Freiheit durch Wahrheit

Bill Cleggs erster Roman „Fast eine Familie“ erzählt von Familien, die lernen, dass sie ihren Schmerz nur gemeinsam überwinden können

Von Annika SteinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Steiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast eine Familie ist ein Familienroman. Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Brand mit drei Toten am Abend vor einer Hochzeit. Niemand weiß, ob es sich um einen tragischen Unfall oder um Brandstiftung handelt. Doch Cleggs Roman ist kein Krimi, in dem der Fokus auf der Auflösung dieses Rätsels liegt. Er ist vielmehr ein Familienporträt der Verbliebenen, deren Leben sich nach dem Brand grundlegend verändert.

Die einzelnen Kapitel werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Besonders ist dabei, dass der Roman nahezu ausschließlich aus den Gedanken der Figuren besteht, die Anzahl der Dialoge ist dabei auf ein Minimum beschränkt. Leser*innen erhalten dadurch einen tiefen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt der Figuren. Der Schmerz und die Trauer um die verlorenen Geliebten regt die Figuren zur Selbstreflexion an: Sie denken über ihr Leben vor dem Brand nach, an alte, teilweise ungelöste Konflikte, frühere Entscheidungen, zerbrochene oder wieder aufgebaute Beziehungen und an Unausgesprochenes, das noch hätte gesagt werden sollen.

Der Roman wirkt aufgrund der zahlreichen Familien(-konstellationen), der kurzen Kapitel und dem ständigen Perspektivwechsel sehr kaleidoskopartig. Dies macht es anfangs schwierig, sich ein Bild von den Figuren zu machen und sie in Beziehung zueinander zu setzen. Allerdings ermöglichen die Perspektivwechsel auch das Wissen um die intimen Gedanken mehrerer Figuren, was Identifikationspotential mit unterschiedlichsten Figuren aufbaut. Dies wird ebenfalls dadurch begünstigt, dass keine perfekten und idealen Familien dargestellt werden, sondern mit dem Leben kämpfende Figuren. So wirkt der Roman sehr realitätsnah.

Anfangs scheinen die Figuren unabhängig voneinander zu leben, doch mit jedem Kapitel wird deutlicher, wie verwoben ihre Schicksale doch sind. Eines haben alle gemeinsam: Lüge, Enttäuschung, Betrug oder Schmerz prägen ihre Vergangenheit. Im Zuge ihrer Selbstreflexionen wird den anfangs einzeln kämpfenden Figuren jedoch zunehmend bewusst, wie wichtig Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung, Mitmenschlichkeit und die Wahrheit sein können. Und so zeigen sie, dass manche Tragödien nur gemeinsam überwunden werden können und letztlich die Wahrheit häufig der wichtige Schritt zur Freiheit ist.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Bill Clegg: Fast eine Familie. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englischen von Adelheid Zöfel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
315 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783100023995

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