Deutschlands Psychiater in ihrer Stellung zu den Revolutionären

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Als Heinrich Mann vor einigen Jahren in seinem Roman Die Armen ein unerfreuliches Bild von den Psychiatern zeichnete[1], beklagten sich nicht wenige in den Fachzeitschriften[2] über seine lieblose Darstellung. Es verletzte sie; sie waren in ihrer Eitelkeit gekränkt, daß die Führer der Modernen (Heinrich Mann ist ja nur einer von vielen) in den Psychiatern, den »See­lenärzten«, nur willige Werkzeuge der herrschenden Gesellschaftsordnung sehen.

Im letzten Heft der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie (Bd. 52, S. 91) schreibt ein Herr Dr. Eugen Kahn[3] aus Kräpelins[4] psychiatrischer Klinik in München über Psychopathen als revolutionäre Führer, als ob er den Haß gegen die Psychiater als berech­tigt erweisen wollte. 66 Leute waren ihm in seiner Eigenschaft als Anstaltsarzt zur Untersu­chung zugeführt worden und nicht weniger als 15 sind nach ihm »minderwertig«. Er folgt ganz den Fußspuren seines Herrn und Meisters Kräpelin. Wenn er nur 15 als defekt ansieht, so ent­schuldigt er sich, indem er hinzufügt, daß kaum einer »als psychisch« völlig intakt erachtet wer­den kann«.

Hinter leicht durchsichtigen Pseudonymen werden uns die bekannten Führer der bayrischen Revolution vorgeführt. Herr Dr. Eugen Kahn teilt sie in vier Gruppen, und ich möchte aus der Verborgenheit der Fachzeitschrift einen oder den andern hervorholen, um zu zeigen, wie deut­sche Psychiater, »unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen« ihr Urteil abgeben.

Als ethisch defekten Psychopathen sieht er an:

»Robert Iglauer, 21 Jahre, ledig, Matrose.

Personalakten vernichtet. Stelzner berichtet über ihn, daß er sich in verschiedenen Berufen versucht, ein Jahr Zuchthaus hinter sich habe und wegen Marinemeuterei zum Tode verurteilt worden sein. Mitbe­gründer der Kommunistischen Partei München. Hatte schon vor dem Aprilumsturz im geheimen rote Ar­mee gebildet; plante gegen maßgebende Personen schärfstes Vorgehen. Während der Räterepublik Stadt­kommandant, Oberbefehlshaber der roten Armee. Wilde Erlasse. War einverstanden mit dem Vorschlag, daß für jeden Rotgardisten fünf Geiseln erschossen werden; gab schriftlich sein Einverständnis zum Mün­chener Geiselmord. Plante, vor Einzug der Regierungstruppen die Münchener Bürger auf der Theresien­wiese zusammenschießen zu lassen. Brutal, herrschsüchtig, eitel, ungebildet, mäßige Intelligenz. Athleti­sches Äußeres. Bei Fluchtversuch erschossen.

Antisozialer Psychopath.«

Das ist Egelhofer[5]. Wer ihn kannte, weiß, daß er ein mutiger, klarsehender Revolutionär war, der tatkräftig das von ihm als richtig erkannte verfolgte und sich mit seiner Person dafür einsetzte. Er war gerecht denkend und wollte daher dem Proletariat, dem er entstammte und dessen Leiden er zur Genüge kannte, geben, was es brauchte: den Reichen den Überfluß nehmen und ihn den Armen geben.

»Brutal«. Er hatte für das Leiden jedes Proletariers ein mitfühlendes Herz.

»Herrschsüchtig«. Man mußte ihn bitten, bis er einwilligte, die Stadtkommandatur zu über­nehmen. [188]

»Eitel«. Von seinem Wirken ist nur das wenigste bekannt geworden. Er suchte zu hindern, daß er gerühmt wurde.

»Ungebildet«. Eine formale Bildung hatte er sich allerdings in Deutschlands Volksschulen nicht aneignen können.

»Mäßige Intelligenz«. Durch seine Klugheit war er den Bürgern einer der verhaßtesten und gefürchtesten, weil gefährlichsten.

