Die „eiserne Lerche“ und Deutschlands erster politischer Dichter

Zum 200. Geburtstag von Georg Herwegh

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die vorübergehende Abschaffung des Absolutismus und die Niederschlagung der Napoleonischen Vorherrschaft hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein deutsches Nationalbewusstsein aufkommen lassen; doch mit den Beschlüssen auf dem Wiener Kongress wurde die alte Ordnung wiederhergestellt. In den folgenden drei Jahrzehnten (zwischen 1815 und 1848) war die Gesellschaft zerrissen zwischen Restauration und Revolution. Obwohl das Bürgertum politisch noch weitgehend unmündig war, erlangte es eine gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung, wobei die industrielle Revolution diese Entwicklung beschleunigte.

Die bürgerliche Zerrissenheit zwischen entpolitisierter Harmoniesucht und politischer Emanzipation lässt sich auch deutlich an der Literatur vom Ende des Wiener Kongresses 1815 bis zum Beginn der bürgerlichen Revolution 1848 ablesen. In diesem Zeitraum entwickelten sich in den Ländern des Deutschen Bundes zwei unterschiedliche Literaturströmungen. Parallel zum eher konservativen Biedermeier bildete sich die radikal-demokratische Strömung des Vormärz heraus, wobei sich junge, liberal gesinnte Dichter im Gefolge der französischen Julirevolution 1830 in der Gruppe „Junges Deutschland“ versammelten. Gemeinsam ihnen das politische und sozialkritische Aufbegehren gegen die staatliche Obrigkeit. Der Begriff „Vormärz“ wurde jedoch erst nach der Revolution von 1848 geprägt, während die Jungdeutschen den Begriff „Junges Deutschland“ selbst verwendeten, der dann von der Obrigkeit aufgegriffen wurde. Im Dezember 1835 verhängte die Frankfurter Bundesversammlung ein Verbot gegen diese Literaten, ihre Verleger; die Lektüre ihrer Schriften wurde ebenfalls sanktioniert.

Für die meisten Autoren des Vormärz war die politische Lyrik die wichtigste Gattung, sie galt als literarische Waffe im Kampf gegen Restauration und Reaktion, gegen Tyrannen und Philister. Mit ihren Gedichten wollten sie soziale Missstände anprangern, revolutionäre Emotionen wecken, gegen Zensur und Kleinstaaterei kämpfen und zugleich die Vereinigung Deutschlands anstreben. Einer der leidenschaftlichsten und talentiertesten Lyriker dieser Epoche war Georg Herwegh, der den Ruf eines „Klassikers“ der politischen Lyrik erlangte.

Georg (Friedrich Rudolf Theodor) Herwegh wurde am 31. Mai 1817 in Stuttgart als Sohn eines Gastwirts geboren – im Jahr des Wartburgfestes. Seine Mutter stammte aus einer schwäbischen Apothekerfamilie. Die Ehe war nicht glücklich und so litt der Junge häufig unter den mitunter handfesten Streitigkeiten der Eltern. Zunächst besuchte er das Gymnasium seiner Heimatstadt, doch mit zwölf Jahren schickte die Mutter den oft kränkelnden Georg zur Großmutter nach Balingen, um ihm den fortwährenden Ehekrieg zu ersparen. Auf der dortigen Schule bereitete er sich auf das „Landesexamen“ als Voraussetzung für die Aufnahme in das protestantisch-theologische Seminar in Maulbronn vor. Mit 14 Jahren, die Eltern hatten sich gerade geschieden, wurde er in das Maulbronner Seminar aufgenommen. In diesen vier Jahren tat er sich nicht nur durch überdurchschnittliche Leistungen, sondern auch durch zahlreiche Schulstrafen hervor. In die Maulbronner Zeit fällt die Lektüre von Heinrich Heine, Ludwig Börne und August von Platen; außerdem entstanden erste eigene Gedichte.

