Streitbare Theorie
Angelika Corbineau-Hoffmann versucht Kontextualität als „neues“ Leitkonzept der Literaturwissenschaft zu entwerfen
Von Tobias Schmidt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon längere Zeit war Angelika Corbineau-Hoffmanns Buch Kontextualität. Einführung in eine literaturwissenschaftliche Basiskategorie angekündigt, erst bei de Gruyter, dann schließlich veröffentlicht im Erich Schmidt Verlag, der bereits die mittlerweile in dritter Auflage erschienene Einführung in die Komparatistik (2013, zuerst 2000) der emeritierten Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig herausbrachte. Nun also wieder ein Buch mit einführendem Charakter, offenbar ein Lieblingsgenre der Autorin, hat sie doch ebenfalls Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Einführung und Kommentar (1993) und Die Analyse literarischer Texte: Einführung und Anleitung (2002) verfasst.
Bereits hier zeigen sich gewisse Friktionen in Konzeption und Anspruch des vorliegenden Buches, das zum einen unter dem Begriff der Kontextualität das die Kontexte eines Textes einbeziehende Lektüreverfahren der Kontextualisierung konturieren möchte, zum anderen dies aber in der spezifischen Textsorte der Einführung tut. Der Gegenstand einer Einführung jedoch sollte auf einem gewissen fachlichen Vorverständnis und breiten Konsens beruhen, was aber für das Konzept beziehungsweise die Kategorie (auch das eine problematische begriffliche Gleichsetzung der Autorin) der Kontextualität laut Corbineau-Hoffmann erst noch zu leisten wäre und erklärtes Ziel des Buches ist. Die Autorin definiert also ein Konzept und führt zugleich in dieses ein; sie gibt der Kontextualität und dem damit bezeichneten kontextualisierenden Lektüreverfahren die akademische Würde einer Einführung, als erübrige sich eine weitere Diskussion über Kontextualität.
Umrisse des Kontext-Begriffs
Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert, die sich der Terminologie, der Methodologie und der Theorie widmen. Das Kapitel zur Terminologie geht zunächst in einem enzyklopädischen Rundgang der Wortgeschichte und -verwendung des Begriffs „Kontext“ in verschiedenen Sprachen nach, um ein zunächst noch allgemeines Verständnis von Kontext zu gewinnen, das aber für die Literaturwissenschaft noch zu präzisieren wäre. Hierfür sei ein Blick in die Sprachgeschichte des Begriffs hilfreich, der unter Bezug auf die Phrase „contextu et cursu“ Quintilians, ‚cursus‘ als das „lineare[] Procedere des Textes“ beziehungsweise „den Verlauf des Diskurses“ versteht und mit ‚contextus‘ „andere Arten der Verknüpfung“ benennt. Daraus entwickelt Corbineau-Hoffmann die keineswegs so überraschende Idee, jeder Text changiere zwischen „Linearität“ und „Kontextualität“, aus der sie zwei „Verfahrensweisen der Lektüre“ ableitet: eine diskursive Lektüre, die dem linearen Verlauf des Textes folgt, und eine kontextualisierende Lektüre, die sich vom Textverlauf löst und entfernte Textelemente verknüpft. Die diskursive Lektüre wird als primäre Lektüre bezeichnet, auf der eine zweite, die kontextualisierende zwingend folgen müsse, um dem Text eine komplexere Bedeutung zu verleihen. Einem kritischen, literaturwissenschaftlich vorgeprägten Leser stellen sich hier Fragen: Kann es eine lineare Lektüre überhaupt geben, oder setzt nicht vielmehr schon nach dem ersten Wort eines Textes dessen Kontextualisierung ein (was durchaus zur intratextuellen Kontextualität, wie sie von Corbineau-Hoffmann später erklärt wird, zählt)? Und ist damit nicht ein methodischer Allgemeinplatz beschrieben, nämlich dass jede literaturwissenschaftliche Analyse mit einem Close Reading, einer textnahen Lektüre beginnt, die den internen Bezügen und Bruchstellen eines Textes nachgeht und in weiteren Schritten die Perspektive auf im Text verhandelte Diskursstrukturen und Kontexte ausweitet?
