Die Fallhöhe eines berühmten Gelehrten

Joachim Zelter schildert in seinem neuen Roman „Professor Lear“ den geistigen Zerfall eines pensionierten Professors

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sprache ist ein wichtiges Werkzeug. Undenkbar, wenn die Sprache krankheitsbedingt versiegt und die Kontrolle über das eigene Tun, das eigene Gedächtnis verlorengeht. „Ein schleichender Ideentod. Kein schlimmerer Tod als das.“ Der Protagonist in Professor Lear plant ein Buch über den „schönen Tod“ im Sinne der ars moriendi. Jeder Mensch habe das Recht auf würdevolles Sterben. Helmut Eiger, Professor für Philosophie, kann auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken und verbringt auch nach seiner Pensionierung die meiste Zeit am Schreibtisch. Um seine neuen Gedanken zu Papier zu bringen, lässt er gelegentlich das Frühstück mit seiner Frau ausfallen. Im neuen Roman Professor Lear des Tübinger Schriftstellers Joachim Zelter wird Eiger von der akademischen Welt gefeiert. Man ringt nach Worten, um diesem Gelehrten gerecht zu werden: „Geistesriese. Letzter Intellektueller des Landes. Philosophenkönig. Eiger Nordwand unter den großen Denkern.“ So verwundert es nicht, dass etwa Heidegger, der im Hause Eiger seinen Spazierstock vergessen hat, zu Gast war. Aber auch Norbert Elias oder Jean-Paul Sartre kennt Helmut Eiger persönlich.

Der eigensinnige, aber doch sympathische Philosophieprofessor erinnert in vielerlei Hinsicht an Walter Jens. Zelters Romanfigur ist jedoch mehr als eine fiktionalisierte Form des 2013 verstorbenen Professors für Klassische Philologie, obgleich weitere augenfällige Parallelen vorliegen: etwa die immense Fallhöhe eines Gelehrten, der für sein umfassendes Werk am Tag seiner Pensionierung mit einem großen feierlichen Akt geehrt wird. 2009 hat Tilman Jens mit seiner kontrovers diskutierten autobiographischen Erzählung Demenz. Abschied von meinem Vater intime Einblicke in das Leben seines dementen Vaters gewährt, die Zelter als Inspirationsquelle gedient haben könnten. Bereits 2010, als die Debatten um Walter Jens’ Demenzerkrankung und seiner umstrittenen NSDAP-Mitgliedschaft noch im öffentlichen Mediendiskurs präsent waren, wurde Professor Lear am 18. Februar unter der Regie von Christian Schäfer am Zimmertheater Tübingen uraufgeführt. Nun liegt das Stück als Roman vor.

Mit dem Titel Professor Lear spielt Zelter – wie es bereits Arno Geiger mit Der alte König in seinem Exil (2011)gemacht hat – auf Shakespeares King Lear an. Zudem stellt Zelter seinem Roman ein Zitat aus Shakespeares bekanntem Stück voran. Professor Lear beginnt mit einer Beschreibung eines Ich-Erzählers, der das Haus des Professors zum ersten Mal betritt, um dessen Ehefrau zu interviewen. Mit Ehrfurcht betrachtet der Besucher die riesigen Bücherwände. Bekannt ist Eiger für seine rege Beschäftigung mit Platon, was insofern ironisch ist, als Platon ein Sprech- und kein Schriftgelehrter war. Aus dem Phaidros zitiert Eiger: „,Die Schrift nämlich wird den Seelen der Lernenden Vergesslichkeit einflößen, weil sie das Gedächtnis vernachlässigen werden.‘“

Während die Rahmenerzählung aus der Ich-Perspektive dargeboten wird, nimmt sich Zelter in der Binnenerzählung die Freiheit, um in die Gedanken des Professors einzutauchen. Eigers philosophische Überlegungen über das Denken selbst erinnern wieder an Walter Jens: „Was also bleibt übrig von: Ich denke, also bin ich? Wenn man diesen Satz nur für einen einzigen Moment einmal umdreht: Ich denke nicht mehr, also bin ich nicht mehr, und ist damit auch die Welt nicht mehr – soweit sie mich betrifft.“

Auch wenn Walter Jens in vielerlei Hinsicht als Vorbild für Professor Eiger gedient hat, setzt Zelter eigene Akzente, die die Stärke des Romans ausmachen. Verweise auf Jens’ NSDAP-Mitgliedschaft bleiben aus, dafür aber wird ein Generationenkonflikt mit der Enkelin geschildert, der verdeutlicht, dass Professor Eiger Kind eines vergangenen Jahrhunderts ist. So tippt er auf einer Schreibmaschine und versucht seiner Enkelin Cordelie mittels Floskeln das britische Englisch nahezubringen. Das aber sei aus der Zeit gefallen, denn britisches Englisch sei in der Schule „nicht unbedingt erwünscht“ und ein „Relikt einer längst überholten Welt“. Auch für Unterstützung im Fach Deutsch taugt Professor Eiger nicht. Die Zeiten haben sich geändert. Das bekommt er vor allem nach der Veröffentlichung seines umfangreichen Platon-Buches zu spüren. Zu seiner Enttäuschung reagiert niemand auf dieses Werk, auf das er so stolz ist. Tröstend versucht ihm seine Frau zu vermitteln, dass immerhin eine Lokalzeitung das Buch bespricht, obgleich Eigers Werk als „sperrig“ bezeichnet wird. Zelters Roman ist nicht nur eine Geschichte über das Vergessen, sondern auch über die Angst vor dem Vergessen-Werden.

Warum Cordelie bei ihren Großeltern aufwächst, wird lediglich angedeutet. Etwas Tragisches ist Eigers Tochter, Cordelies Mutter, geschehen. Erst durch die Demenz tritt die Verstorbene wieder in sein Bewusstsein. Dieses Schweigen über die Tragödie erinnert an den viel zitierten Satz Wittgensteins: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Gerade weil zwischen Großvater und Enkelin vieles ungesagt bleibt, wirkt ihre Beziehung sehr authentisch. Der eigensinnige Charakter des Professors wird in den Gesprächen mit Cordelie anschaulich zum Ausdruck gebracht. In solchen Momenten erinnert Helmut Eiger tatsächlich weniger an Walter Jens, sondern vielmehr an den eigenbrötlerischen, alten Professor im Roman Ein alter Herr (2006) von Gerhard Köpf.

Auch wenn einige Szenen zum Schmunzeln animieren, ist es doch angesichts der immensen Fallhöhe des Geistesriesen eine tieftraurige Geschichte. Eigers schlimmste Befürchtungen werden wahr: Die Ideenlosigkeit setzt ein, die Sprachbegabung lässt nach. Es mutet geradezu paradox an, dass der einst rüstige Emeritus zugleich seine Angst vor diesem Dämmerzustand verliert. Schlussendlich findet seine Enkelin in der Phase der fortgeschrittenen Demenz Zugang zu ihrem Großvater. Beide gehen gemeinsam spazieren und einkaufen. Es sind nicht mehr die Bücher, die Eiger interessieren, sondern bunte Schokoladentafeln. Zelters warmherziger Roman macht deutlich: Menschen mit Demenz bleiben Individuen, sie haben nach wie vor ihre eigene Identität.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Joachim Zelter: Professor Lear. Roman.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022.
160 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783520766014

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