Lesen in der Corona-Krise – Teil 11

Ein Gespräch mit Lucie Langston, die es mit einem Corona-Comic in die New York Times schaffte

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Die Mainzer Comic-Künstlerin und Design-Studentin Lucie Langston erlebte Pandemie und Lockdown als psychische Belastung. Ihr Auslandssemester in Cardiff musste sie abbrechen und kehrte nach Mainz zurück, wo sie tagelang isoliert zu Hause blieb. Im Naturschutzgebiet Großer Sand fand sie schließlich Trost und verarbeitete diese Erfahrung in dem Comic Through the Dunes, der schließlich in der New York Times veröffentlicht wurde.

 

Ihr Corona-Comic Through The Dunes ist vor kurzem in der New York Times erschienen. Wie kam es dazu?

Wie viele Menschen weltweit musste ich mich nach Covid-19 richten und mein Erasmus-Semester nach nur drei Monaten von Cardiff, Wales, nach Mainz verlegen. Das Auslandssemester habe ich sozusagen im Homeoffice zu Ende studiert und konnte zeitgleich dankenswerterweise sofort in das neue Sommersemester an meiner Hochschule Mainz einsteigen. Ich belegte einen Illustrations-Kurs bei Frau Professor Monika Aichele, welche, nachdem deutschlandweit alle Veranstaltungen abgesagt wurden, nonchalant ihr Kursthema wechselte und uns Studierenden anbot, etwas zum Onlinetagebuch „Art in Isolation“ der New York Times beizutragen.

Ich war sofort Feuer und Flamme, da ich zu meinen Erfahrungen und Gefühlen während der Anfangszeit der Pandemie arbeiten wollte und eine vage Vorstellung davon hatte, was es letztlich auch geworden ist: ein 16-seitiger Comic über meine psychische Gesundheit, dem Umgang mit der Isolation und der allmählichen Bewältigung. Nach zwei Monaten intensiver Arbeit zuhause und zahlreichen Videokonferenzen mit dem Kurs schickte ich den entstandenen Comic an die Opinion Redaktion der New York Times und erhielt nach zwei Wochen eine positive Antwort. Letztendlich bekam mein Comic einen eigenen Artikel im Op-Ed der NYT.

Eigentlich sind Sie Illustratorin, aber Sie haben sich für eine hybride Form, den Comic, entschieden. Welchen Mehrwert hat für Sie die Verbindung aus Bild und Text? Wann wählen Sie Text, wann Bild?

Ich verstehe mich als Illustratorin und Comiczeichnerin. Sie haben gerade selbst den Comic als Hybrid bezeichnet, was den Mehrwert dieser Kunstform schon andeutet. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht in Worte fassen. Ich fühle nicht das Gleiche, wenn ich das Wort „blau“ lese, wie wenn ich eine blaue Fläche betrachte. Ich wäge also ständig ab, welche Bilder gezeichnet und welche Gedanken beschrieben werden können. Welche Bilder kann ich mit welchen Worten kombinieren, um ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen oder eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen? Was sieht zusammen spannend aus? Wie erzeuge ich das Bild von Langeweile ohne zu langweilen? Wie führe ich die Leser*innen von Seite zu Seite? Welche Objekte unterstützen meine Geschichte? Aber auch: Welche Gedanken schreibe ich auf und welche müssen sich Leser*innen selbst machen?

Letzteres ist eine wichtige Frage. Manche Sequenzen sind zu schwer oder gar traumatisch, um sie zu erzählen oder bildlich darstellen zu wollen. Dann zeichne ich ein vageres Bild, eine Andeutung oder etwas Stellvertretendes, eine Metapher vielleicht, damit Leser*innen mehr Distanz zum Dargestellten wahren können. Der Bildteil kann aber auch nur eine spezielle Atmosphäre schaffen, welche durch den Text ergänzt wird. Oft sind jene Seiten für mich persönlich besonders gelungen, für die ich keinen Text brauche, um meine Geschichte zu erzählen. Ein einzelnes Bild hat wiederum nur einen begrenzten narrativen Raum. Setzt man allerdings Bilder in Sequenz, kann man auch ganz ohne Worte eine Geschichte erzählen. Wie ich finde, sollte der Text im Comic nicht die Bilder nacherzählen, sondern ihnen einen Mehrwert bringen oder eine weitere Bedeutung oder Interpretation auftun.