»Bei Flutversuch erschossen«. Mit Verlaub, Herr Kahn: nicht auf der Flucht erschossen, son­dern von Ihren Freunden, den Weißgardisten, aufs brutalste mit Gewehrkolben zu Tode gemar­tert. Wofür genügend Zeugen da sind!

Ein anderer Typ, hysterische Persönlichkeiten. Hierher zählt Herr Kahn den 26jährigen Stu­denten Sinner. Nur ein Auszug aus der Geschichte:

»Schwer belastet. Sorgenkind … Lebensüberdruß. Begabter Gymnasiast, schauspielerisches Talent, hohe Meinung von sich … Aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten … verliest eigenen Aufruf an das deut­sche Volk; hetzt in Versammlungen zum Streik. Verhaftet; wegen nervöser Beschwerden bald entlas­sen … intelligent; erregbar, gedrückt, enttäuscht, verzweifelt … gequält, theatralisch, Phrasen … Menschheitsbeglücker … viele Erlasse … gegen Blutvergießen, für Verhandeln … Als dichterisches Talent lauter, weltfremd bezeichnet.«

Das soll Toller[6] sein. Nicht unser Freund. In ihm den Prototyp »des intellektuellen hysteri­schen Dégénérés« zu sehen, ist albern und blöd.

Auch ich glaube, daß Ernst Toller ein Psychopath ist. Aber was will denn das besagen? Herr Kahn, als Fachmann, könnte doch wissen, daß man endlich auch in psychiatrischen Kreisen so weit ist, einzusehen, daß das Wort »Psychopath« nicht ein Werturteil ist. Der Meister der Neu­rologie, der jüngst verstorbene Berliner Oppenheim[7], hat zweifellos recht, wenn er betont, daß hohe geistige Begabung und normale Entwicklung der ethischen Eigenschaften mit psy­chopathischer Grundlage wohl vereinbar sind. Ja, es gibt sogar eine Höherwertigkeit, die ihre Wurzel in der Psychopathie hat. Solche psychopathischen Personen können Gipfel der kultu­rellen und geistigen Entwicklung darstellen. Ich erinnere an Kleist oder Schopenhauer.

Aus der Gruppe der fanatischen Psychopathen, in der man u. a. auch Mühsam findet, nur noch ein Beispiel, aber nicht im Auszug um die ganze hemmungslose Anmaßung des Herrn Kahn zu zeigen:

»Otto Wasner, 51. Jahre, verh., Schriftsteller.

Gymnasialbildung, studierte. War freier Schriftsteller, Journalist, mehrfach auch Redakteur. Dichtete sozialistische Schriften. Verheiratet, geschieden, später wieder geheiratet. Hielt Vorträge und Lehrkurse über soziale und historische Themata für Arbeiter. Januar 1918 nach mißlungenem Streik wegen Landes­verrats unter Anklage; lange in Haft. Leitete die Revolution in süddeutschem Bundesstaat, dessen Mini­sterpräsident er dann wurde. Gewandter Redner, politischer Dilettant. Richtete Arbeiter- und Soldatenrä­te ein; versprach allen Parteien etwas. Belehrte Spartakisten, die eine bürgerliche Zeitung besetzt, zweifel­hafte Existenzen, die in eine ausländische Gesandtschaft eingedrungen waren; hielt im Theater Rede an Mittelschüler; inszenierte Revolutionsfeiern. Glaubte, guten Frieden machen zu können. Wurde erschos­sen. Intelligent, erregbar, phantastisch, fanatisch; eitel bis zur Selbstüberschätzung, großsprecherisch; Phraseur, Poseur; empfindsam (Briefe).« [189]

Das soll Eisners[8] Persönlichkeit sein, des Dichters der Weltbefreiung, des Mannes, der für seine Überzeugung ins Gefängnis ging, des Mannes, der keine Konzessionen machte. Ein Mann, an dessen Bahre Gustav Landauer sagte, das Leben sei verarmt. Nach Herrn Kahn legt ein Mann wie Eisner »bei aller Hingerissenheit für seine Idee den größten Wert darauf«, »sich selber in Szene zu setzen«.

