Das Exzentrische und das Gewöhnliche
Nicolas von Passavants literarischer Streifzug von Novalis bis Stuckrad-Barre
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Gewöhnliche und das Exzentrische scheinen auf den ersten Blick zwei sich ausschließende Begrifflichkeiten, ja zwei konkurrierende Konzepte zu sein. Umso aufschlussreicher liest sich Nicolas von Passavants umfassende Studie literarischer Konfigurationen des Gewöhnlichen. Bereits nach den ersten Seiten der Einleitung wird deutlich, inwiefern das Gewöhnliche und Exzentrische miteinander verschränkt sind.
Für die Untersuchung der Konzeptionen literarischer Exzentrik durchwandert der Autor verschiedene Epochen. Startpunkt ist die Frühromantik: Ausgehend von Novalis nähert sich von Passavant im ersten Kapitel dem Exzentrik-Begriff, der im deutschsprachigen Raum seinen Ursprung bei der Beschreibung von Planetenbahnen hat. „Bei Novalis funktioniert er bereits als soziale Metapher: Die Exzentriker erhitzen sich leichter, sind fröhlicher und der Inspiration näher.“ Auch der tragende Begriff des Gewöhnlichen wird ausgeführt, dieser ist weder „selbsterklärend, noch war er damals allgemein gebräuchlich.“ Der Autor schildert anhand von Novalis‘ Ästhetik dezidiert das dynamische Wechselverhältnis der romantischen Exzentrik und des Gewöhnlichen.
Die komplexen poetologischen Überlegungen des Schriftstellers, die mit der Konfiguration des Gewöhnlichen verbunden sind, werden im ersten Kapitel systematisch abgesteckt, indem etwa neben Novalis‘ Vorstellungen von Religion und Mythologie auch dessen Staatsverständnis in den Kontext dieser Wechseldynamik einbezogen wird. Dabei müsse man sich in der Vorstellungswelt des Romantikers nicht zwischen Monarchie oder Demokratie entscheiden: „Vielmehr sollen auch die beiden Regierungsformen, wie in der ästhetischen Wechselerhöhung und Erniedrigung, als Pole eines Spannungsfeldes aufgefasst werden […].“ In diesem Zusammenhang kommt die gesellschaftspolitische Dimension ins Spiel, indem Novalis‘ Metaphorik treffend veranschaulicht wird: „Wenn König und Königin aber nun die Sonne sind und die Bürger künftig künstlerische Kometen sein sollen, was ist dann nach Novalis‘ Staatsphilosophie die Rolle des Künstlers, bis dies erreicht ist?“ Es ist insbesondere diese politische Dimension, die der Konfiguration des Gewöhnlichen inhärent ist und die sich wie ein roter Faden durch die folgenden zwei Jahrhunderte zieht, wie von Passavant in den weiteren Kapiteln exemplarisch darlegt. Die nachromantische Exzentrik unterscheide sich insofern von den Gedanken Novalis‘, als sich „[d]ie politische Beteiligung des Bürgers […] bei Novalis darin [erschöpft], dass er mit seiner nach Maßgabe seines Charakters ausgeführten freien Bewegung ein imaginär aufgeladenes Zentrum umkreist und so einen Beitrag zu jener großen harmonischen Arabeske leistet, als die sich Novalis die ideale Gesellschaft vorstellt“.
Aufbauend auf dieser sehr ergiebigen Grundlage widmet sich von Passavant literarischen Sonderlingstypen als Figuration ,nachromantischer‘ Poetiken, die er in die Traditionslinie literarischer Exzentrik einordnet und im zweiten Kapitel anhand dreier einschlägiger Textbeispiele aus dem 19. Jahrhundert veranschaulicht. Dazu zieht der Autor Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzos Seebuch (1801), E.T.A. Hoffmanns Meister Floh (1821) sowie Jeremias Gotthelfs Hans Joggeli der Erbvetter (1848) heran. Die Untersuchungen erfolgen stringent an den jeweiligen literarischen Texten, in denen der romantische Diskurs weitergedacht und modifiziert wird. In E.T.A. Hoffmanns Meister Floh beispielsweise arbeitet von Passavant eine Transformation der „politischen Vorstellungen von Novalis“ heraus. Gemeinsam haben die exzentrischen Figuren ein auffällig ausgeprägtes Mitleidsempfinden, womit der allzu idealisierten Vorstellung von der Perfektibilität des Menschen in der Romantik ein alternativer Entwurf entgegengestellt wird. Einer weiteren poetologischen Strategie kommt der Autor im dritten Kapitel ,Cynische Subjektivität‘ auf die Spur. In Analogie zum zweiten Kapitel setzt er erneut drei Texte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Zentrum seiner Untersuchung: Theodor Vischers Auch einer (1879), Theodor Fontanes L’Adultera (1882) und Wilhelm Raabes Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (1890). Vor diesem Hintergrund arbeitet von Passavant ein verstärktes demokratisches Bewusstsein auch in den Texten heraus: „Bei Friedrich Theodor Vischer fand eine entsprechende Mentalität Ausdruck in der Freude über die Reichsgründung und der gleichzeitigen Weiterführung der polemisch-streitlustigen Kritikhaltung innerhalb des neuen gesellschaftlichen Rahmens“. Durch die theoretische Fundierung von Chantal Mouffes‘ agonistischen Demokratiemodells, nach dem politische Gegensätze in Demokratien konstitutiv sind und immer friedlich ausgehandelt werden müssen, gelingt hier eine herausragende Analyse, indem die Sonderlings- bzw. Dissensfiguren der jeweiligen drei Texte charakterisiert werden, ohne die politischen Implikationen aus den Augen zu lassen.
Der Sprung ins 20. Jahrhundert folgt mit dem vierten Kapitel „Agonistische Gewöhnlichkeitskritik modernistischer Poetiken“. Im Gegensatz zu Hermann Meyers Studie Der Sonderling in der deutschen Dichtung (1984) wendet sich von Passavant insofern von dieser Untersuchung ab, als er „ein Fortleben romantischer Impulse“ postuliert. In diesem Kapitel stellt von Passavant höchst unterschiedliche literarische Texte ins Licht seiner These von der Fortführung romantischer Impulse: Von Robert Walsers Helbings Geschichte (1913) über Thomas Bernhards Alter Meister (1985) und Sibylle Lewitscharoffs Consummatus (2006) bis Benjamin von Stuckrad-Barres Panikherz (2016), womit der Bogen sogar ins 21. Jahrhundert gespannt wird. Obgleich diese illustre Runde an Schriftstellern resp. Texten innerhalb eines Kapitels zunächst befremdlich erscheinen mag, gelingt es dem Autor, den roten Faden nicht zu verlieren und dem komplex anmutenden Titel seines Buches einmal mehr gerecht zu werden. So zeige sich z.B. bei Walser „am Beispiel der Angestelltenfigur geradezu paradigmatisch, wie das exzentrische Prinzip der Konfiguration des Gewöhnlichen neoromantischen Pathos in die Leere laufen lässt, während sich bei Kessel die politischen Implikationen einer exzentrischen Haltung abzeichnen“. Trotz des von historischen Zäsuren geprägte 20. Jahrhundert skizziert von Passavant den historischen Kontext in den Unterkapiteln, teils ergänzend in umfassenden Anmerkungen in den Fußnoten. Vor allem aus diesem politisch facettenreichen auch literaturgeschichtlich spannenden Jahrhundert hätte man sich noch mehr zu lesen gewünscht. Dafür ein Quäntchen weniger Novalis.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||