Die Jugend wartet in der Zukunft

In Clemens J. Setzʼ Erzählungen „Der Trost runder Dinge“ bricht das Nicht-Alltägliche in den Alltag ein

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Clemens J. Setz (Jahrgang 1982) ist nicht nur einer der interessantesten Autoren seiner Generation. Mit bis dato vier Romanen, zwei Erzählbänden, von denen der erste, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, 2011 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, einem Gedichtband sowie diversen anderen Publikationen und Wortmeldungen ist er auch einer ihrer produktivsten. Nun legt Setz mit Der Trost runder Dinge seine zweite Sammlung von Erzählungen vor. 20 Texte von unterschiedlichem Umfang – der kürzeste, an Kafkasche Parabeln erinnernde (Die zwei Tode) gerade mal eine halbe Seite lang, der längste (Geteiltes Leid) 43 Seiten – enthält der Band.

Die im Titel angesprochenen runden Dinge, die Trost spenden sollen, treten in den einzelnen Texten in ganz verschiedenen Inkarnationen auf: beispielsweise als „rundes Obst“ – Auberginen oder Tomaten –, „Kinderfotos mit runden Rändern“ oder als Stadtlandschaft im Winter, die „um vieles weicher und runder“ wirkt, je mehr Schnee sie bedeckt. Und auch das „Or“ genannte, geheimnisvolle Wesen, mit dem sich eine Frau in der Erzählung Kvaløya auf den Weg nach Norwegen macht, besitzt eine runde Form. Bei den den seltsamen Reisegenossen Begegnenden in Flugzeug, Hotel und Reisebus ruft es allerdings nicht nur Erstaunen hervor, sondern stellt auch die Ich-Erzählerin gelegentlich vor die Frage, warum sie sich die Reise in der Gesellschaft dieses seltsamen Begleiters wohl antut.

„Der allgemeine Trost runder Dinge ist etwas, für das die Dauer eines normalen Menschenlebens glücklicherweise nicht ausreicht, um dagegen immun zu werden“, heißt es ein bisschen verrätselt formuliert an einer Stelle in der Erzählung Zauber. Und Trost ist etwas, dessen die Menschen in Clemens J. Setzʼ Erzählungen dringend bedürfen. Denn man hat es bei ihnen in der Regel mit ängstlichen Zeitgenossen zu tun, Menschen, die verrückte Dinge tun, um aus ihrer Einsamkeit herauszukommen (Frau Triegler), Ausgegrenzten (Das Schulfoto), Paranoikern (Die Katze wohnt im Lalandeʼschen Himmel), Liebe Suchenden (Suzy) oder solchen, die sich von klein auf vor der Welt und den Zumutungen, die sie für den Einzelnen bereithält, fürchten und es nur zu gerne sähen, wenn ihre Nachkommen diese Furcht mit ihnen teilen würden (Geteiltes Leid).

Dass das, was Setz – häufig aus der Ich-Perspektive, gelegentlich auch eine personale Erzählposition einnehmend, mal mit Illustrationen versehen (Die Katze wohnt im Lalandeʼschen Himmel), mal als grammatikalisches Kauderwelsch im Stil eines maschinellen Übersetzungsprogramms formuliert (SPAM) – zu Papier bringt, viel mit ihm selbst zu tun hat, zeigt wohl am besten die offensichtlich autobiografisch inspirierte Geschichte einer Flugreise nach Kanada, wohin man österreichische Autoren zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen hat (Südliches Lazarettfeld). Weil sich der Abflug um Stunden verzögert, endet der Trip bereits, bevor er eigentlich begonnen hat, weil den Ich-Erzähler schließlich die Geduld verlässt und er resigniert nach Hause zurückkehrt.

Dort aber findet er sich statt in der vertrauten Umgebung, die er ein paar Stunden zuvor verlassen hat, plötzlich inmitten eines mit Verwundeten überfüllten Lazaretts, in dem es nach Hafenwasser riecht und seine Frau wie eine ihm Fremde für all die auf Feldbetten liegenden, blessierten Männer sorgt. Ist der Krieg vom Mittelmeer bis nach Graz vorgedrungen? Oder hat der Schriftsteller nur allzu lange seine Augen vor der Realität verschlossen und in einer Welt des schönen Scheins, dem sprichwörtlichen „Elfenbeinturm“, gelebt?

Wenn einer, der seine alte Wohnung, in der sich längst ein anderes Paar häuslich eingerichtet hat, noch einmal auf der Suche nach Erinnerungen in Augenschein zu nehmen wünscht, dabei aber einen Elektroschocker in der Hosentasche mit sich führt (Das alte Haus), ist das nicht beruhigend. Genauso wenig wie die obszönen, mit Filzstift hingeschmierten Beschimpfungen, die ein Mann auf Wänden und Möbeln in der Wohnung einer blinden Frau entdeckt, in die er gerade im Begriff ist, sich zu verlieben (Otter Otter Otter). Dagegen handelt es sich bei der Nachricht, die der 16-jährige Marcel Loebl – mit dem Namen „Suzy“ unterschreibend –  neben seine Telefonnummer an die Wand einer Erotiklokal-Toilette kritzelt – „Mein Mund wartet auf dich“ –, um nicht mehr als um einen Dummejungenstreich (Suzy). Dass dessen Folgen dann trotzdem unerwartet heftig sind und ihn bis zu seinem 36. Lebensjahr im Gedächtnis bleiben – „Jeder nimmt eigene Bilder in die Zukunft mit.“ –, ist dennoch überraschend.

Eine der schönsten Erzählungen des Bandes ist auch eine seiner kürzesten: Jugend. Literarisch unmaskiert berichtet Setz darin von einer ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Begegnung mit seinem Vater, der einmal nicht – wie befürchtet – an Symptomen von Verfolgungswahn litt, sondern freudestrahlend behauptete, „er sei wieder jung“. An der Paradoxie, dass er im Alter „von zwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahren“, in das er sich plötzlich zurückversetzt sah,  noch gar keine Kinder gehabt hatte, er die frohe Botschaft aber als einem der Ersten seinem zwölfjährigen Sohn mitteilte, scheitert die tröstliche Vorstellung schließlich.

Doch obwohl für den Vater „alles plötzlich schief […], unerträglich“ gewesen sei, ist der Schluss, den der Sohn aus dem Erlebnis zieht, eines jener runden, tröstlichen Dinge, die bei dem Synästhetiker Setz auch immer zugleich eine charakteristische Farbe besitzen:

Es wäre schön, wenn die Jugend tatsächlich irgendwo in der Zukunft auf uns warten würde. Besonders in Zeiten großer Bedrängnis, nach endlosen, in kniender Haltung neben Heizkörpern verbrachten Nächten, nach Tagen voller Staub aus Tschernobyl, der plötzlich überall auftaucht, auf Armbanduhren und Tassenrändern, im Badezimmer und unter alten Aktenordnern, sogar im Haar des eigenen Sohnes.

Aus Erlebtem Literatur zu machen und gleichzeitig dem Vater ein unspektakuläres und dennoch von großer Sohnesliebe geprägtes Denkmal zu setzen – mit einem besseren Ausweis seines Könnens hätte Clemens J. Setz seinen zweiten Erzählband nicht beschließen können.

Titelbild

Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
317 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428528

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch