Sartre, Sex und Saxophon

Michel Contats „Paris 1959. Notizen eines Waadtländers“ ist ein kleiner Einblick in eine besondere Generation

Von Veronika DubowizkajaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dubowizkaja

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel Contat, langjähriger Mitarbeiter sowie enger Vertrauter und Herausgeber des Schriftstellers Jean-Paul Sartre erzählt in seiner Romanbiographie Paris 1959. Notizen eines Waadtländers von seinem Jahr in Paris. Das Buch wurde bereits 2001 auf Französisch veröffentlicht (Paris 1959. Notes d’un Vaudois) und ist 2017 in deutscher Übersetzung erschienen.

Der zwanzigjährige Schweizer Michel Contat lebt in Lausanne, sein größter Traum ist es, nach Paris zu gehen, um dort Literatur zu studieren und sein Vorbild Sartre zu treffen. Dem Titel zufolge ist die Autobiographie an die Notizen Charles-Ferdinand Ramuz‘ (Paris, notes d‘un vaudois, 1937) angelehnt, an dessen Hauptmotiv angeknüpft wird: dem Ausbruch aus dem dörflichen Leben in der Schweiz, um am Sehnsuchtsort Paris neu zu beginnen.

Contat verbringt ein Jahr in Paris, lernt sich selbst und die Stadt neu kennen. Es ist eine Art Tagebuch, das die Erlebnisse eines jungen Studenten und womöglich einer ganzen Generation erzählt. Zentral ist Contats Leidenschaft zur Literatur und Kunst. Diese wird ihm quasi in die Wiege gelegt, da seine Großeltern, sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite, Akademiker, Künstler oder Schriftsteller waren. Der Student besucht Theater und liest am liebsten die Werke von Jean-Paul Sartre und wie jeder junge Mensch versucht er sich selbst zu finden. Neben der Literatur ist die Politik eine seiner größten Interessen. So demonstriert er in Paris gegen den zu der Zeit herrschenden Algerienkrieg.

Er beschreibt sich als undisziplinierten Schüler; und dennoch hätten Lehrer Sympathie für ihn empfunden – was im Laufe des Buches nachvollziehbar wird. Fast hätte er das Abitur nicht geschafft, nur wegen der mahnenden Worte seines Freundes Michel Thévoz, der bereits in Paris studiert, beginnt er sich zu bemühen und besteht knapp. Thèvoz ist heute ein Schweizer Kunsthistoriker und war damals Michel Contats Mentor, in künstlerischen, politischen oder auch musikalischen Fragen.

Da Contats Vater die Familie verlassen hat, erklärt er sich als „Wiedergutmachung“ bereit, das Literaturstudium in Paris zu finanzieren. Der junge Mann reist nach Paris und beginnt sein „neues Leben“. Die Hauptstadt wird für ihn zum Ort des Glücks. „Denn es ging weniger darum, Werke zu schaffen, als das Leben eines schöpferischen Menschen zu führen“. Dennoch ist der erste Monat in Paris hart für den Studenten, er ist allein und einsam, verkriecht sich in seinem gemieteten Zimmer und liest viele Bücher. Da der Schreibstil tatsächlich an Notizen erinnert, wie es auch im Titel heißt, werden Gefühle sehr gut transportiert, sodass es für den Leser selbst spürbar ist, wie schwer die Zeit für den jungen Mann ist. Der Reiz dieser Lektüre liegt in der überzeugenden Darstellung der Gedanken und ihrer Veranschaulichung durch den personalen Erzähler.

Contat begegnet in der Zeit in Paris einer Prostituierten, deren Angebot er aber nicht annimmt. Er geht nach Hause und lässt seiner Lust freien Lauf. „Als ich wieder im Hotel war, masturbierte ich mit einer Art Wut, aber die Befriedigung war außerordentlich…“.  Der Protagonist erzählt im Verlauf des Buches von unterschiedlichen Begegnungen mit Frauen, seinen sexuellen Erfahrungen und der großen Liebe.

