Die Tiere sind unruhig!
Rolf Dieter Brinkmann wäre am 16. April 80 Jahre alt geworden
Von Sascha Seiler
Welche Bilder, welche Geschichten sind geblieben von Rolf Dieter Brinkmann? Vielleicht dieses: Brinkmann bedroht Marcel Reich-Ranicki, der ihm eigentlich immer wohlwollend gegenübergestanden hat, mit den Worten, wenn das Buch, das er gerade in der Hand halte, ein Maschinengewehr wäre, würde er ihn damit niederschießen. Oder ist es sein ungewöhnlicher Tod in London im Jahr 1975, als er eine Straße überquerte und, wie so viele Kontinentaleuropäer, in die falsche Richtung schaute, worauf er von einem Taxi überfahren wurde? Oder vielleicht doch diese, nachzuhören auf den vor einigen Jahren veröffentlichten Tonaufnahmen, die der Autor unentwegt anfertigte und als Teil seines Gesamtkunstwerks betrachtete: Brinkmann läuft mal wieder laut fluchend durch einen Kölner Park, bis ein älterer Herr, der seine Hunde ausführt, ihn ermahnt, er solle nicht so schreien, „Die Tiere sind unruhig!“ Die Band Kante hat ein Album nach diesem Spruch benannt. Vielleicht ist es aber einfach nur dieses Bild eines dicklichen Mannes mit traurigem, gleichsam stolz-arrogantem Blick, das uns geblieben ist von diesem großen Dichter, der erst vergessen schien, dann im Zuge einer neuen Welle der Popliteratur der späten 90er Jahre wiederentdeckt wurde und jetzt, da auch diese lange vorüber ist, langsam wieder dem Vergessen anheim zu fallen droht?
Brinkmann gilt als Begründer der deutschen Pop-Literatur, aber auch als einer der großen Mittler amerikanischer Literatur. Er war derjenige, der gemeinsam mit seinem Freund Ralf- Rainer Rygulla die Underground-Literatur der USA nach Deutschland gebracht hat mit seinen Anthologien ACID und Silverscreen, in denen literarische und kulturkritische Texte versammelt waren, wie man sie hierzulande noch nicht gelesen hatte. Es waren obszöne, unmittelbare Texte; Texte, welche die Popkultur feierten, sie aber gleichzeitig kritisierten. Texte, die sich in jener Popkultur verankert sahen, diese aber mit Hilfe ihrer eigenen Waffen kritisierten. Das faszinierte den jungen Mann aus Vechta, der sich in Köln zum Buchhändler ausbilden ließ, und es faszinierte ihn, obwohl er des Englischen gar nicht so sehr mächtig war.
Seine frühen lyrischen Versuche waren noch traditioneller, wobei auch schon teilweise in der minimalistischen Tradition seines großen Vorbilds Frank O’Hara gehalten. Doch im selben Zuge, in dem Pop nach Deutschland kam, drang dieser auch in Brinkmanns Texte ein. Was fraglich ist wofür, erschienen 1967, war, nach mehreren Bänden bei Kleinverlagen, sein Debüt für Kiepenheuer & Witsch, spielte bereits mit der allgegenwärtigen Pop- und Alltagskultur, doch erst mit Godzilla (1968) und Die Piloten (1969) prägte er die deutsche Pop-Literatur, mit der er, der ewige Verweigerer, natürlich recht bald schon nichts mehr zu tun haben wollte. Nur ein Roman erschien, Keiner weiß mehr, ebenfalls 1968, ein autobiographisch gefärbter Text, in dem das ganze selbstempfundene Elend seiner Existenz aufgearbeitet wurde. Ein obszöner, schonungsloser, sicher auch misogyner Roman. Ein weiterer sollte ihm, trotz vieler Versuche in den 70er Jahren, nicht mehr glücken. Vielleicht war es einfach nicht seine Gattung, denn nur ein Gedicht kann doch die Unmittelbarkeit des Augenblicks einfangen.
Brinkmanns Zorn, so auch der Titel eines Dokumentarfilms (mit nachgestellten Szenen) über sein Leben, der in den 00er Jahren erschien, wurde indes immer größer. Schon Anfang der 70er Jahre wollte er nichts mehr mit dem „Pop-Zirkus“ zu tun haben. Kein Wunder, denn seine Nachfolger und Epigonen sind größtenteils einem Irrtum aufgesessen, nämlich, dass Brinkmanns Popverständnis ein affirmatives war. Tatsächlich sah der Autor Pop als elementaren Teil einer uns umgebenden, unentrinnbaren Alltagswirklichkeit. Pop zu konsumieren, das war etwas, was das Individuum der späten 60er zwangsläufig tat. Statt sich dagegen zu wehren – wie all die Intellektuellen, die mit ihm in der legendär gewordenen Debatte um Leslie Fiedlers literaturkritischen Essay Close The Gap, Cross The Border die Klingen kreuzten – gab er sich ihm in einer Mischung aus Faszination und Selbsthass hin. Unter Pop verstand Brinkmann natürlich Musik und Filme (beides liebte er), aber auch Werbung und Pornographie (die ihn leiden ließen, aus Mangel an Geld und Sex). Insofern war Brinkmann Adorno näher als seinen 68er Zeitgenossen; denn auch er sah Pop als Mittel der Repression. Mit der US-Underground-erprobten ‚Dirty Speech‘ sollte diese Frustration ein Ventil bekommen, damit man inmitten der Übersexualisierung der Warenwelt nicht wahnsinnig würde in der Enge und Dunkelheit seiner Kölner Wohnung.