An sprachwissenschaftlichen Konzeptionen des Kontext-Begriffs verankert Corbineau-Hoffmann die vorher schon im enzyklopädischen Durchgang gewonnenen Kriterien der Relevanz des Kontextes für den Text und dessen bedeutungsbildende Eigenschaft. Ein aus der Linguistik gewonnenes Kriterium beziehungsweise eine Eigenschaft des Textes sei das Setzen von Kontext-Signalen, sogenannten „contextualisation cues“ oder „Anschlussstellen“, also das Verweisen des Textes auf seine Kontexte. Unter Bezug auf Jakobsons Konzeption der poetischen Funktion der Sprache als Projektion der Äquivalenz von der paradigmatischen Achse auf die syntagmatische, verortet Corbineau-Hoffmann den Kontext auf der paradigmatischen Ebene des Textes, denn die Relation von Text und Kontext sei in erster Linie von Äquivalenz (oder „totale[r] Differenz“) geprägt und nicht von einem syntagmatischen Nacheinander. Von dieser Verortung der Kontextualität leitet die Autorin im Fortgang auch ihre These von der Verräumlichung des Textes durch dessen Kontextualisierung ab, wobei nie klar wird, von welchem Raumbegriff überhaupt ausgegangen wird.
Für die Literaturwissenschaft konstatiert Corbineau-Hoffmann schließlich ein terminologisches „Patchwork“, das zwar die „grundsätzliche Bedeutsamkeit des Konzepts“ aufzeigt, und doch sei Kontext „ohne verbindliche Bestimmungen […] vagabundierend in der Literaturwissenschaft unterwegs“. Mit Lutz Danneberg spricht die Autorin von vier Kontextklassen: intratextuelle, infratextuelle, intertextuelle und extratextuelle (die dann in Kapitel 2 im Fokus stehen). Als literaturwissenschaftlicher Terminus sei Kontext immer von einer „Verstehensrelevanz“ für den jeweiligen Text bestimmt: „Eine Gegebenheit im Umfeld des Textes wird nur dann dem Begriffe nach zum Kontext, wenn sie für das Verstehen des Textes von Belang ist.“ Als weiteres zentrales Moment des Kontext-Begriffs benennt Corbineau-Hoffmann schließlich noch dessen, von Michail Bachtin entlehnte, „Dialogizität“, eine auf Austausch basierende kommunikative Relation zwischen Text und Kontext.
Wenn im darauffolgenden Unterkapitel „Kontextualität und Textverstehen“ miteinander in Beziehung gesetzt werden, produziert der Text irritierende und zum Teil auch komische Momente. Hierzu ein längeres Zitat:
[E]ntgegen dem Wortgebrauch [von Kontextualität], der von zeitlichen Verstehensprozessen spricht, wären durchaus andere Modelle möglich, nunmehr gerichtet auf Verstehenssysteme. Warum sollte man nicht Verbindungen konzipieren, die sich aus der räumlichen Zusammenschau verwandter […] Textelemente herleiten? Statt eines linearen Verlaufs in der Zeit ergäben sich dann simultane Systeme im Raum – anstelle des Zeitverlaufs oder ihm nachgeordnet. Was Baudrillard […] als Besonderheit der neueren Zeit ansieht – dass nämlich die Linearität an ihr Ende gekommen sei – lässt sich relativ mühelos auch für eine neue Lektüre literarischer Texte und ein verändertes Textverstehen in Anschlag bringen. Wenn […] nicht mehr der Verlauf von Prozessen unsere Gegenwart bestimmt, sondern die Simultaneität oder Verdichtung von zeitlichen Phasen, hat diese Konzeption, auf die Literaturwissenschaft angewendet, Folgen für unseren Gegenstand: Die sich hieraus ergebenden Verzweigungen und Vernetzungen führen zu einer Verräumlichung des Textes und der ihm zugeordneten Verstehensprozesse. [Hervorhebungen im Original, T.S.]
