Die ‚liebe Persönlichkeit‘ in einem späten Gedicht Goethes

Ein Essay zum 75. Geburtstag von Thomas Anz

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1824, in seinem 75. Jahr, sammelte Goethe wieder Zahme Xenien für seine Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum. In dieser dritten Lieferung der Sprüche seit 1820 steht an dritter Stelle das Gedicht:

Man mäkelt an der Persönlichkeit,
Vernünftig, ohne Scheu;
Was habt ihr denn aber was euch erfreut
Als eure liebe Persönlichkeit?
Sie sei auch wie sie sei.

Wer etwas taugt der schweige still,
Im Stillen gibt’s sich schon;
Es gilt, man stelle sich wie man will,
Doch endlich die Person.

Das ist ein für den alten Goethe typisches Xenion. Die klassische Form des Distichons hatte er längst aufgegeben, zugunsten einer freieren Form, meist drei- oder vierhebiger, gereimter, in diesem Fall jambischer Verse. Viele der Zahmen Xenien sind Kommentare zu dem, was Goethe um sich herum wahrnahm, ohne dass der Bezug immer genau angegeben würde. Das ist auch bei diesen Versen der Fall.

Immerhin fällt es nicht schwer, Anlässe für sie zu finden. Öffentliche Kritik, vom Pastor Pustkuchen bis zu Wolfgang Menzel, hat Goethe in den frühen 1820er Jahren des öfteren erfahren, als Kritik an seinem Werk, aber auch als Kritik an seiner Persönlichkeit. Die Haltung des Beobachters hat er dabei in der Regel nicht aufgegeben; er verfolgte die Auseinandersetzungen ‚im Stillen‘, zumeist schweigend. Wenn er sich äußerte, dann vorzugsweise kurz und eher grundsätzlich. Auch in diesem Gedicht verallgemeinert und bündelt er gewissermaßen eine Art Kritik und bringt sie auf den Punkt: als Kritik an der Persönlichkeit.

Goethes Gedicht ist teils in der dritten Person Singular („man“), teils in der zweiten Person Plural („ihr“) gehalten. Dieser grammatische Wechsel ist Ausdruck wechselnder Sprechweisen: Feststellung, Einwand, Mahnung und eine neue Feststellung folgen aufeinander. Das Gedicht ist im Ganzen Erwiderung und Richtigstellung: Kritik einer Kritik, die am Ende ins Positive gewendet wird. Die Kritiker der Persönlichkeit macht Goethe zunächst, rhetorisch fragend, auf den Selbstwiderspruch aufmerksam, dass ihnen ihre eigene Persönlichkeit durchaus lieb ist. Das nimmt er zum Ausgangspunkt für ein Lob der Persönlichkeit.

Dabei berührt Goethe in wenigen Zeilen, auch das ist typisch für sein Alterswerk, anspielungsreich mehrere Komplexe. Sein Gedicht ist eine Verteidigung des Subjekts und damit auch eine der Subjektivität. Es ist ein Lob der Individualität, wie sie auch ausfallen mag. Und es ist eine Rechtfertigung der Person, die im Letzten zählt, selbst im Verhältnis zu ihrem Werk, das es ohne sie nicht gäbe.

Goethe spricht als all das selbst: als Subjekt, als Individuum und als Künstler. Sein Stil ist ebenso eigen wie sein Gedicht als poetisches Gebilde einmalig. Seine Verse lassen sich schon deshalb ohne große Mühe auf die schöpferische Persönlichkeit anwenden, die sich in ihnen zeigt, indem sie von ihresgleichen redet. Ob die abschließende Feststellung auch für andere Arten der Persönlichkeit gilt, bleibt offen. So endet das Gedicht mit der Botschaft, dass es zuletzt auf den einzelnen Menschen und seine besondere Art ankommt – sei er Schriftsteller oder Wissenschaftler oder Herausgeber einer Zeitschrift.

 

Literaturhinweis:

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 2006, Band 13.1: Die Jahre 1820-1826. Hgg. von Gisela Henckmann und Irmela Schneider, S. 103.