In den 70er Jahren schrieb Brinkmann plötzlich nur noch Berichte, Tagebucheinträge, Alltagsbeobachtungen, Skizzen, und sammelte diese oft hasserfüllten Zeilen in bis oben hin vollgepackten, dicken, eigentlich kaum lesbaren Bänden wie Rom, Blicke oder das schon ausladend betitelte Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch), die er als „Materialbände“ bezeichnete. In Schnitte waren sogar fast ausschließlich Zeitungs- und Magazinausschnitte gesammelt. Brinkmann verwendete die Collage, um das Fragmentarische und Zersplitterte im sozialen Raum, in dem er sich bewegte, in eine literarische Form zu bringen und orientierte sich hierbei an den Scrapbooks William S. Burroughs’. Der Roman, der daraus entstehen sollte, materialisierte sich nie.
Die Collagen retten die eigentlich verflogene „Pop-Euphorie“ (Brinkmann) aus den späten 60er Jahren in seine Gegenwart, da die Unmittelbarkeit der Erfahrung und das von Formen populärer Kultur geprägte sinnliche Erleben sich in die Bruchstückhaftigkeit der Bild- und Textcollage übertragen lässt. Diese Fragmentierung der subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit weist auch eine Kontinuität zum Schaffen Brinkmanns zu Zeiten seiner ‚Pop-Euphorie‘ auf: So wie in den 70er Jahren vielerorts die Ideale der 60er verflogen und durch eine nüchterne und brutale Realität ersetzt worden waren, so entwickelte sich auch Brinkmanns literarisches Schaffen von einer immerhin teils affirmativen Poesie hin zu Negation und Zerstörung. Somit vermittelt er dem Leser seiner Materialbände gerade aufgrund der Tatsache, dass er sich nicht in der Lage sah, seine Aufzeichnungen zu einem Roman zu verarbeiten, das Bild einer subjektiven Realität, das immer wieder versucht, eine soziale, objektive Wirklichkeit abzubilden – daran aber scheitert. Und Rolf Dieter Brinkmann gibt schließlich zu Protokoll „daß die ganze Rebellion mit Pop, Untergrund, den Leuten dort, den Linken usw. usw. und damit den verschiedenen Versuchen und Verhaltensweisen vorbei ist für mich“.
Doch 1975 erscheint, unfreiwillig als Schlusskapitel, dann doch noch ein in sich geschlossenes Werk: der umfangreiche Gedichtband Westwärts 1&2. Ein monumentales Werk, in dem es dem Autor gelingt, die vielen Strömungen, die sein Schreiben (und Leben) beeinflusst haben, zu bündeln. Es ist sein Vermächtnis, sein größtes Werk, leider erst posthum veröffentlicht. In der legendären „Vorbemerkung“ – in Wahrheit eigentlich das erste Gedicht des Bandes – heißt es: „[…] die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter“. Brinkmann sieht auch die Popmusik ihres aufrührerischen Potenzials beraubt, da sie sich in den in der „Vorbemerkung“ thematisierten Alltagstrott eingliedert und damit ihrer Aussagekraft beraubt und lediglich zum Bestandteil des Marktes wird. Dabei liebte er die Popmusik immer noch. In den posthum veröffentlichten Briefen an Hartmut, in denen er sich mit dem Studenten Hartmut Schnell austauschte, den er 1974 während eines Aufenthaltes in Austin/Texas kennengelernt hatte, schreibt er mit entwaffnender Offenheit über die Liebe zu bestimmten Musikern und ihren Werken.
Popliteratur ist schon immer ein Spiegel jenes absoluten Jetzt gewesen, das Rolf Dieter Brinkmann in seinen Texten so eindrucksvoll darzustellen versucht hat. Es ist immer eine wunderbare Seminarübung, Studierende mit Godzilla zu konfrontieren, jenen obszönen Gedichten, die auf die nur rudimentär bedeckten Brüste und Vaginas von „Bikini-Mädchen“ (alleine dieser Ausdruck…) gedruckt sind. Genauso absurd wirkt aus heutiger Sicht Brinkmanns Faszination für amerikanische Markennamen, Coca-Cola etwa, die er genüsslich in seine Gedichte einfließen lässt, ja, sie sogar manchmal in den Mittelpunkt stellt. Ende der 60er Jahre war dies allerdings mutig und innovativ. Weil es gut war. Weil es Brinkmann gelungen ist, die mörderische Enge, die er im Zuge all jener (vor allem sexuellen) Verlockungen der neuen Warenwelt gespürt hat zu vermitteln, gerade durch deren reine Darstellung. Heute weiß man, wie Brinkmann in der Enge seiner Kölner Wohnung gelitten hat, zurückgeworfen auf die tägliche Routine der Kleinfamilie mit einem behinderten Sohn. Die zwangsläufigen Konflikte mit seiner Frau Maleen, dokumentiert in zahlreichen Texten. Und die Armut, die ihm zusätzlich die Luft abschnürte.
Diese aber hat zu großer Kunst geführt. Leider scheitert die so notwendige editorische Arbeit am Lebenswerk dieses Autors seit Jahrzehnten an juristischen wie persönlichen Faktoren, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann und soll. Tatsache ist aber, dass von den meisten Büchern des Autors immer noch die Drucke aus den 80er Jahren kursieren (entweder es wurde zu viel gedruckt oder keiner hat sie gekauft). Nur im Falle von Westwärts 1&2 gab es eine vorsichtige Neuedition. Und auch zum 80. Geburtstag wurde nichts angekündigt. Es ist eine Schande.