Es handelt sich um einen autobiografischen Comic – das scheint ein neuer alter Trend zu sein?

Autobiografische Comics von Frauen gibt es schon seit der US-amerikanischen Untergrundbewegung „Comix“ der 70er Jahre. Aline Kominsky-Crumb hat in Love That Bunch in brutaler Ehrlichkeit so ziemlich alles von sich preisgegeben, was ein Stift auf Papier bringen kann. Der Comic wurde als Kunstform in Deutschland nicht besonders wertgeschätzt. Die meisten denken an muskelbepackte maskuline Superhelden und seichte massenkompatible Unterhaltung. In den Kulturwissenschaften werden Comics auch noch nicht lange studiert. Die Wahrnehmung des Comic-Genre hat sich in den letzten Jahren stark geändert. Mit großen Comics wie Art Spiegelmans Maus oder Ulli Lusts Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens und vielen weiteren bedeutenden Werken hat sich gezeigt, dass Comics Kunst sein können. Gerade Frau Lust ist eine deutschsprachige Autorin, deren autobiografisches Werk weltweite Anerkennung bekommen hat.

Vor wenigen Wochen hat die Fachjury des renommierten Max und Moritz-Preises sechs der neun Preis-Kategorien an Künstlerinnen vergeben. Darunter wurde Julia Bernhard in der Kategorie „Bestes deutschsprachiges Comic-Debüt“ für Wie gut, dass wir darüber geredet haben ausgezeichnet. Der Comic zeigt verfehlte Gespräche aus der Perspektive einer jungen Frau und vor allem die Erwartungshaltung, die die Gesellschaft gegenüber Frauen Ende 20, Anfang 30 hat. Natürlich spricht Bernhard, wenn auch überspitzt, aus ihrem Leben. Ich behaupte also, dass autobiografische Comics von Frauen gefragt sind. Wurde ja auch mal Zeit.

In Ihrem Corona-Comic beschreiben Sie neben der Depression vor allem das Gefühl der Einsamkeit – würden Sie das als eines der zentralen Gefühle während der Corona-Pandemie betrachten?

Ja, Einsamkeit kann ein Resultat der Umstände der Pandemie sein. Allerdings glaube ich, dass zentralere Gefühle Unsicherheit und Angst gewesen sind. Wie geht es weiter? Kann ich mich anstecken? Möchte ich nochmal in den Supermarkt gehen, wenn ich etwas vergessen habe und setze ich mich dort einer Gefahr aus? Sind Asthmatiker*innen schwerer betroffen im Falle einer Erkrankung? Was passiert mit mir bei einem schweren Verlauf? Aber auch, wie geht es Anderen? Was machen Obdachlose in dieser Zeit? Sterben jetzt die Tauben, wenn wir alle zu Hause bleiben und niemand Müll in der Innenstadt hinterlässt?

Wir hatten viel Zeit, uns Sorgen zu machen. In meinem Fall haben mich diese Sorgen dazu veranlasst, tagelang das Draußen zu meiden. Wenn ich mich doch nach draußen gewagt habe, haben Unwohlsein und Unbehagen dominiert, was zu Gefühlen von Einsamkeit geführt hat.

Es heißt in Ihrem Comic auch: „Depression, asthma, anxiety, isolation, feeling lonely or lost: It is a slow battle, but I can win.“ Wie lässt sich dieser Kampf gewinnen?

