Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion
Von der Gründung bis zur Auflösung
Von Beatrice Occhini
Dieser Artikel ist Teil einer breiteren Forschung zur Entwicklungsgeschichte der sogenannten „Chamisso-Literatur“, verstanden als ein durch Transkulturalität und Mehrsprachigkeit geprägter Raum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Diese Forschung basiert u. a. auf dem Material der Adelbert-von-Chamisso-Sammlung im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) und wurde von einem Stipendium des C.H. Beck Verlags unterstützt. Die in diesem Beitrag zitierten Unterlagen werden mit freundlicher Genehmigung des DLAs, der Robert-Bosch-Stiftung und der jeweiligen Autoren/Rechtsinhaber veröffentlicht.
Der Adelbert-von-Chamisso-Preis beruft sich auf die Tradition des romantischen Schriftstellers Adelbert von Chamisso, der aus Frankreich nach Deutschland auswanderte und hier zu einem kanonisierten ‚deutschen‘ Schriftsteller wurde (Weinrich 2002: 4-8). Zwischen 1985 und 2017 zeichnete der Preis „literarische Leistungen in deutscher Sprache, erbracht von Menschen, die keine Deutschen sind und die nicht in der deutschen Sprache aufgewachsen sind“ (HCPS 1985a), aus. Während des 33-jährigen Bestehens dieser Auszeichnung, die durch Professor Harald Weinrich und die Wissenschaftler des Münchener Instituts für Deutsch als Fremdsprache (Irmgard Ackermann, Karl Esselborn, Dieter Krusche) mit der Unterstützung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Robert-Bosch-Stiftung ins Leben gerufen wurde, treffen eine literarisch-ästhetische Programmatik und eine erklärte kulturpolitische Zielsetzung aufeinander.
Mit der jährlichen Verleihung eines Haupt- sowie eines Förderpreises verfolgte das Projekt die Legitimation dieser Autoren, verstanden als Teil eines neuen literarischen Phänomens, für welches noch kein Konzept bestand:
Und wenn wir auch manchmal im Zweifel sind, wie wir diese halb ausländischen, halb inländischen Autoren nennen sollen, die manchmal keinen deutschen Pass, aber eine deutsche Feder haben, so sind wir augenblicklich aller Wortverlegenheit enthoben, wenn wir sie Chamissos Enkel nennen (Weinrich 1986: 11).
Das Preisprojekt diente von Anfang an einem parallelen soziokulturellen Ziel. Ausgehend vom literarischen Bereich sollte der Wandel der BRD zu einem Einwanderungsland anerkannt werden. Allerdings entstanden im Laufe der Jahre in dieser hybriden Zielsetzung und in den soziokulturellen Grundlagen des Preisprojekts Gegensätze, die durch Preisträger und Wissenschaftler ans Licht gebracht wurden. Aus unterschiedlichen Perspektiven wurde das Risiko der Einrichtung eines „Reservats“ (Hofmann 2006: 199) für „Schreibende mit einem besonderen Hintergrund“ (ebd.) hervorgehoben (vgl. dazu Dörr 2008, Kegelmann 2010). In diesem Sinne übte 1991 die Schriftstellerin Libuše Moníková anlässlich ihrer Preisverleihung eine erste weitreichende Kritik an der konzeptuellen Grundlage des Chamisso-Preises:
Der Preis ist für Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache bestimmt und erinnert mich daran, daß ich Ausländerin bin. Daran erinnern mich auch Kritiker, wenn sie Ausdrücke aus meinen Büchern, die ihnen nicht geläufig sind, als meine Eigenwilligkeit interpretieren, die einem nichtdeutschen Autor nicht zusteht […] Wenn Arno Schmidt schreibt: „der schneeweiße Spitz … boll sehr“ (Die Germanisten sollen nachschlagen, wo), wird er als innovativ, witzig, originell ästimiert. Wenn ich so etwas versuchte, würde es heißen: Die Ausländerin kann nicht einmal deutsch. (Moníková 1992: 122)