1835 nahm Herwegh am Tübinger Stift ein Theologiestudium auf, aber bereits ein Jahr später wurde der Seminarist wegen „Betrunkenheit und … im höchsten Grade injuriösen Betragen“ verwiesen. Das darauf folgende Jurastudium, das er wohl nur widerwillig auf Wunsch der Mutter begonnen hatte, brach er aus freien Stücken ab. Er zog nach Stuttgart, wo er in der Redaktion der Zeitschrift „Europa. Chronik der gebildeten Welt“ eine Anstellung fand und erste eigene Texte veröffentlichen konnte. Dessen Verleger August Lewald führte den angehenden Schriftsteller in das Stuttgarter Theater- und Literatenmilieu ein. Die beginnende Karriere als Autor und Übersetzer wurde jedoch durch den Militärdienst unterbrochen, den er im März 1838 nach mehreren Einberufungsbescheiden antreten musste. Auch hier eckte der junge Rekrut bald wegen „Unbotmäßigkeiten“ an, wurde arrestiert und schließlich beurlaubt.

Nach seiner wenig glorreichen Entlassung gab Herwegh auch seine Mitarbeit bei der „Europa“ auf, um als Übersetzer für den Stuttgarter Verlag Rieger zu arbeiten. Nach einer erneuten Einberufung desertierte er in die Schweiz, wo er seinen Wohnsitz bald in Zürich einrichtete, das damals neben Paris Zufluchtsort für viele revolutionäre Geister aus ganz Europa war. Hier schrieb er Artikel über Literatur und Politik für den „Telegraph für Deutschland“ und die in Konstanz erscheinende liberale Zeitung „Deutsche Volkshalle“. In der Verlagshandlung „Literarisches Comptoir Zürich“ erschienen 1841 beziehungsweise 1843 die beiden Teile seiner Gedichte eines Lebendigen. Dieser Gedichtband, vor allem der erste Band, entwickelte sich zu einem Bestseller und machte Herwegh mit einem Schlag bekannt. So brachte es der erste Teil bis 1844 auf sieben Auflagen mit immerhin 15.634 verkauften Exemplaren. Verkaufszahlen, die selbst von den beliebten Spätromantikern Ludwig Uhland und Eduard Mörike bei Weitem nicht erreicht wurden. Herweghs Gedichte übten zwar scharfe Kritik an den politischen Zuständen, beschworen die deutsche Einheit und den Kampf gegen Unterdrückung, waren aber voller revolutionärer Schwärmerei, in denen von „ewigem Völkerfrieden“, „Brausen des Jahrhunderts“ oder „der Freiheit eine Gasse“ die Rede war. Noch zurückhaltend gab sich da die erste Strophe von „Leicht Gepäck“:

Ich bin ein freier Mann und singe
Mich wohl in keine Fürstengruft,
Und alles, was ich mir erringe,
Ist Gottes liebe Himmelsluft.
Ich habe keine stolze Feste,
Von der man Länder übersieht,
Ich wohnʼ ein Vogel nur im Neste,
Mein ganzer Reichtum ist mein Lied.

Die (aus heutiger Sicht) oft martialischen Gedichte atmeten den rebellischen Geist von Friedrich Schillers Räubern und hatten die wilde Entschlossenheit von Theodor Körner – darüber hinaus wurden Ulrich von Hutten, Georg Büchner, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Hölderlin, Percy Bysshe Shelley oder Pierre-Jean de Béranger „angerufen“.

Im Oktober 1841 (bis Februar 1842) unternahm Herwegh eine Reise nach Paris, wo er unter anderem mit Heinrich Heine zusammentraf, der später das „vage, unfruchtbare Pathos“ seiner Tendenzgedichte kritisierte, beispielsweise in dem berühmt gewordenen Gedicht „Herwegh, du eiserne Lerche“. Im Herbst 1842 kehrte Herwegh als gefeierter Dichter nach Deutschland zurück; die Reise gestaltete sich zu einem wahren Triumphzug und er wurde von Freunden und Gesinnungsgenossen gefeiert. Der leidenschaftliche Klang und der rhythmische Schwung seiner Gedichte hatte sie wie ein „Trompetenstoß“ ergriffen. In Frankfurt traf Herwegh mit Karl Gutzkow zusammen, in Köln mit Karl Marx, in Leipzig mit Heinrich Laube und Robert Blum sowie in Dresden mit Iwan Turgenjew und dem russischen Revolutionär Michail Bakunin.