Herr Kahn ist ein exakter, gewissenhafter Wissenschaftler und deshalb vergißt er nicht »ei­nen alten Schizophrenen« zu erwähnen, der mehrere Tage der roten Armee angehörte und so­mit die ethische Inferiorität der Armee beweist.

Allen Revolutionsführern gemein ist im allgemeinen der »intellektuelle Tiefstand, primitive, ungehemmte Affektivität, blinde Triebhaftigkeit«. Also Herr Kahn, nach dem diese Leute wie Eisner »gesellschaftsfeindlich« sind. Was braucht Herr Kahn, wenn er Gutachten über ihm an­vertraute Menschen abgibt, sich mit Marx zu beschäftigen. Ihm genügt die gute liberale Phra­seologie. Gesellschaftsfeindlich, als wenn diese Gesellschaft, die heute herrscht, nicht abster­bend ist und den Todesstoß schon allein für den Krieg und die Greuel, die sie in München, Ham­burg, Ungarn usw. beging, verdiente.

Noch eins: Herr Kahn liebt die Landfremden nicht; besonders nicht die Juden. Nicht die gu­ten Bajuvaren sind es, die die Revolution »machten«. Wir glauben es gern. München, das wir lie­ben, ist keine Schöpfung engherzigen Lokalpatriotengeistes, sondern die Metropole inter- und antinationaler Dichter und Denker. Aus Levinés[9] grandioser Rede vor dem Militärge­richt[10] (das Herr Kahn liebt, nicht aber wir) möchte ich einen Satz hierher setzen: »Wie konn­te ich (ein Jude, ein Russe, ein Nicht-Bayer) mir anmaßen, einen Posten anzunehmen, der dem ei­nes Ministerpräsidenten entsprach? Um das zu verstehen, müssen Sie sich hineinversetzen in die Denkweise der internationalen Arbeiterschaft, in unser Ideal der deutschen Räterepublik und später der internationalen Räterepublik. Wir waren selbstverständlich der Ansicht, daß in jeder Räterepublik jeder mitarbeiten konnte und den Posten übernehmen mußte, den ihm das Prole­tariat übertrug, wenn er sich ihm gewachsen fühlte.«

Das bayrische Volk, auch die Münchener Arbeiter, stammelten und lallten in den herrlichen Apriltagen; und Nord-Deutsche, Russen und – horribile dictu – Juden mußten ihr ihnen kaum bewußtes Fühlen, Denken und Wollen übersetzen und ihre Haut zu Markte tragen: Le­vien[11], Leviné, Landauer, Axelrod[12], um nur einige zu nennen. Bewußt sind sie in den Tod gegangen – für das Volk, von dem sie die Erneuerung erwarten.

Psychiatrisch diese Männer werten kann wohl nur die Leichtfertigkeit eines ganz von bür­gerlichen Vorstellungen abhängigen »Forschers«. An ihrem Grabe mögen die leertönenden Worte des Pseudowissenschaftlers schweigen, der sich selbst als Schützer der Gesellschaft be­zeichnet und der Prototyp des Arztes ist, wie er nicht sein soll.

Editorische Hinweise von Thomas Anz

Erstdruck: Fidelis: Deutschlands Psychiater in ihrer Stellung zu den Revolutionären. In: Das Forum 4 (1919/20), H. 5 (Febr. 1920), S. 397-400. Nachdruck in: Phantasien über den Wahnsinn. Expressionistische Texte. Hg. von Thomas Anz. München: Hanser 1980. S. 142-147.

Der folgenden Anmerkungen sind übernommen aus dem Nachdruck in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Mit Einleitung und Kommentaren herausgegeben von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart: J.B. Metzler 1982. S. 187–190.