Die aus Prag stammende Autorin erkannte einen Ausgrenzungsmechanismus, der innerhalb des Preisprojekts zu finden sei: Ein freier, experimenteller Umgang mit der deutschen Sprache sei im Literaturbetrieb Deutschlands ausschließlich ‚deutschen‘ Autoren zuerkannt, was in der Exklusion der „Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache“ resultiere. Pointiert formuliert Eszter Pabis diese Ambivalenzen als grundlegendes Merkmal der Preisprogrammatik, die durch eine Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion gekennzeichnet ist:
Der exklusive Akt der Distinktion der Literatur bzw. der Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Herkunft als Adressaten eines Förderpreises […] diente des Weiteren ihrer Inklusion und führte auch zur Öffnung des Literaturkanons hinsichtlich der ‚Chamisso-Literatur‘, deren prinzipielle Ununterscheidbarkeit von der ‚deutschen‘ Literatur – paradoxerweise zwecks der Erfüllung der Zielsetzung – ab ovo angenommen wurde. (Pabis 2018: 193)
Diese Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion lässt sich über die gesamte Laufzeit der Auszeichnung erkennen: Zwischen der ersten und der letzten Preisverleihung ist ein komplexes Umdenken der konzeptuellen Grundlagen der Programmatik bezüglich literarischer bzw. kultureller Zugehörigkeit anhand der Dokumentation der Preisverleihungen nachzuvollziehen. Im Folgenden werden die bedeutendsten Etappen dieses Prozesses erläutert, die aus der Transformation der Kodifizierungen bzw. der diskursiven Kategorien bestehen, durch welche die ausgezeichneten Autoren als „Chamisso-Autoren“ inszeniert werden. Ausgehend von Moníkovás erwähnter Kritik wird zudem die Darstellung der Beziehung zwischen den Preisträgern und der deutschen Sprache nachgezeichnet. Der Verlauf dieser Dialektik, ihre Geschwindigkeit und ihre Etappen lassen sich als eine privilegierte Perspektive auf die Transformation der soziokulturellen Betrachtungsweise der kulturellen „Pluralisierung“ (Habermas 1998: 112-114) Deutschlands im Literaturbetrieb der letzten 40 Jahre definieren.
Die erste Phase der Entwicklung des Preises erstreckt sich bis in die Mitte der 90er Jahre. Im Laufe dieser Phase werden Gegenwartsphänomene, die das kulturelle Antlitz der deutschen Gesellschaft beeinflusst haben und in Richtung einer gesteigerten Vielfalt weisen, anhand der literarischen Erfahrungen der Autoren sichtbar (Weinrich 2008). In diesem Rahmen bleiben die generellen Bausteine der Autorinszenierung mehr oder minder unverändert bis Mitte der 90er Jahre. Sie sind bereits in der Pressemitteilung der ersten Preisverleihung an Aras Ören (1985) zu erkennen:
Der Adelbert-von-Chamisso-Preis für Beiträge ausländischer Autoren zur deutschen Literatur geht 1985 an den Türken Aras Ören. Der Preis […] soll Schriftsteller auszeichnen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, deren Werke aber von ihren Themen, Zielgruppen und Publikationsformen her der deutschen Literatur zuzurechnen sind (HCPS 1985b).
Im Speziellen gelten die Autoren wie zum Beispiel Aras Ören, Rafik Schami, Franco Biondi und Gino Carmine Chiellino als repräsentativ für die Arbeitsmigration; Ota Filip (1986) und Libuše Moníková (1991) aus der Tschechoslowakei, György Dalos und László Csiba aus Ungarn (1995) für die Ankünfte von exilierten Intellektuellen; und die DDR-Einwanderer Adel Karasholi (Syrien) und Galsan Tschinag (Mongolei) für die Wiedervereinigung.