Wir tun gut daran, zu lernen, alleine zu sein. Mir fällt es nicht leicht, mich über lange Zeiträume auszuhalten. Wenn ich versuche, mich besser kennenzulernen und auch meine schlechten Gefühle zu akzeptieren und zuzulassen, wird mein Verhältnis zu mir besser. Ich finde es wichtig, über meine Defizite reden zu können oder meine Gedanken aufzuschreiben, in einem Tagebuch zum Beispiel. Letztendlich geht es immer um die Auseinandersetzung. Wenn ich mich vor schweren Situationen verstecke, meine Gefühle unterdrücke, nicht darüber rede und mich gleichzeitig in eine gewollte oder ungewollte Selbstisolation begebe, ist die Gefahr groß, depressiv zu werden, unter Ängsten zu leiden oder die Situation mit schlechten Gewohnheiten zu kompensieren. Das ist ziemlich viel Eigenverantwortung für jeden. Für mich war es das kathartische Zeichnen, was mir eine intensive Auseinandersetzung und Reflexion ermöglicht hat.

Sie erwähnen in Ihrem Comic eine „neue Normalität“ und die Angst, dass das Extreme zum Normalfall wird: Tatsächlich ist immer wieder die Rede davon, dass das Virus uns noch länger begleiten wird – wie können wir mit dieser „neuen Normalität“ leben?

Ich bin sehr dankbar, dass meine neue Normalität nicht der jener Länder oder Städte gleicht, wo vergleichsweise hohe Fallzahlen und viele Tote zu beklagen sind. Auch wenn ich mittlerweile recht gut mit der Pandemie zu leben gelernt habe, gibt es vieles, was ich sehr vermisse: Buchmessen, Lesungen, Theater, Konzerte. Das bedeutet, dass wir in dieser Zeit verzichten müssen. Niemand trägt gerne eine Maske, aber wir können nur gut in dieser neuen Normalität leben, wenn wir alle aufeinander achten und respektvoll miteinander umgehen. Wir können uns über unsere Erfahrungen austauschen, auch mal über sie lachen und uns beistehen, wenn sich jemand krank fühlt. Wir halten solidarisch Abstand und fragen einander trotzdem, wie es uns in dieser Zeit geht, erzählen uns Pandemie-Lifehacks und backen öfter mal mit Liebe einen Kuchen.

In Through The Dunes schaffen Sie schließlich den Ausbruch aus der Isolation zu Hause und gehen in das Naturschutzgebiet Mainzer Sand. Welche Wirkung hat dieses Hinausgehen in die Natur auf Sie? Kann Naturerfahrung als Bewältigungsstrategie während der Pandemie betrachtet werden?

Gerade das Frühjahr war dieses Jahr eine Explosion der Natur, wenn man so will. Es war sehr mild und sonnig, die Bäume und Gräser haben früh angefangen zu blühen. Die Allergiker*innen unter uns haben sicher den frühen, starken Pollenflug mitbekommen. Ich hatte beim Rausgehen sofort den Eindruck, der Natur ist die Pandemie egal, sie wartet nicht auf uns, bis wir aus unseren Verstecken hervorgekrochen kommen. Im Gegenteil, alles wächst und lebt ganz besonders gut und ganz besonders gut ohne uns.

In dieser Zeit nahm ich viele Nachrichten über die positiven Auswirkungen der Pandemie auf unsere Umwelt wahr. Für mich persönlich war das Spazierengehen und die Naturerfahrung hilfreich, um einzusehen, dass das Leben weiter geht und dass auch ich weiterlebe. Beim Spazierengehen vergaß ich die Sorgen und schlechten Nachrichten und war wieder vom Leben fasziniert.

Mit dem Ausbruch der Pandemie mussten Sie Ihr Auslandssemester in Cardiff unterbrechen und nach Mainz zurückkehren. Spielen Orte für Ihre Kunst eine Rolle? Wie hätte ein Corona-Comic ausgesehen, der in Cardiff entstanden wäre?

Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits sind die Orte in meinem Comic sehr wichtig, da es eben ein autobiografischer Comic ist und ich an genau diesen Orten mein Leben festgehalten habe, um dann besser weiterleben zu können. Andererseits geht das Zimmer, die Wohnung oder das Draußen ein in jedes andere Draußen und Drinnen dieser Welt. Mein Ort verbindet sich mit den Orten und Gefühlen, die Menschen auf der ganzen Welt während des Lockdowns bewohnt oder erlebt haben. Diese Gefühle scheinen doch universell zu sein. Spielt genau das Zimmer oder genau das Naturschutzgebiet die entscheidende Rolle? Ich setze mich mit den Orten meiner Pandemieerfahrung auseinander. Die Fenster aus denen ich täglich hinausgeblickt habe, die WG-Küche, das Dachzimmer, die Dinge um mich herum, Tassen, Kissen etc. Aber auch der Mainzer Sand wird für die Leser*innen zum Erlebnis, wie ich ihn erlebt habe, hell und strahlend.

Ich nehme die Leute kurz mit hinaus aus diesem Lockdown-Trott in eine surreale Frühlingswelt, wo das Leben trotz der Pandemie weiterlebt und wächst. Diese Farben hätte es in Wales mit Sicherheit nicht gegeben, dafür vielleicht jede Menge Regen, Pfützen, meine Spiegelungen in diesen Pfützen, der graue Himmel etc. Ich hätte etwas anderes gefunden, was mich inspiriert und durch diese Zeit begleitet.

Sie haben zahlreiche Rückmeldungen erhalten: Wie reagieren internationale Leser*innen auf Ihren Comic?

Die Rückmeldung war überwältigend. Mich erreichten Nachrichten aus aller Welt und natürlich vermehrt aus New York. Die Reichweite der New York Times ist riesig. Alle E-Mails und Nachrichten waren positiv, teilweise emotional und bewegend. Viele New Yorker*innen, aber auch Menschen aus anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel Neuseeland, Indien oder Südafrika, haben mir ihre eigenen Geschichten geschildert und sich bei mir bedankt, dass ich meine Erfahrungen so persönlich aufbereitet habe. Ich war darauf nicht vorbereitet und habe mich beachtet und honoriert gefühlt.

Das Online-Projekt der New York Times „Arts in Isolation“ ist ein Beispiel dafür, dass Kunst während der Pandemie eine zentrale Bedeutung zukommt. Welche Funktion würden Sie Kunst in Pandemie-Zeiten zusprechen?

Ich habe Kunst in dieser Zeit vor allem als verbindendes Element wahrgenommen. Selbst bei einem persönlichen Projekt wie einem autobiografischen Comic fühlen sich Menschen aus der ganzen Welt mit mir verbunden. Gibt es etwas Schöneres gegen die Einsamkeit? Das ist für mich etwas Berührendes, was man nicht wirklich in Worte fassen kann, über meine Kunst mit anderen Menschen verbunden zu sein. Wir erkennen uns in vielen Kunstwerken, Illustrationen, Musikstücken etc. wieder. Das Erkennen und Erkanntwerden verbindet und stärkt die Menschen während dieser weltweiten Krise.

Haben Sie weitere Corona-Kunstprojekte geplant?

Mit Covid-19 als zentralem Thema habe ich keinen weiteren Comic geplant. Mich interessieren nebenbei jedoch journalistische Comics und da greife ich gerade die durch die Pandemie beleuchteten Missstände, wie sie etwa in der Fleischindustrie und in der Erntezeit zu finden sind, auf. Besonders die fürchterlichen Arbeitsbedingungen mit Werksverträgen in Deutschland und ähnlich ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, die in England, aber auch in den USA, gang und gäbe sind, haben mir sehr zu schaffen gemacht. Allerdings hat meine Bachelorarbeit nun Vorrang und wird mich in den nächsten Monaten beschäftigen.

Anmerkung der Redaktion: Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Illustrationen danken wir der Künstlerin.

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.