Unmittelbar hieran schließt Corbineau-Hoffmann eine (wie immer rhetorisch gemeinte und oft auf eine Bejahung hinauslaufende) Frage an: „Doch ist ein solcher Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft überhaupt zumutbar?“ Was von der Autorin etwas umständlich beschrieben wurde, so will man emphatisch rufen, ist doch schon lange eine gängige literaturwissenschaftliche Praxis. Was das spezifisch Neue dieser „neuen Lektüre“ sein soll, erschließt sich deshalb auch nicht und bekommt mit dem in Frage stehenden „Paradigmenwechsel“ eine komische Wendung.
Kontextualität als „harmonische Verschmelzung der Künste“
Das zweite Kapitel zur Methodologie unternimmt zahlreiche Beispielinterpretationen. Als Gliederung dient der Autorin die Klassifikation nach intra-, infra-, inter- und extratextuellen Kontexten. Werke vom 1. bis zum 20. Jahrhundert (von Ovid, Petrarca, Goethe, Schiller, Baudelaire, Wilde, Proust, Woolf, Reiner Kunze, Alain Robbe-Grillet und anderen) stehen dabei im Mittelpunkt und bezeugen das breite literarische wie historische Wissen von Angelika Corbineau-Hoffmann.
Die Lektüren sollen das Potenzial kontextualisierender Lektüren belegen und damit zugleich „die produktive Offenheit literarischer Texte“ vorführen. Auffallend wenig ist innerhalb der Analysen von Kontext beziehungsweise Kontextualität die Rede, oft erfolgt erst am Ende deren Nennung geradezu schlagwortartig, was den Begriffen fast jede Prägnanz nimmt, weil sie in ebenjener, von Corbineau-Hoffmann kritisierten Beiläufigkeit oder auch Unbestimmtheit erfolgen. Vor allem werden sie konstativ verwendet, die Lektüren damit als kontextualisierende nachträglich behauptet. Viel zu oft fehlt eine argumentierende Erörterung dessen, was die einzelnen Lektüren zu kontextualisierenden macht. Das kontextualisierende Verfahren gewinnt somit keine Konturen. Mitunter stellt sich sogar die Vermutung ein, „Kontexualität“ würde einen anderen Begriff ersetzen. Heißt es beispielsweise „Die Kontextualisierung von Gegenwart und Vergangenheit schafft nicht nur einen Kontrast, sondern zerstört auch eine Illusion“, kommen einem eher Begriffe wie „Interferenz“ oder „Bezogenheit“ in den Sinn, aber nicht Kontextualisierung. An anderer Stelle ist zu lesen: „Das Ziel Petrarcas ist die möglichst stringente, multidimensionale Kontextualisierung jedes einzelnen Gedichts im Rahmen des Zyklus.“ Abgesehen davon, dass nun der Autor für die Kontextualisierung verantwortlich scheint (dabei sollen das doch Text und Leser sein), ließen sich auch hier treffendere Begriffe dafür finden, was Corbineau-Hoffmann mit „Kontextualisierung“ bezeichnet. Weil sich die Analysen nicht wesentlich von anderen literaturwissenschaftlichen Arbeiten unterscheiden, zeigt sich auch das Neue nicht und bleibt, wie vieles andere, bloße Behauptung. So bleiben die Lektüren der Autorin stets im Rahmen des Erwartbaren und bieten für Thema und Konzept der Kontextualität keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.