Die Position der Autoren hinsichtlich ihrer ausgewählten literarischen Sprache wird dabei im Ausdruck „Deutsch als Fremdsprache“ kodifiziert, der wiederum der Formulierung „ausländische Autoren“ entspricht. Folglich wird die außergewöhnliche Beherrschung der Sprache der Autoren als Ergebnis eines mühsamen Erwerbsprozesses zelebriert. In der Laudatio für Ota Filip heißt es:
[A]lles begann mit einem Brief. […] In gebrochenem, aber durchaus verständlichem Deutsch stellte sich da ein Tscheche aus Ostrava vor. […] Daraus entwickelte sich […] eine lebhafte Korrespondenz. Ich schickte deutsche Bücher […] nach Slavic […]. Das Ergebnis war, daß die Briefe in einem immer besseren, ja flüssigen Deutsch abgefaßt waren. […] [I]ch möchte hier vor allem hinweisen auf die deutsche Sprachleistung, auf seine [Filips] schmiegsame, durchleuchtete, alle Valeurs und Schattierungen ausnutzende deutsche Sprache. (HCPS 1986)
Elke Sturm-Trigonakis ist der Meinung, dass in dieser ersten Phase des Projekts besagter Sprachwechsel, der an der Laufbahn der Schriftsteller zu erkennen sei, als Symbol erfolgreicher kultureller Assimilation verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang entspreche der Spracherwerb dem Ankommen in der deutschen Kultur, die, so Sturm-Trigonakis weiter, eine vollständige Aufgabe der Muttersprache – die de facto nie erwähnt wird – und der eigenen Kultur implizit voraussetze:
Nachdem die anfängliche Euphorie über diesen Preis mittlerweile etwa abgeebbt ist, erstaunt aus heutiger Perspektive, mit welcher Selbstverständlichkeit das Primat der deutschen Sprache zur Hauptsache deklariert wurde und der komplette Sprachenwechsel ins Deutsche zur Grundvoraussetzung für die Teilnehmer avancierte (Sturm-Trigonakis 2007: 48).
In der Preisgeschichte zeigte sich diese Tendenz besonders prägnant, als ab Anfang der 1990er Jahre Autoren der sogenannten zweiten bzw. dritten Generation ausgezeichnet wurden (Zafer Şenocak (Förderpreis 1988) und Zehra Çırak (Förderpreis 1989). Dabei setzte der Preis laut Esselborn einen Prozess in Gang, bei dem seine kulturtheoretischen Grundlagen ausgehandelt wurden (2004: 319-320). Exemplarisch hierfür ist die Pressemitteilung, die 1994 die Auszeichnung von Dante Andrea Franzetti ankündigt:
Der Adelbert-von-Chamisso-Preis geht 1994 an den Schweizer Autor italienischer Herkunft Dante Andrea Franzetti. Der […] Preis wird für bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur an Autoren verliehen, für die das Deutsche Fremd- oder Zweitsprache ist. […] Franzetti, geboren 1959 in Zürich, wuchs als Sohn eines Italieners und einer Mutter aus der romanischen Schweiz zweisprachig auf, mit den Erfahrungen zweier Kulturen, wie er sie in seinen ersten Romanen beschreibt (HCPS 1994).
Die Pressemitteilung hinterfragt suggestiv die Kriterien, die bis dato als selbstverständlich galten: Der Begriff ‚Ausländer‘ und seine Derivative werden ausgelassen, und an ihrer Stelle wird eine Autorbiographie beschrieben, die nicht hauptsächlich durch die Erfahrung der Migration geprägt ist, sondern vielmehr durch die Zugehörigkeit zu zwei Kulturen. Dementsprechend wird die Beziehung zwischen Autor und deutscher Sprache als komplexer dargestellt: Der Begriff der ‚Zweitsprache‘ begleitet den von Fremdsein geprägten der ‚Fremdsprache‘, dessen Überwindung programmatisch im folgenden Jahr im Grußwort verkündet wird:
[I]n Zukunft [sollte] der Chamisso-Preis nicht mehr so eindeutig wie bisher an die Voraussetzung ‚Deutsch als Fremdsprache‘ gebunden sein […]. Sein Auszeichnungsradius sollte vielmehr verschiedene Tätigkeiten im Dienste internationalen Sprachaustausches und internationaler Sprachbegegnung erfassen (HCPS 1995).