Zu dem  Pseudonym „Fidelis“  ist im Register des Bandes angegeben: „Vielleicht ein Mitglied des revolutionären Hochschulrats in München 1918 / 19, z. B. Alexander Strasser, KPD-Mitglied u. Neffe Pfemferts, oder Hans Bloch, der in Gustav Landauers Büro arbeitete“. Inzwischen ist weitgehend gesichert, dass der Autor Felix Boenheim, geb. am 17. Januar 1890 in Berlin, gest. am 31. Januar oder 1. Februar 1960 in Leipzig, ist. Der Arzt war mit dem Kriegsgegner Georg Friedrich Nicolai befreundet und an der Novemberrevolution als Arbeiter- und Soldatenrat der USPD beteiligt. Erich Mühsam schlug ihn im April 1919 für das Amt des Bayrischen Justizministers vor, als in München die Zweite Bayerische Räterepublik ausgerufen wurde (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Felix_Boenheim). Vgl. dazu auch Thomas Beddies: „In den Symptomen des Niedergangs, über die sich so viele entrüstet haben, habe ich nichts erblicken können als Krankheitserscheinungen“. Profilierung und Positionierung deutscher Psychiater nach dem Ersten Weltkrieg. In: Heinz-Peter Schmiedebach: Entgrenzungen des Wahnsinns. Psychopathie und Psychopathologisierungen um 1900. Berlin 2016. S. 29-44.

[1] Heinrich Mann: Die Armen. Roman. Leipzig: K. Wolff [ 1917]. Hier S. 130-148.

[2] Ermittelt werden konnte: Dr. Hermann Haymann: Irrenärrztliche Bemerkungen zu H. Manns neuen Buch. In: Zs. f. die gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. 39, H. 12, 3. Febr. 1918, S. 225-228.

[3] Dr. Eugen Kahn: Psychopathen als revolutionäre Führer. In: Zs. für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. 52 (6. Okt. 1919), H. 1/3,S. 90-106.

[4] Emil Kräpelin (1865-1926), einer der namhaftesten Psychiater seiner Zeit, seit 1903 in München tä­tig.

[5] Rudolf Egelhofer, 13.4.1896 geb. in München, revolutionärer Matrose, vom 13.-17. April 1919 Stadtkommandant von München, seit 16. April Oberkommandierender der Roten Armee, am 3. Mai 1919 bei seiner Gefangennahme erschlagen.

[6] Toller erzählt in dem Kapitel »Irrenhaus« seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland (Amster­dam: Querido 1933) über den damaligen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik (E. T.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hg. v. W. Frühwald u. J. M. Spalek. [München, Wien] 1978. S. 103-107). Zu den ärzt­lichen Gutachten über Toller siehe auch W. Frühwald/J. M. Spalek (Hg.): Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. München, Wien 1979. S. 40.

[7] Hermann Oppenheim (1858-1919), gründete 1891 eine bald weltberühmte private Nervenklinik, seit 1893 Professor in Berlin.

[8] Kurt Eisner (1867-1919), Journalist, Schriftsteller, Politiker; seit 1917 Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokraten, als deren Führer er am 7.11.1918 in München die Räterepublik ausrief und baye­rischer Ministerpräsident wurde; am 21. Febr. 1919 von Graf Arco Valley erschossen.

[9] Siehe Anm. 1 zu Dok. 47 in Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920.

[10] Abgedruckt in Eugen Leviné: Ahasver, Rede vor Gericht und anderes. Berlin 1919. S. 21-29. Aus­zugsweiser Nachdr. in: Tankred Dorst/Helmut Neubauer (Hg.): Die Münchener Räterepublik. Zeug­nisse und Kommentar. Frankfurt/M. 1966. S. 157-167.

[11] Max Levien, 21.5.1885 geb. in Moskau, Studium in der Schweiz und in Deutschland, Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD in München, nach der Räterepublik Flucht vor der Polizei nach Rußland, dort verschollen.

[12] Towia Axelrod, 1887 geb. in Moskau, Schriftsteller, 1917 Pressechef der Sowjetregierung, in Mün­chen während der kommunistischen Räterepublik Mitglied des Vollzugsrat, nach Verurteilung von der russischen Regierung als Diplomat reklamiert und ausgetauscht, seitdem verschollen.