Besonders diejenigen Passagen stechen hervor, in denen Literatur und andere Kunstformen in ein kontextuelles Verhältnis gesetzt werden, was mit dem eher unüblichen Begriff der „Interart-Kontexte“ bezeichnet ist. Wenn Corbineau-Hoffmann den Film Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais mit dem von Alain Robbe-Grillet verfassten Drehbuch kontextualisiert, ist das grundsätzlich nicht falsch. Problematisch wird es hingegen, und hier zeigen sich Bruchstellen des Konzepts der Kontextualisierung, wenn der Lektüre eine Hierarchisierung zugrunde liegt, die das Drehbuch (ein Text) dem Film überordnet. Das ist der Methode Corbineau-Hoffmanns eingeschrieben, denn Kontextualität „bezeichnet bedeutungs- und verstehensrelevante Bezugsetzungen zwischen Texten, wobei der Ausgangstext gegenüber den Kontexten die erste Stelle einnimmt.“ Liest Corbineau-Hoffmann den Film vom Drehbuch her, im Sinne einer Vor-Schrift, geht sie davon aus, dass der Film zu diesem in einem deckungsgleichen Entsprechungsverhältnis stehen müsse, was den Film dem Drehbuch unterordnet. Anstatt also schon die unterschiedlichen medialen Repräsentationsformen von Text und Film in eine kontextualisierende Lektüre einzubeziehen, läuft das Fazit ihrer Untersuchung genau darauf hinaus: „Nicht die harmonische Gesamtheit der Künste, einem gemeinsamen Ziel verschrieben, ist das interpretatorische Fazit aus Letztes Jahr in Marienbad, sondern die Einsicht in die einzigartige Leistung jeder einzelnen Kunst, die hier nichts ‚anderes‘ darstellt, sondern allein sie selbst ist. […] So führt Letztes Jahr in Marienbad nicht zu einer harmonischen Verschmelzung der Künste, sondern unterstreicht oder stellt überhaupt erst her, was Text, Bild und Musik trennt; dies freilich wird erst deutlich im kontextualisierenden Vergleich.“ [Hervorhebung im Original, T.S.]
Irritierend ist nicht nur das seltsame Harmonie-Ideal im Zusammenspiel der Künste mit einem ominösen, scheinbar fraglos gegebenen „gemeinsamen Ziel“, auch die „Einsicht“ in die ästhetische Autonomie eines Kunstwerks, die unter anderem aus bestimmten medialen Verfahren hervorgeht und die den anderen Medien gerade nicht oder nur eingeschränkt eigen sind, ist nicht neu. Was hier zutage tritt, ist ein grundsätzliches Problem einer jeden Kontextualisierung: dass kontextualisierend lesen allzu oft hierarchisch lesen bedeutet. Weshalb für Corbineau-Hoffmann die „Einsicht“, dass „Buch und Film […] für sich genommen, ein eigenes Recht“ haben, auch ein „überraschendes Beispiel dafür [ist], dass die Kontextualisierung nicht Gemeinsamkeit stiftet, sondern Trennung herbeiführt.“ Das Ideal einer „harmonischen Verschmelzung der Künste“ (die an der dem Konzept eingeschriebenen Hierarchisierung scheitern müsste) ist die explizit ausgesprochene Vorannahme des hier praktizierten Verfahrens der Kontextualisierung, die als Konsequenz dem einzelnen Kunstwerk seine Autonomie abspricht.
