Kampf gegen die atomare Selbstzerstörung fast organisch ein Bewusstsein herausgebildet hat, das heute auch die Klimabewegung antreibt: „Auch wenn das damals noch keiner wusste“, schreibt Chomsky über den Schock der Hiroshima-Bombe, „begann zur selben Zeit […] eine neue geologische Epoche, die später als Anthropozän bezeichnet wurde.“ Antiatom- und Klimabewegung sind Geschwister im Geiste, Greta Thunberg das Alterego des alternden Aktivisten – und Aktivismus alterslos.

Es ist Chomskys Verdienst, dass er den Kampf gegen die atomare Vernichtung von seinem 80er-Jahre Muff befreit und ins Vokabular moderner Klimakivisti:nnen übersetzt, ohne deren Engagement zu schmälern oder gar in Frage zu stellen. Damit öffnet er für die jüngste Generation den Blick auf einen Konflikt, dessen Ursprung soweit zurückliegt, dass er manchmal nur noch als Hintergrundrauschen wahrgenommen wird. Der aber brandaktuell sein sollte. Spätestens seit dem US-amerikanischen Ausstieg aus den Abkommen mit Russland und Iran. „Wenn man bedenkt, was hier auf dem Spiel steht, kann man sich durchaus fragen, ob es jemals zuvor in der menschlichen Geschichte eine gefährlichere Organisation gegeben hat als die heutige Republikanische Partei.“ Was natürlich für ihre Verbündeten in Europa, von SVP bis AFD, genauso gilt: Klimawandelleugner:innen nehmen das Ende der Menschheit in Kauf, so wie es früher die Atomkrieger getan haben – beide sind Verbrecher, beide arbeiten am Weltuntergang.

Dabei beweist Chomsky, dass die Untergangsmetapher nicht zwangsläufig in Verschwörungsmythen münden muss, sondern Kristallisationspunkt einer aufständischen Politik sein kann. Was es dafür braucht, davon handeln die vier den Aufsätzen beigestellte Gespräche. Leider geht die Westend-Ausgabe bei der Edition der Gespräche geradezu schludrig vor. Im Buch sind keine Informationen zu den Gesprächspartner:innen enthalten. Man muss sie sich mühsam selbst zusammensuchen. Was problematisch ist, weil sich darunter zum Beispiel die beiden Aktivist:innen Wallace Shawn und Michael Schiffmann befinden, die eine sehr explizite und besonders in Schiffmanns Fall antiamerikanistische Agenda verfolgen. Andere Gesprächspartner:innen müssen sich selbst vorstellen oder bleiben gänzlich anonym. Im Kampf mit einem Gegner, der Lügen und Halbwahrheiten zur politischen Waffe macht, sollte mit wichtigen Fakten genauer umgegangen werden.

Davon abgesehen bringen die Gespräche Chomskys bekannte Lösungsansätze einmal mehr und recht ansprechend auf den Punkt: Aktivismus, Aktivismus – und ausreichend Misstrauen gegen Staat und Konzerne. „Es wäre illusorisch, zu erwarten, dass staatliche oder private Systeme organisierter Macht angemessene Schritte zur Bekämpfung dieser Krisen unternehmen – zumindest, solange sie nicht durch eine permanente und engagierte Mobilisierung und Aktivität der Bevölkerung dazu gezwungen werden.“ Chomskys Einstellung zum Staat ist eine anarchistische. Der Staat als institutionalisierte Macht – Gleiches gilt natürlich für Facebook und andere mächtige Player – hat kein Interesse, uns zu retten, weil seine Perspektive nicht über den aktuellen Machterhalt hinausgehen kann. Wunderbar vorgeführt von Trump und seinen Anhängern, die zum Machterhalt sogar noch die institutionelle Basis ihrer eigenen Macht zerstören, das Kapitol.

Die Zukunft als Kampf gegen den Untergang gehört dagegen den echten Aktivist:innen. Was sie als Anarchist:innen vom rechten Mob unterscheidet, ist ihre Perspektive: nicht Machterhalt für den Führer, sondern Erhalt von Welt und Umwelt für alle. Damit ist in der bekannten Chomsky-Klarheit die Trennlinie zwischen Links und Rechts (die gerne selbstapologetisch von rechter Seite verwischt wird) als Frontlinie gezogen und die linke Seite wieder frei, alle – das heißt wirklich alle – Mittel anzuwenden. Rebellion oder Untergang eben. Dass der daraus folgende Aufruf zur Rebellion trotzdem sehr differenziert und fast milde ausfällt, ist Chomskys Erfahrung mit unvergleichlichen 70 Jahren Politaktivismus geschuldet. „Ich bin der Meinung, dass ziviler Ungehorsam eine legitime Taktik ist, aber die Art und Weise, wie er durchgeführt wird, ist meiner Ansicht nach oft nicht legitim.“ Trotzdem: wer jetzt denkt, Chomsky distanziere sich altersweise doch noch von aktivistischer Gewalt, täuscht sich. Chomsky distanziert sich mit seiner Definition vom Aktivismus der eigenen Klasse, die Aktivismus zu oft als „eine Art Zurschaustellung der eigenen Rechtschaffenheit praktiziert.“ Und damit nichts erreicht.

Sein Beispiel ist auch heute noch interessant: am MIT, wo er in den 70er-Jahren Professor war, sollte ein Labor eingerichtet werden, in dem theoretisch auch neue Waffen entwickelt werden konnten. ‚Die linksliberale Haltung war: das wollen wir auf unserem Campus nicht haben, also müssen wir es rauswerfen.‘ Die radikale Linke mit Chomsky plädierte dafür, das Ding noch viel fester ans MIT zu binden, um es ständig im Blick zu haben. Keep your friends close, but you enemies even closer. Die Pointe ist: weil sich die Liberalen durchsetzten, wurde das Labor ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter verlegt, wo es bis heute in Ruhe und Frieden arbeitet – höchstwahrscheinlich an Waffen, aber niemand weiß das so genau. Wäre es auf dem Campus geblieben, hätte man es wahrscheinlich schon längst schließen müssen. Zu groß wäre der tägliche Aufruhr unter empörten Studierenden gewesen. Ein schönes Beispiel dafür, dass moralische Selbstbefriedigung der herrschenden Klasse (das MIT ist nun mal eine Welteliteuniversität) nicht automatisch zum moralisch einwandfreien Ergebnis führt. Womit wir direkt im Trump-Zeitalter angekommen sind. Denn was Chomsky als eigenes Aktivismuskonzept dagegensetzt, ist nichts anderes als ein geradezu sozialdemokratischer Klassenkampf – für den alternden Anarchisten aus der Ivy-League eine ganz neue Erkenntnis, und eine, die nicht nur Amerika weiterbringen könnte.

Seine Maßnahmen sind: „Aktionen der Gewerkschaften“, „Organisationstätigkeit des radikalen Gewerkschaftsflügels CIO“, mehr „linke politische Parteien“ und die „praktischen Dienstleistungen der Gewerkschaften: ein paar Wochen Landurlaub, Diskussionsgruppen, Arbeiterbildung, Treffpunkte, wo Menschen zusammenkommen“ können. „Das fehlt heute“ – und das müssten die Aktionen einer neuen aktivistisch politischen Klasse sein, die dem Trumpismus und allen seinen Ablegern nicht nur den moralischen Zeigefinger entgegenstreckt, sondern wirklich das Wasser abgräbt. In lockerem Plauderton gelingt es Chomsky, die uralte Tradition vom Klassenkampf mit der Klimabewegung, anarchistische Aktion mit sozialdemokratischer Persistenz, überhaupt Alt und Neu in der globalen Linken zu verbinden – auch zu versöhnen, wo es Konfliktlinien gibt. Umso verstörender wirkt ein riesiger blinder Fleck in Rebellion oder Untergang!, der immer deutlicher hervortritt, je umfassender die chomsky‘sche Theorie wird: der blinde Fleck über dem Thema Rassismus.

Wenn Klimawandel und Atomkrieg den biologischen Fortbestand der Menschheit bedrohen, dann gilt das ohne Frage auch für das Gift des Rassismus, das Gesellschaften zersetzt und zerstört. Gleichzeitig revolutioniert die Black Lives Matter-Bewegung vor unseren Augen den zivilgesellschaftlichen Aktivismus. Aber: kein Wort dazu in Rebellion oder Untergang! Kann es sein, dass ein so wacher Geist wie Noam Chomsky diesen wichtigen sozialen Kampf einfach übersieht? Oder muss man davon ausgehen, dass er ihn aus seiner sehr weißen, extrem elitären (und vielleicht doch etwas gestrigen) Perspektive gar nicht wahrnehmen kann? Das wäre eine beunruhigende Erkenntnis am Ende von Rebellion oder Untergang!, die noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückführt: Hat Chomsky uns heute noch was zu sagen? Mit Blick auf das Thema Rassismus sollte man sich nicht der ersten Euphorie hingeben. Denn bei aller Begeisterung, die Chomsky heute noch zu entfachen vermag, zeigt sich gerade an ihm die Gefahr, dass der beschränkte Blick des weißen alten Mannes die Sicht auf wichtige gesellschaftliche Probleme auch verstellen kann.

Eine Gefahr, die beim Lesen von Rebellion oder Untergang! sehr deutlich spürbar wird, und damit – vielleicht müsste man sagen: dialektisch – interessante Gedanken zur gerade von alten Männern gerne geschmähten Identitätspolitik aufwirft. Denn wenn Chomsky nicht in der Lage ist, die wichtigen Akteur:innen aktueller sozialer Bewegungen auch nur zu benennen, kann er gemäß eigener Definition auch kaum gegen den Untergang rebellieren. Was im Umkehrschluss die identitätspolitische Forderung, marginalisierte Gruppen müssen für sich selbst sprechen können, zur Bedingung für den Fortbestand der Menschheit macht. Die Rebellion kann den Untergang nur abwenden, das betont Chomsky ein ums andere Mal, wenn alle aktivistischen Mittel auf den Tisch kommen. Damit das gelingen kann, müsste vielleicht gerade er – Noam Chomsky – sich der Äußerung einmal enthalten und andere sprechen lassen. Und das ist eine weitere wichtige Erkenntnis aus einem trotz allem nicht unwichtigen kleinen Büchlein.

Titelbild

Noam Chomsky: Rebellion oder Untergang! Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
128 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783864893148

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