Auch Friedrich Wilhelm IV. wünschte den gefeierten Verfasser der Gedichte, die in Preußen jedoch verboten waren, kennenzulernen und so kam es am 19. November 1842 zu einer (wohl verhängnisvollen) Audienz, um die sich bis heute viele Legenden ranken. Der preußische König empfing Herwegh mit den vielsagenden Worten „Ich liebe eine gesinnungsvolle Opposition“. Herwegh blieb nur die undankbare Rolle des Marquis de Posa, und so soll er zum Abschied Schiller zitiert haben: „Sire, ich kann nicht Fürstendiener sein“. Ein klarer Verstoß gegen die Etikette. Die Audienz, die Herwegh spöttische Kommentare einbrachte und ihn selbst in den Augen seiner Freunde verdächtigt machte, sollte sich bald ins Gegenteil kehren. Noch im Dezember wurde er nach der ungewollten Vorveröffentlichung eines Briefes an den König in der „Leipziger Allgemeinen Zeitung“, in dem sich Herwegh als Ratgeber aufspielte, aus Preußen wegen Majestätsbeleidigung ausgewiesen. Später machte man Herweghs ungeschicktes Auftreten vielfach dafür verantwortlich, dass die Zensurbestimmungen in Preußen verschärft wurden.

Wieder in der Schweiz, heiratete Herwegh (in Baden) die gleichaltrige Emma Siegmund (1817–1904), die hochgebildete Tochter eines Seidenwarenhändlers, die er in Berlin kennengelernt hatte. (Sie sollte später eine frühe und radikale Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung werden. Aus der Ehe gingen drei Söhne hervor.) Mit den Honoraren von seinen Büchern und Emmas reichlicher Mitgift ließen sich die jungen Eheleute in Paris nieder, wo sie am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Seine-Metropole teilnahmen und zahlreiche Bekanntschaften pflegten. Sie führen ein fast großbourgeoises Leben, was selbst Freunde zu abfälligen Bemerkungen veranlasste.

Im Dezember 1843 erschien der zweite Teil seiner Gedichte eines Lebendigen, der in Preußen und anderen Bundesstaaten verboten wurde, jedoch nicht mehr die Wirkung des ersten Bandes erzielte. Neben ausgedehnten Reisen betrieb Herwegh in den folgenden Jahren vor allem naturwissenschaftliche Studien mit dem Meeresbiologen Karl Vogt, während die „poetische Ausbeute“ eher bescheiden blieb – abgesehen von einigen Veröffentlichungen im Pariser „Vorwärts“ oder in den „Pariser Horen“.

Als es im Februar 1848 zur Volkserhebung in Paris kam, gerieten auch die deutschen Emigranten in den revolutionären Taumel. Herwegh, der über Jahre hinweg nur wenig Interesse an den Tagesereignissen gezeigt hatte, wurde politischer Führer einer „Deutschen demokratischen Legion“, die sich aus deutschen Arbeitern und Handwerkern zusammensetzte. Er erließ eine Proklamation, in der er die Ziele der Freiwilligeneinheit offenlegte. Gegen den Ratschlag von Karl Marx machte sich Herwegh mit dieser „Hilfslegion“ im April 1848 ins Großherzogtum Baden auf, wo sie jedoch von der württembergischen Infanterie gestellt und geschlagen wurden. Herwegh und seiner Frau blieb nur die Flucht in die Schweiz. Als „verunglückte Revolutionsfigur“ kehrte Herwegh Anfang 1849 schließlich nach Paris zurück, wo sich bald seine finanzielle Situation verschlechterte. Außerdem wurde das bisherige Familienglück in den folgenden Jahren durch beiderseitige Affären getrübt, die teilweise sogar in der Presse ausgetragen wurden. Dadurch litt Herweghs Ruf ein weiteres Mal.

Nach zweijähriger Trennung fand das Ehepaar im Mai 1853 wieder zusammen und in Zürich knüpfte es neue Bekanntschaften (unter anderem mit Franz Liszt, Richard Wagner, Wilhelm Rüstow und Gottfried Semper). Emmas Vermögen war jedoch aufgebraucht und Herweghs Artikel für den „Bieler Handelscourier“ und das liberale „Zürcher Intelligenzblatt“ sowie die Gedichte, die er anonym in der politisch-satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch“ veröffentlichte, besserten die Familienkasse nur wenig auf.