Laut Esselborn baut im Laufe der Jahrzehnte der Preis seine konzeptuelle Struktur deutlich um, die in der ausländischen Herkunft der Autoren, in der Rolle des Deutschen als Fremdsprache und im damit verbundenen Sprachwechsel bestehe (2004: 319-320). Aus diesen Gründen ist meines Erachtens die zweite Phase der Preisgeschichte in diesen Jahren zu verorten. Diese reicht bis an die Jahrtausendwende, die wiederum durch eine weitere Wandlung gekennzeichnet ist: Die ausgewählten Preisträger gelten nicht mehr als Vertreter bestimmter Migrationsphänomene. Ihr Werk wird nun als Ausdruck eines kosmopolitischen Bewusstseins, das die Grenzen der Nationalkultur bzw. -sprache überschreitet, wahrgenommen. So wird die freie Entscheidung der Autoren betont, wie es an der Laudatio auf Ilija Trojanow abzulesen ist:
[D]ieser Tatbestand des Exils ist für ihn nur dessen Anfang, die Ausgangslage – bevor das Spiel beginnt, das andere ‚Existenzkampf’ nennen. Er nicht – obwohl er weiß, daß der auf sich gestellte Emigrant kämpfen muß, aber, bitte schön, nicht verbissen, sondern mit Wagemut, Witz und Selbstvertrauen (Schütte 2000: 827).
In Übereinstimmung damit wird die Darstellung der individuellen sprachlichen Dimension der Autoren ebenfalls revolutioniert: Nun wird die Mehrsprachigkeit zu einem zentralen Charakteristikum des Profils der „Chamisso-Autoren“: „Trojanow […] ist […] zur Sprache gekommen, die er sich zum Ausdruck gewählt hat: in der der mehrsprachige Nomade seine Zelte aufgeschlagen hat“ (Schütte 2000: 830). Das bedeutet ebenfalls, dass Deutsch in der sprachlichen Biographie der Autoren keinen Zielpunkt mehr darstellt, dessen Erwerb gemäß den grammatikalischen Normen betont werden sollte. Zelebriert wird nunmehr die unterscheidbare Begegnung unterschiedlicher Sprachen im literarischen Stil der Autoren, also die bewusste Sprachhybridisierung, die der normativen Beherrschung der Grammatik entgegengesetzt wird. Dies wurde bereits bei der Preisverleihung an Emine Sevgi Özdamar (1999) als neues ästhetisches bzw. kulturpolitisches Ziel des Chamisso-Preises deklariert:
[D]er Preis zielt auf das Eigentümliche eines Sprachgebrauchs, welcher die Spuren vorheriger Aneignung nicht verwischt, sondern betont. […] So sehe ich auch die Zukunft des Chamisso-Preises […] nicht in der Annährung an eine wie immer verstandene Sprach-Einheit, sondern in einem entschiedenen literarischen Pluralismus. Was für die deutschen Schriftsteller in unserem Land recht ist, das muß auch für die deutschschreibenden Mitbürger aus anderen Ländern billig sein (HCPS 1999).
Es ist kein Zufall, dass das Profil des Kosmopoliten durch eine andere Figur begleitet wird, und zwar die des Übersetzers.
Für die letzte Phase des Chamisso-Preises ist es schwierig, eine deutliche Tendenz zu erkennen, vor allem wegen der überraschenden – und viel kritisierten – Abschaffung des Preises seitens der Robert-Bosch-Stiftung. In diesen Jahren setzt sich das Profil des kosmopolitischen Übersetzers als Stimme der globalisierten Welt durch. Beispiele dafür sind Autorinnen wie Ann Cotten (2014) und Uljana Wolf (2017), deren Poetik durch translinguistische Sprachhybridisierungen geprägt ist. In der Tat erweist sich nun die literarische Mehrsprachigkeit als eines der wichtigsten Auswahlkriterien der Preisträger, deren Ästhetik allmählich von jeglicher Migrationserfahrung getrennt wird. Das stellt den letzten, ausschlaggebenden Wendepunkt der Preisgeschichte dar: Die Trennung zwischen der Biografie der Autoren und ihrer literarischen Produktion resultiert in einer definitiven Überwindung der Herkunft als Auswahlkriterium und als kulturelle Grundlage der Preisprogrammatik. Darauf weisen Trojanow und José F.A. Oliver in ihrem Artikel gegen die Abschaffung des Chamisso-Preises hin: „[I]n letzter Zeit [hat sich der Preis] auch dem literarischen Phänomen der Mehrsprachigkeit, unabhängig von der Herkunft der Autoren, geöffnet und insofern zum Ausdruck gebracht, dass zwischen Migration und dynamischer kultureller Identität fließende Übergange bestehen.“(Trojanow/Oliver 2017).