Als sein Freund Thévoz nach einem Aufenthalt zu Hause in Paris ankommt, beginnt Michels Studentenleben. Contat gelingt es, dem Leser das typische Leben eines Studenten in den späteren 50ern und Anfang der 60er-Jahre zu vermitteln. Die Stimmung des Aufbruchs und die der Veränderung, durch Proteste und Demonstrationen, sowie die Lust am Mitmischen wird gut transportiert. Man kann den Gedanken des Protagonisten „lauschen“: Es wird viel über Literatur gesprochen, die Freunde besuchen gemeinsam das Theater und träumen gemeinsam davon, einen Film über Jean-Paul Sartre, den Lieblingsschriftsteller, zu drehen. Es gelingt den beiden Freunden sogar, Sartre zu begegnen, als sie in einem Café in der Nähe seiner Wohnung sitzen, doch sind beide zu schüchtern, um ihn anzusprechen und müssen weiter von einem Gespräch mit ihm träumen. Sie versprechen sich, sich durch Das Sein und das Nichts Sartres zu kämpfen und darüber zu diskutieren.

Zahlreiche Namen von Schriftstellern, wie Rousseau, Genet, Marx und Engels, sowie berühmter Philosophen wie Montaigne werden in den Raum geworfen, was die Lektüre anspruchsvoll und manches Mal anstrengend macht. Dennoch sind die Ansichten des Protagonisten zu den Vorstellungen von Les Caprices de Marianne und Lorenzaccio, zu Auftritten von Musikern wie Clark Terry, Phil Woods und Walter Bishop sowie zu Filmen wie Pather Panchali und vielen Schriftstellern interessant und amüsant.

Thévoz spielt Gitarre und bringt Contat dazu, Saxophon zu erlernen, woraufhin sie beginnen, gemeinsam in einem Bepop-Quintett zu spielen und aufzutreten. So verdienen sie ein wenig Geld und verbringen viele Nächte in Jazzclubs. Eines Abends geht Contat auf eine verbotene Demonstration gegen den Krieg in Algerien, bei der er verhaftet wird. Die Demonstranten werden alle in einen Raum gebracht, nach und nach stellt sich heraus, welche „Persönlichkeiten“ sich dort befinden, wie zum Beispiel einer der Journalisten, dessen Leitartikel er jeden Morgen liest. Er verbringt die Nacht mit Diskussionen und zum ersten Mal spricht er mit jungen Leuten seines Alters, die im Großen und Ganzen das gleiche wollen wie er. Nach dem Gefängnisaufenthalt werden alle auf freien Fuß gesetzt. Michel lernt Paris aus einer anderen Perspektive kennen: das Paris im Morgengrauen. Die Art des Erzählens und des Beschriebenen lässt den Leser selbst Paris an diesem Morgen sehen.

Durch die Teilnahme an der illegalen Demonstration besteht die Gefahr, dass der junge Student aus der Stadt ausgewiesen wird. Um nicht auf den Entschluss zu warten, reist er mit seinem Vater freiwillig ab und kehrt in seine Heimat zurück. Dort engagiert er sich weiterhin für den Frieden in Algerien und wird sogar ein Informationsübermittler. Seine Aufgabe besteht darin, nach Paris zu reisen und Intellektuelle zu kontaktieren, um ein Manifest für den Frieden in Algerien zu unterschreiben. Nach mehrfachem Aufenthalt in der Hauptstadt wird er, wegen Aktivitäten, die der Republik schaden könnten, dann doch aus dem französischem Territorium verwiesen. Trotzdem macht er weiter wie bisher, da es die Stadt seines Herzens ist.

In der Romanbiographie erzählt Michel Contat ehrlich von seinen Ängsten, seinen Interessen, seinen Nöten und seinen Gefühlen, was den Leser in den Bann zieht und den Eindruck erweckt, als sei man selbst gerade anwesend. Im Nachwort von Luc Weibel werden noch mehrere Fakten über den Autor genannt; und ein Satz, der besonders in Erinnerung bleibt: „Er hält seiner Generation einen Spiegel vor und zeigt ihr, was besonders an ihr war: eine Mischung aus literarischer und politischer Leidenschaft – zwei höchst widersprüchliche Pole.“ Demnach ist das Werk Paris 1959. Notizen eines Waadtländers ein Selbstporträt, das zugleich eine ganze Generation darstellt.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michel Contat: Paris 1959. Notizen eines Waadtländers.
Mit einem Nachwort von Luc Weibel.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Limmat Verlag, Zürich 2017.
95 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783857918254

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