Die revolutionären Ereignisse während des Zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieges 1859 veranlassten Herwegh neben zahlreichen Kommentaren zu einer Übersetzung der Garibaldi-Hymne. Außerdem wurde er Mitarbeiter der Zeitung „Popolo d’Italia“. Für die Feier zum 100. Geburtstag Schillers in Zürich schrieb er einen Festprolog von 270 Versen, den er selbst vortrug. Im September 1861 suchte der Schriftsteller und Politiker Ferdinand Lassalle Herwegh in seinem Schweizer Exil auf und erneuerte damit eine Bekanntschaft, denn beide waren sich erstmals im Winter 1845/46 in Paris begegnet. Der acht Jahre jüngere Lassalle traf jetzt auf einen bequemen Mann, den er aus seiner Behaglichkeit „aufzupeitschen suchte“. Herwegh bearbeitete daraufhin Lassalles Reformationsdrama Franz von Sickingen und bemühte sich – jedoch ohne Erfolg – um eine Aufführung in Weimar. 1863 bat Lassalle Herwegh zur bevorstehenden Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) ein „begeistertes und begeisterndes Gedicht“ zu verfassen. Nach mehreren verworfenen Versionen legte Herwegh schließlich das zwölfstrophige „Bundeslied“ vor, das von Hans von Bülow (unter dem Pseudonym Wilhelm Solinger) vertont wurde. In der berühmt gewordenen vierten Strophe heißt es:

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.

Das „Bundeslied“, als Separatdruck von 12.000 Exemplaren, wurde sofort ein großer Erfolg und entwickelte sich zu einer Hymne auf das revolutionäre Proletariat. Herwegh selbst trat kurzzeitig dem ADAV bei, kündigte aber nach wenigen Monaten seine Mitarbeit. Später wurde er Mitglied der 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP).

Nach einer allgemeinen politischen Amnestie konnten Georg und Emma Herwegh 1866 nach Deutschland zurückkehren. Sie siedelten (Georg zuerst) nach Lichtenthal bei Baden-Baden über. Da die Schuldenlast immer mehr drückte, sah man sich gezwungen, in Zürich Hausrat, Wertsachen und Teile seiner Bibliothek zu versteigern. Mit Übersetzungen versuchten Georg (William Shakespeare) und Emma (die Memoiren Giuseppe Garibaldis), zum sorgenvollen Lebensunterhalt beizutragen. Selbst zahlreiche Bittbriefe wurden verschickt. So bemühte sich Emma um Unterstützung der Deutschen Schillerstiftung für ihren Mann. Doch statt einer lebenslänglichen Pension gab es nur eine einmalige Ehrengabe von läppischen 250 Talern. (Eine fast gleichzeitige Nationalsammlung erbrachte für seinen Dichterkollegen Ferdinand Freiligrath dagegen die gewaltige Summe von annähernd 60.000 Talern.)

Obwohl Herwegh mit seinen Gedichten stets die deutsche Einheit heraufbeschworen hatte, verurteilte er den Deutsch-Französischen Krieg und Bismarcks Reichsgründung aus „Blut und Eisen“. Inmitten des allgemeinen Hurra-Gebrülls und des patriotischen Siegesrausches war Herwegh unsentimental geblieben – anders als seine Alt-48er-Dichterkollegen August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ferdinand Freiligrath oder Richard Wagner, die sich der nationalen Begeisterungswelle anschlossen, versöhnte er sich nicht mit dem kaiserlichen Deutschland. Ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1848 war sein Ziel noch immer eine deutsche Demokratie – (und fußend auf seinem jahrelangen Exil) sogar eine europäische Republik. Bereits im März 1870 verfasste Herwegh seine lyrische „Abfertigung“ der bevorstehenden Reichsgründung:

Vielleicht hat’s recht, trägt Deutschland gern
Die Schleppe preußischer Despoten,
Dies „neue Deutschland“ bleibʼ mir fern
Und zähle mich zu seinen Toten.

Besonders entsetzt war er dann über die Annexion von Elsaß-Lothringen. Seine Verbitterung äußerte er in den Gedichten „Epilog zum Kriege“ (1871):

Du bist im ruhmgekrönten Morden
Das erste Land der Welt geworden:
Germania, mit graut vor dir!

oder in „Den Siegestrunkenen“ (1872):

Ihr habt ein neues deutsches Reich,
Von Junkerhänden aufgerichtet.

Ihr wähnt euch einig, weil ein Mann
Darf über Krieg und Frieden schalten
Und euch zur Schlachtbank führen kann
Mit der Parol: das Maul gehalten!

Herweghs Warnungen blieben ungehört – im neuen Kaiserreich des „Eisernen Kanzlers“ war der „Gesang“ der „eisernen Lerche“ nicht gefragt. Still vergingen die Lebensjahre – voller Anfeindungen und fast schon vergessen. Georg Herweg starb am 7. April 1875 im Alter von 58 Jahren an einer Lungenentzündung. In Baden-Baden fand eine schlichte Trauerfeier statt. Seinem Wunsch entsprechend ließ ihn Emma Herwegh in Liestal (Kanton Basel-Land) „in freier republikanischer Erde“ bestatten. Zwei Jahre später erschienen mit Neue Gedichte seine verstreute Lyrik zwischen 1844 und 1875. Die Sammlung wurde umgehend in Preußen verboten. Emma Herwegh erlebte noch das 20. Jahrhundert, sie starb am 24. März 1904 und wurde ebenfalls in Liestal beigesetzt.

Heute ist Georg Herwegh, die „eiserne Lerche“ des Vormärz, zwar nicht gänzlich in Vergessenheit geraten, aber seine politischen Gedichte „mit ihrem pathetischen Donnern wider die Tyrannen“ sind „verdächtig“ geworden und geben immer wieder Anlass zu teilweise heftig geführten Kontroversen – häufig genug mit der Plattitüde „Ein politisch Lied, ein garstig Lied!“. Bis in die Gegenwart zieht sich ein leidenschaftliches Für und Wider, dabei reicht die Palette von „Herwegh war kein Poetlein, sondern ein wirklicher Poet“ (Franz Mehring 1896) bis zum Diktum, er sei „Prototyp einer ausgestorbenen Gattung“ (Ulrich Enzensberger 1999). Herwegh ging es nicht um Überparteilichkeit, vielmehr wollte er bewusst in der revolutionären Situation von 1848 Partei ergreifen. Daher müssen seine Gedichte, die für die bürgerlichen Forderungen nach Freiheit und nationaler Einheit mobilisieren sollten, aus diesem Zeitgeist gesehen werden. Wenn sein Ruhm auch nur kurz währte, so war er doch zu Lebzeiten der erfolgreichste deutsche Lyriker. Herweghs Werk und sein ganzes Streben standen nicht nur im Dienste der 1848er-Revolution und der beginnenden Arbeiterbewegung, sondern allgemein für demokratische Freiheiten.

Mit der kritischen und kommentierten Gesamtausgabe seiner Werke im Bielefelder Aisthesis Verlag ist endlich eine angemessene und zugleich differenzierte Würdigung gelungen. Das Editionsprojekt, das 2005 mit der Ausgabe Briefe 1832–1848 startete, ist auf sechs Bände angelegt. Die umfangreiche Bestandsaufnahme versammelt neben den bekannten Texten erstmals eine Vielzahl von Notizen, Entwürfen und Fragmenten aus dem handschriftlichen Nachlass. Besonders die journalistischen Arbeiten und Prosatexte aus der Zeit nach 1848 – quasi des Nachmärz-Dichters – werden zugänglich gemacht.

Unbedingt erwähnt werden muss auch die Dokumentation Freiheit überall, um jeden Preis! – Georg Herwegh 1817–1875 (J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart 1992). Die Zusammenstellung des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts, bearbeitet von Heidemarie Vahl und Ingo Fellrath, präsentiert den „Sänger der Freiheit“ zum 175. Geburtstag in Bildern, Dokumenten, Briefen und einer kurzen Lyrikauswahl. Für das Jubiläumsjahr 2017 vermisst man leider Ähnliches, was Herwegh den ihm gebührenden Platz in der deutschen Literatur zuweist.