Diese Entwicklung wird besonders evident bei der Auswahl von Uljana Wolf, eine einsprachig aufgewachsene Schriftstellerin deutscher Herkunft, ohne direkte Migrationserfahrungen in ihrer Geschichte. Mit spürbarem Bedauern bezieht sich Wolf auf diese verpasste Gelegenheit in der Preisgeschichte:
Für einen kurzen Moment übrigens schien es, als ob die Robert-Bosch-Stiftung bei der überraschenden Vergabe des Chamisso-Preises 2016 an Esther Kinsky und mich selbst in diese Richtung zielte: Ein Literaturpreis für Autor*innen jedweder Herkunft, deutsch-muttersprachliche eingeschlossen, die Sprach- und Kulturwechsel thematisieren und ästhetisch durchspielen. Dann wurde er abgeschafft (Wolf 2018).
Bei der letzten Preisverleihung 2017 trägt die Beschreibung der Preisprogrammatik den Stempel dieser weiteren Veränderung, die durch die Betonung der kulturellen neben der sprachlichen Ebene übermittelt wird: „Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ehrt die Robert Bosch Stiftung herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit der Sprache“ (Robert-Bosch-Stiftung 2017). Im Vergleich zu den ersten Erklärungen der Jury erweist es sich als schwierig, die Merkmale eines scharfen Autorprofils zu bestimmen, was auf die Schwierigkeiten verweist, den Rahmen, in dem sich der Preis in dieser neuen Phase bewegt, abzustecken. Dass der Preis seine eigene Existenz nur noch schwer begründen konnte, das heißt, dass die Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion nicht mehr aufrechtgehalten werden konnte, ist in der Pressemitteilung zu lesen, mit welcher die Bosch-Stiftung die Abschaffung des Projekts ankündigt:
Die Chamisso-Autoren werden schon lange für ihre literarischen Werke anerkannt. Sie benötigen keine besondere Auszeichnung mit dem Stempel ‚Eingewanderte’ oder ‚Autoren mit besonderen Fremdheitserfahrungen’. Wir befürchten im Gegenteil, dass der Preis kontraproduktiv wird, wenn er die Abstammung von Autoren heraushebt, während diese im gesellschaftlichen Alltag und im Literaturbetrieb immer weniger eine Rolle spielt (Robert-Bosch-Stiftung 2016).
Offensichtlich besitzt die Dialektik, die die Kriterien der Auswahl bzw. Inszenierung der Preisträger infrage stellt, ihre prägende Relevanz nicht nur jenseits dieser Preisgeschichte, sondern auch jenseits des literarischen Bereichs. So ist an der Laufbahn des Chamisso-Preises die Konstruktion desjenigen Bildes auszumachen, das Tzvetan Todorov zufolge „sich die Gesellschaft von sich selbst macht“ (Todorov 2010: 82), das heißt die Konstruktion ihrer eigenen kulturellen Identität (ebd.: 81-86).
Rebecca Braun weist darauf hin, dass jeder Literaturpreis zur Konstruktion dessen beiträgt, was sie als „Germanness“ (Braun 2014: 39) bezeichnet, die kulturellen bzw. literarischen Aspekte, die jeweils das inhärent ‚Deutsche‘ an der ‚deutschen Literatur‘ ausmachen. Während dieser Prozess von Bildkonstruktion bei anderen Literaturpreisen eher unterschwellig verläuft, rückt er in der Geschichte des Chamisso-Preises in den Vordergrund. Indem der Preis die Chamisso-Autoren und ihre Literatur als zugehöriger Teil der deutschsprachigen Literatur zu inszenieren und zu legitimieren versuchte, hinterfragte er die Grenzen der deutschsprachigen Literatur selbst. Die Kriterien der Auswahl der Autoren, deren Dekonstruktion wir beobachtet haben, sind im Endeffekt auch dieselben, die eine Literatur auf Nationalbasis bestimmen können: Herkunft, Muttersprache und literarische Sprache. Im Laufe der 33-jährigen Laufzeit des Chamisso-Preises zeigt sich, wie schwierig es ist, Literatur – und Kultur? – begrifflich angesichts eines komplexen gesellschaftlichen Rahmens, der durch Transkulturalität und Mehrsprachigkeit geprägt ist, zu bestimmen.