Vieles von dem, was Corbineau-Hoffmann an Resnais’ Film zu verstehen oder gerade nicht zu verstehen meint, ist aus ihrer Perspektive vielleicht nachvollziehbar. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass die Autorin offenbar eine bestimmte Rezeptionshaltung an den Film heranträgt, denn der „irritierte Zuschauer“ (und niemand anderes als die Autorin kann hier gemeint sein) müsse sich von dem „gewohnten Paradigma verabschieden“, dass ein „Spielfilm traditioneller Art aus einer Folge von Bildern und Dialogen, die sich zu einer Geschichte zusammenfügen“ bestehe. Die dem Film attestierte Handlungslosigkeit, die aus seiner Wiederholungsstruktur herrühre, ist auf der visuellen Ebene des Films durchaus erkennbar. Nur dass die Ebene der Kommentar- beziehungsweise Erzählstimme, die zudem die Stimme eines der männlichen Protagonisten ist, eine Dynamik entwickelt und sich mehr und mehr aus der visuellen Wiederholungs- oder Variationsstruktur befreit. Man hört hier einer Beschwörung von Erinnerungen zu und sieht dabei sich stetig wiederholende oder besser: variierende Szenen. Nicht die „Aufhebung jeglicher Singularität“ ist das „Kunstprinzip des Werkes“, sondern vielmehr das Erinnern-machen durch Sprache, durch ein sich wiederholend-variierendes Sprechen über das, was letztes Jahr in Marienbad geschehen war. Die Emphase der Rede steht dabei in starkem Kontrast zur Statik des zu Sehenden, wobei sich das Erzählen immer wieder an zwei Statuen im Park entzündet, deren Geschichte die vermeintlich Liebenden erfinden und miteinander ausbauen. Wohingegen die wahre Geschichte der Statuen in aller Kürze berichtet und damit auch entzaubert wird. Die Rede des Films stellt die Kraft der Fiktion und des Narrativen aus, ohne sich dabei auf eine textuelle Form beziehen zu müssen. Die Variationsstruktur des Films gewährleistet gerade, dass der Rede gegenüber den Bildern und Szenen mehr Gewicht zuteil wird, weil sie nicht an die Bilder gebunden ist, sondern diese sogar zu dirigieren scheint, wenn Erinnerungsbilder und Szenen der Gegenwart ineinander übergehen, während die Stimme in ihrem Reden nicht abbricht. Daher ist auch die Schlussfolgerung Corbineau-Hoffmanns in Bezug auf das „Prinzip der Wiederholung“ irritierend:
[D]as Bild [fungiert] als Double der Realität. Und doch: geben in diesem Film die Bilder den Blick frei auf das, was ihnen als ‚Motiv‘ zugrunde liegt, auf die von ihnen dargestellte Realität? Die Manie der Wiederholung immer gleicher Szenen betont nicht, wie man annehmen könnte, die Prägnanz der Wirklichkeit, sondern die alleinige Präsenz der Bilder. Statt für das Dargestellte zu stehen und auf die Realität zu verweisen, der sie als bloße Abbilder untergeordnet sein müssten, gewinnen die Bilder, bis zum Exzess wiederholt, einen starren Eigenwert und bleiben gegenüber dem, was sie abbilden, opak. […] Deshalb gelingt es auch nicht, ihnen Bedeutung zuzuweisen, sie zu interpretieren, denn dies müsste einschließen, sie transparent werden zu lassen für einen Sinn.
Was der Film zeige sei „nicht zu entschlüsseln oder kann allenfalls so verstanden werden, dass die eigentlich handelnden ‚Figuren‘ die Bilder sind. Auch die Motivation der Figuren bleibt unkenntlich, der Blick in deren Seele versperrt. Wie ein Foto nur die Außenansicht einer Szene einfangen kann, bleibt auch der Film insgesamt als Serie bewegter Bilder an der Oberfläche haften und verweigert sich jeder Tiefendimension.“
Dieses apodiktische Urteil wird dem Film in keiner Weise gerecht. Dabei liefert Corbineau-Hoffmann mit der „Manie“ im Grunde bereits einen Begriff, mit dem die Wiederholungsstruktur, die eigentlich eine Variationsstruktur ist, beschreibbar wäre. Aber die Autorin entlarvt ihre Lektüre selbst als oberflächlich und von starren Vorannahmen geleitet (die Wirklichkeitsabbildung fotografischer Medien), wenn sie sich den Angeboten des Films offenkundig verweigert. Dass der Film bestimmte mit den Medien Film und Fotografie verbundene Vorannahmen in Frage stellt, sie zum Thema macht und damit diskursive Verkrustungen aufbricht, kann oder darf offenbar nicht sein.
Fehl- und Falschlektüren
Das dritte und letzte Kapitel ist mit „Theorie: Kontextualität und Literaturwissenschaft“ überschrieben. Kontextualität wird hierbei vor allem auf den Leser hin konzipiert, genauer darauf, dass der Leser dem Text Sinn zuschreibt, ihn verstehen will. Corbineau-Hoffmann bezieht sich auf Positionen aus Rezeptionsästhetik (Ingardens Unbestimmtheitsstellen, Isers Leerstellen, Jauß’ Erwartungshorizont) und Hermeneutik. In den verhandelten theoretischen Ansätzen erkennt sie teils direkte, vor allem aber unausgesprochene Bezugnahmen auf das Konzept der Kontextualität. Rezeptionsästhetisch und hermeneutisch verfahrende Ansätze beruhen in der Lesart Corbineau-Hoffmanns in erster Linie auf kontextualisierenden Grundannahmen. Kontextualität gerät so zu einem Legitimationskonzept für literaturwissenschaftliche Ansätze, deren historische Relevanz für die Entwicklung einer modernen Textanalyse belegt ist, deren theoretische beziehungsweise analytische Relevanz in weiten Teilen der Fachgemeinschaft jedoch nicht mehr ohne Weiteres angenommen wird.
Für den „hermeneutischen Prozess“ des Verstehens sei die Erinnerung jene maßgebliche Fähigkeit des Menschen, die Verstehen überhaupt erst erlaubt und „kontextbildend wirkt. Verstehen ist somit nicht voraussetzungslos, sondern fügt ‚anderes‘, schon im Vorfeld Gewusstes oder soeben erst Eingesehenes, in den Interpretationsakt mit ein. […] Erinnerung schafft ein dynamisches Gebilde aus Texten und Kontexten.“ Schließlich sei es das Gedächtnis, das es dem Leser erlaube, „[m]it Textelementen und Kontexten ‚jonglierend‘ […] dem Text eine neue, nunmehr freiere Existenz“ zu verschaffen. „Der Text, seine namensgebende ‚Flächigkeit‘ überwindend, wird zum Raum: Gestaltungs-, Erfahrungs-, Gedankenraum, dessen Souverän niemand anderes ist als der Leser.“ Das Gedächntis ist demnach das entscheidende Kriterium für jegliche Kontextualisierung, ein Punkt, dem man zustimmen möchte. Allerdings beschränkt Corbineau-Hoffmann die Bedeutung des Gedächtnisses ausschließlich auf schriftlich fixierte Kunstwerke:
Der Text muss ‚Literatur‘ im elementaren Sinne sein, d.h. schriftlich vorliegen. Das Spiel mit Textsegmenten und deren Kontexten, die Aktivierung des Gedächtnisses setzt die stete Verfügbarkeit des Textes und die permanente Möglichkeit des Überblicks voraus, die nur durch seine Konservierung, d.h. in der Regel seine Schriftlichkeit, gewährleistet ist. Bloßes Hören erlaubt nicht, jenes Prinzip von Analogie und Differenz zu verwirklichen […]. Das menschliche Gedächtnis ist beschränkt und bedarf, soll die Kontexualisierung ihre Möglichkeiten ausschöpfen, der Abstützung durch die Schrift.
Was hier zu lesen ist, ist eine Hierarchie der Künste, die die Literatur an die Spitze aller anderen Künste zu stellen scheint. Theater, Performance, Hörspiele, Filme, Serien und im Grunde auch Musik sind dieser Konzeption nach nicht kontextualisierbar. Es gibt einige solcher apodiktischen Urteile.
Auch mit kanonisch gewordenen Texten der Literaturtheorie pflegt Angelika Corbineau-Hoffmann einen irritierenden Umgang. Beispielhaft zeigt sich das, wenn sie unter dem Stichwort der Differenz, die ja ebenfalls Kontexte ins Spiel bringt, Derridas Begriff der différance heranzieht, um das Verfahren der Kontextualisierung theoretisch zu untermauern. Bloß dass sie die différance absichtlich (so muss man vermuten) falsch versteht: „‚Différance‘ umschließt einen doppelten Inhalt: Unterschied auf der einen, Verschiebung auf der anderen Seite.“ Das muss entschieden verneint werden – différance meint bei Derrida nämlich nicht „verschieben“, sondern vor allem „aufschieben“. Dass das nicht dasselbe ist, weiß auch Corbineau-Hoffmann, nur will sie den Aufschub jeglicher Bedeutung in der Schrift, den das Wort différance ja an sich selbst vollzieht, aus ihrer Konzeption heraushalten. Das ist wissenschaftlich unsauber und überdies nicht haltbar. Verfehlt sind daher Aussagen wie diese:
Im Zuge der ‚différance‘ vollziehen sich Verschiebungen, werden Zeichen an eine andere systematische Stelle gerückt, was zugleich, da sich Zeichen über den Ort definieren, welchen sie im System einnehmen, zu einer Veränderung ihrer Bedeutung führt. Wird nun durch das primäre Kontextsignal eine Textpassage aus ihrer Umgebung herausgelöst, tritt sie in Beziehung zu anderen Passagen desselben Textes oder zu anderen Texten bzw. deren Teilen: Der betreffende Text wurde verschoben und in einen anderen Kontext eingefügt.
Schon an früherer Stelle ihres Buches hat Corbineau-Hoffmann derartig fehl- oder falschgelesen, als sie die poetische Funktion der Sprache dem Lektüreprozess zuordnete:
Ein lyrisches Gedicht wird nicht nur im horizontalen Textverlauf rezipiert, sondern muss im Leseprozess auch mit jenen vertikalen Verbindungen versehen werden, welche die Position eines Elements im Zusammenhang mit jenen gleicher Positionierung kennzeichnen. Mit anderen Worten (denjenigen Roman Jakobsons [sic!]): Die syntagmatische Lektüre wird immer wieder von einer paradigmatischen durchkreuzt. Quasi mit dem Lineal lassen sich Wörter in gleicher Versposition miteinander verbinden, so dass ein lyrischer Text nicht nur Sätze in horizontal-syntagmatischer, sondern Begriffe in vertikal-paradigmatischer Anordnung umfasst.
Es ließen sich noch weitere kritische Punkte des Buches Kontextualität benennen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erbringen die Ausführungen von Angelika Corbineau-Hoffmann keinen analytischen Gewinn, zu unspezifisch, schwebend, nicht durchweg überzeugend und auch einseitig bleibt die Darstellung zur Kontextualität. Einen differenzierten Einblick oder gar eine Diskussion dezidierter Gegenkonzepte, beispielsweise des framings wie es von Jonathan Culler (1988) oder Mieke Bal (2002 und 2016) theoretisiert wurde, lässt das Buch sträflich vermissen. Es stellt lediglich eine mögliche Perspektive vor, ohne auf andere Kontext-Konzeptionen (die es ja gibt) hinzuweisen. Was will das Buch also leisten? Am Schluß heißt es, „Kontextualität führte […] vielfältige Ansichten des literarischen Textes, zu deren Erklärung bisher zahlreiche unterschiedliche Ansätze erforderlich waren, zusammen.“ Die erarbeitete Begrifflichkeit sowie deren Anwendung und Theoretisierung bleibt jedoch zu ungenau und erzeugt aus sich heraus keine Relevanz – vor allem keine ‚Verstehensrelevanz‘ für das, was Kontext und Kontextualität sein könnte.
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