Folglich bringt die Entwicklung des Preises die Mechanismen von kultureller Inklusion und Exklusion, das heißt von kultureller Grenzziehung im literarischen Bereich zum Ausdruck. Und um es abschließend mit den Worten Todorovs zu sagen: „Die Trennungslinie verläuft nicht zwischen multikulturellen und monokulturellen Gesellschaften, sondern zwischen solchen, die ihrem Selbstverständnis nach ihre innere Vielfalt akzeptieren und schätzen, und solchen, die sie ausblenden und abwerten“ (Todorov 2010: 96).
Literaturverzeichnis
Braun, Rebecca: Prize Germans? Changing Notions Of Germanness And The Role Of The Awardwinning Author Into The Twenty-First Century. In: Oxford German Studies 43 (2014), S. 37-54.
Dörr, Volker C.: Deutschsprachige Migrantenliteratur. Von Gastarbeitern zu Kanakstas, von der Interkulturalität zur Hybridität. In: Hoff, Karin (Hg.): Literatur der Migration – Migration der Literatur. Frankfurt a.M. 2008, S. 17-34.
Esselborn, Karl: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung von Migrationsliteratur. In: Schenk, Klaus/Todorow, Almut/Tvrdík, Milan (Hg.): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen/Basel 2004, S. 317-325.
Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. 6. Auflage. Frankfurt a.M. 2003.
Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006.
Kegelmann, René: Türöffner oder Etikettierung? Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und dessen Wirkung in der Öffentlichkeit. In: Grimm-Hamen, Sylvie/Willmann, Françoise (Hg.): Die Kunst geht auch nach Brot! Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur. Berlin 2010, S. 13-28.
Moníková, Libuše: Ortsbestimmung. In: Janetzki, Ulrich/Rath, Wolfgang (Hg.): Tendenz Freisprache. Texte zu einer Poetik der achtziger Jahre. Frankfurt a.M. 1992, S. 117-123.
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Pabis, Eszter: Nach und jenseits der ‚Chamisso-Literatur‘. Herausforderungen und Perspektiven der Erforschung deutschsprachiger Gegenwartsliteraturen im Kontext aktueller Migrationsphänomene. In: ZiG. Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 9 (2018), H. 2, S. 191-210.
Schütte, Wolfram: Laudatio auf Ilija Trojanow. In: Bayerische Akademie der schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 14 (2000), H. 2, S. 827-830.
Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur: ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg 2007.
Todorov, Tzvetan: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen. Hamburg 2010.
Trojanow, Ilija/Oliver, José F. A.: Ade, Chamisso-Preis?. In: faz.net, 21.9.2016. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso-preis-14443175.html[Abruf am 9.5.2020].
Ders.: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis. In: Heinz, Friedrich (Hg.): Chamissos Enkel. Zur Literatur von Ausländern in Deutschland. München 1986, S. 11-14.
Ders.: Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte. Zur Vorgeschichte des Adelbert-von-Chamisso-Preises. In: Pörksen, Uwe/Busch, Bernd (Hg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Göttingen 2008, S. 10-29.
Wolf, Uljana: Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden. Keynote. Berlin Polylingual. Parataxe Symposium IV, 23. November 2018. In: stadtsprachen magazin. URL: https://stadtsprachen.de/text/wovon-wir-reden-wenn-wir-von-mehrsprachiger-lyrik-reden/ [Abruf am 9.5.2020].
HCPS: Material aus dem Bestand H: Chamisso-Preis-Sammlung des Deutschen Literatur Archivs:
1985a: Preisverleihung an Aras Ören, „Begrüßung“.
1985b: Preisverleihung an Aras Ören, „Pressemitteilung“.
1986: Preisverleihung an Ota Filip, Horst Bienek, „Laudatio auf Ota Filip“.
1994: Preisverleihung an Dante Andrea Franzetti, „Pressemitteilung“.
1995: Preisverleihung an Gyorgy Dalos, Heinz Friedrich, „Vorrede“.
1999: Preisverleihung an Emine Sevgi Özdamar, Sigrid Löffler, „Pressemitteilung“.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen