Die Zeit als Leitfaden in einer politischen Geschichte des deutschen Dramas im 18. und 19. Jahrhundert

Michael Gampers und Peter Schnyders „Dramatische Eigenzeiten des Politischen“

Von Carolin RocksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolin Rocks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Ziel, die politische Bedeutung von Verzeitlichung im Drama zu untersuchen, berufen sich die Herausgeber des Sammelbandes auf den Theoretiker des modernen Dramas: Peter Szondi. Sein Diktum, dass „jedem Kunstwerk ein monarchischer Zug eigen“ sei, dient Michael Gamper und Peter Schnyder als resümierende Formel für ihr Thema der Dramatischen Eigenzeiten des Politischen. Szondis allgemeiner gehaltene Rede von einer eigengesetzlichen Formsemantik des ,Werks‘ wird allerdings im Sinne einer Fragestellung spezifiziert, in der sich historische Gattungstheorie und zeitgenössische Polit-Historie verbinden: Der Band fokussiert der Einleitung zufolge die Interferenzen von dramatischer Temporalität und den politischen Zeitregimen in der Umbruchsphase um 1800, wobei die historische Schwerpunktsetzung mit Kosellecks einschlägigen Arbeiten (Vergangene Zukunft (1979); Zeitschichten (2003)) plausibel begründet wird. Szondi steht somit Pate für den auf die Kategorie der Zeit konzentrierten gattungspoetischen und -geschichtlichen Zugriff auf das Drama. Die methodische Pointe der einleitenden Ausführungen besteht in der Handreichung zwischen Szondis Formsemantik und einer auf das Politische bezogenen Wissensgeschichte. In jedem Drama herrscht – in Auseinandersetzung mit dem jeweils zugrundeliegenden gattungsdiskursiven Reglement – eine eigene Zeitordnung, die sich in bestimmter Weise zu den korrespondierenden politischen Zeit-Epistemologien verhält.

Ganz grundsätzlich und noch ohne die Brücke zum Sujet des Politischen zu schlagen, weisen die Herausgeber die Bemühungen der literaturwissenschaftlichen Dramenforschung zur Zeitgestaltung als Desiderat aus. Das trifft einerseits – gerade mit Blick auf die in dieser Hinsicht avanciertere Narratologie – fraglos zu; andererseits könnte an dieser Stelle expliziter an die jüngere kulturwissenschaftliche Dramen- und Theaterforschung angeknüpft werden, die sich in ihrem Fokus auf dramatische Auf- und Abtrittsprotokolle nicht auf die Kategorien von ,Raum‘ und ,Figur‘ beschränkt hat, sondern gleichsam den Boden für die eingehendere Untersuchung gattungsspezifischer Zeitökonomien bereitet hat (vgl. (Hg.) Bergmann/Tonger-Erk (2016); (Hg.) Matzke/Otto/Roselt (2015); (Hg.) Vogel/Wild (2014); (Hg.) Haas/Polaschegg (2012)). Gampers und Schnyders Band konzentriert sich demgegenüber auf dramatische Verzeitlichungsformen, und diese Verengung der Perspektive – oder besser: diese Versenkung in die dramatischen Eigenzeiten um 1800 – lohnt sich, wie die durchweg erhellenden Einzelbeiträge demonstrieren.

Die Stärke des Bandes besteht in der systematischen Trias ,Drama‘ – ,Zeit‘ – ,das Politische‘: ein Problemaufriss, der es erlaubt, „politisches und ästhetisches Zeit-Wissen in konstitutiver Wechselwirkung aufeinander bezogen zu begreifen“. Anzumerken ist, dass die Herausgeber das Politische im Rekurs auf Autoren wie Claude Lefort verstanden wissen wollen: als die begründungslogischen, repräsentationalen und nicht zuletzt imaginären Möglichkeitsbedingungen jeder institutionellen oder staatlichen Politik in concreto. Diese theoretische Grundhaltung fügt sich in den Vorsatz, zur ästhetischen Wissensgeschichte des Politischen beitragen zu wollen. Der nachdrücklich behauptete Nexus von dramatischer Gattung und dem Politischen ist begründungsbedürftig. Zunächst attestieren Gamper und Schnyder dem Drama – etwas vage – „eine hohe Sensibilität für Veränderungen in der gesellschaftlichen Sphäre“. Stichhaltiger ist die Annahme einer grundlegenden Politizität der Gattung und damit auch einer genuin politischen Gattungsgeschichte:

Dabei nimmt das Drama eine signifikante diskursgeschichtliche Position in der Geschichte des Politischen ein. Aufgrund seiner symbolischen Aufladung in der Tradition der Tragödie als Drama von Staatssachen und hohen Personen […] ist es für Aspekte des Politischen, also auch für dessen Zeit-Raum-Ökonomien, ein besonders komplexes Darstellungsmittel.

Hier wird, wenn auch nur en passant, auf die gattungsspezifische Ständeklausel abgehoben, um die politische Prägung der Gattung herauszustellen. Dieser Hinweis führt geradewegs in das Zentrum der historischen Gattungstheorie, so dass die Rede von einer ,symbolischen Aufladung‘ des Dramas irreführend, ja gewissermaßen noch untertrieben ist. Die Frage, ob politisch hochstehende, heroische Figuren die dramatische Handlung tragen (sollen) – so im deutschen Barockdrama oder in der tragédie classique –, kann als ein im Gattungsdiskurs persistierendes Kernthema gelten. So gerät genau diese Frage ja dann auch im Briefwechsel über das Trauerspiel (1755–1757) zum handfesten Streitpunkt zwischen Lessing und Mendelssohn.

Wichtig ist darüber hinaus der einleitende Hinweis, dass die politische Prägung der Gattung im Hinblick auf das Verhältnis von Dramentext und Theateraufführung hervortritt. Ethel Matala de Mazzas Aufsatz zum „Revolutionsdruck“ der Wiener Volkstheater und Lustspielautoren rund um das Revolutionsjahr 1848 analysiert denn auch die intrikaten Zusammenhänge von Bühne und politischem Zeitgeschehen im Rekurs auf die einschlägigen aufführungsgeschichtlichen Quellen. In durchaus ähnlicher Stoßrichtung rekonstruiert Andrea Polaschegg die Konjunktur von Christus- bzw. Passionsdramen im ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die dramatischen Texte, die korrespondierenden dramenpoetischen und theatertheoretischen Reflexionen sowie das Aufführungsformat des Oberammergauer Passionsspiels werden dabei als signifikante Zeugnisse einer noch zu schreibenden Geschichte der ,Volksbühne‘ gelesen.   

Während die eben genannten Beiträge zur Dramatik des 19. Jahrhunderts erhellend und erfreulicherweise nicht nur am Beispiel kanonischer Autoren den politischen Zusammenhang von Text und Aufführung ins Blickfeld rücken, beziehen Gamper und Schnyder diesen in ihrer Einleitung auf die Umbruchsphase um 1800. Zu Recht schätzen sie die „kollektiv-performative politische Bedeutung der Dramen“ für diesen Untersuchungszeitraum als „brisant“ ein. Begründet wird dies ganz konkret im Verweis auf Ifflands Bedenken, den ersten Teil der Wallenstein-Trilogie in Berlin aufführen zu können, da hier ein militärisches Kollektiv seine politischen Ansprüche geltend mache. Dass Iffland Vorbehalte gegen die Aufführung von Wallensteins Lager im Zentrum des Preußischen Militärstaats hegt, gilt Gamper und Schnyder als Beleg für „den Anteil der Dramen und des Dramatischen am politischen Imaginären“, ja als furchtsames Eingeständnis, der Theatertext könne die kollektive „Einbildungskraft“ allzu sehr gegen den Staat mobilisieren. In diskursgeschichtlicher Perspektive steckt darin sicher auch der Hinweis auf die zeitgenössische Nationaltheater-Debatte, die eine grundsätzliche Veränderung des politischen Stellenwerts der Institution Theater markiert. Das Argument ließe sich mit dem Hinweis auf diejenigen Forschungsbeiträge untermauern, die untersucht haben, wie sich die Konzepte einer Nationalschaubühne – insbesondere in wirkungsästhetischer Hinsicht – mit dem im 18. Jahrhundert Fahrt aufnehmenden nationalpolitischen Diskurs verschränken (vgl. Pleschka: Theatralität und Öffentlichkeit. Schillers Spätdramatik und die Tragödie der französischen Klassik. (2013); Schneider: Familiendramaturgie und Nationaltheateridee: Zur Publikumskonzeption in der deutschen und französischen Dramaturgie des 18. Jahrhunderts. (2003); Höyng: Was ist Nationalschaubühne im eigentlichsten Verstande? – Thesen über die Nationaltheater im späten 18. Jahrhundert als Ort eines National-Diskurses. (2000); Müller: Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens. Ästhetische Religiosität als politisches Konzept bei Kant – Schiller – Humboldt. (1999)).

Die Konstellation ,Drama‘ und ,das Politische‘ wird im gesamten Band überzeugend in Detailstudien exponiert, deren literaturgeschichtliches Spektrum vom 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht. ,Die Zeit‘ fungiert dabei als Leitfaden in der von Gamper und Schnyder kompilierten, politischen Geschichte des (mit wenigen Ausnahmen deutschen) Dramas. Warum die Kategorie der Zeit diejenige von den diskursbestimmenden drei Einheiten ist, die zuvörderst den Brückenschlag zum Politischen erlaubt, demonstriert der Beitrag von Claude Haas am pointiertesten. Hier wird die souveränitätspolitische Grundierung der Einheit der Zeit in den Dramenpoetiken und in den Tragödien des französischen Klassizismus herausgearbeitet – eine Analyse, die bereits für sich zur Aufsatzpublikation taugt. Haas argumentiert, dass der Souverän hier als Figur reflektiert wird, deren Legitimation an die Vorstellung von Zeitlosigkeit gebunden ist. Diese Vorstellung nämlich verdecke, dass der Akt der souveränen Rechtssetzung einen zeitlichen Einschnitt bedeute. In dramenpoetischer Hinsicht heiße dies: Wird die Zeit im Text markiert, fragmentiert, multipliziert, so droht die „Historizität auch der souverän-absolutistischen Politik“ entdeckt zu werden. Die Doktrin der Einheit der Zeit stütze somit das Zeitregime souveräner Herrschaft, wobei Haas zufolge die klassische französische Regelpoetik und die dramatischen Texte bereits ein allzu nervöses Bemühen zeigen, die Chronopolitik eines einzigen Sonnenumlaufs durchzusetzen. Diese Befunde weiß Haas in einer instruktiven Lektüre von Goethes Torquato Tasso fortzuführen. Der Text weise in einem hochgradig reflexiven Spiel mit der Einheit der Zeit nicht nur das souveräne Herrschaftsprinzip als endgültig angezählt aus, sondern verorte das Politische wie auch die dramatische Gattung im Horizont einer unhintergehbaren modernen Historizität.

In ähnlicher Direktion, aber in einem historischen Sprung zu Grillparzer untersucht Lisa Bergelt den Zusammenhang von dramatischer Handlungsführung und Zeitgestaltung im Hinblick auf die ja schon bei Goethe prekären Prozesse souveränen Entscheidens. Aus polit-historischer Perspektive mag es ein nicht unbedingt überraschender Befund sein, dass Grillparzers Herrscherfiguren in der Konfrontation mit konkreten politischen Gegenkräften oder mit abstrakteren historischen Entwicklungen zaudern und zögern. Allerdings wird dadurch der kontrastive Blick auf die sich jenseits des souveränen Paradigmas bewegenden politischen Figuren geschärft, etwa auf den charismatischen Einzelnen, dem sich erwartungsgemäß Michael Gampers Beitrag widmet. Sein Aufsatz richtet sich nicht nochmals auf die in seiner jüngsten Monographie Der große Mann (2016) fokussierte politische Dramatik Schillers, Kleists, Hebbels und Grillparzers, sondern diskutiert, wenn man so will, deren Vorläufer im Sturm und Drang. Die bekanntermaßen gesteigerte Individualität von Goethes Götz sowie von Leisewitz‘ und Klingers Protagonisten fasst Gamper politisch und argumentiert überzeugend, dass jene personale Größe dramenpoetisch derart produktiv ist, dass sich von einer ,vierten Einheit‘, derjenigen des Helden, sprechen lässt. Die ,Einheit des Helden‘ könne, so Gampers Pointe, als konzeptueller Motor der dramatischen Zeitökonomien gelten, womit der im Band ansonsten nur latent erwogene Nexus von Figur und Zeit explizit wird.

Dass Georg Büchners dramatischem Œuvre sowohl in darstellungstechnischer Hinsicht als auch in seiner (geschichts-)philosophischen Dimension eine besondere Bedeutung beizumessen ist, zeigen die komplementären Beiträge von Roland Borgards und Eva Horn. Horn liest Büchner als einen Ökonomie-Kritiker, der die gesellschaftliche ,Verteilungsungerechtigkeit‘ zeitlicher Ressourcen präzise verzeichne. Es ist bereichernd für das theoretische Spektrum des Bandes, dass Büchners dramatische Analytik des Zeitregimes ,Arbeit‘, aber auch der zeitlichen Implikationen des Projekts ,Volkssouveränität‘ im Horizont eines biopolitischen Paradigmas aufgeschlüsselt wird. Mit dem Konflikt aufeinanderprallender ökonomischer Zeitressourcen korrespondieren die von Horn beschriebenen Erosionserscheinungen auf der dramatischen Formebene.   

Das Drama des 18. und 19. Jahrhundert kann als bevorzugter Ort „für die Inszenierung und Reflexion konfliktuöser politischer Zeitlichkeiten“ gelten – diesen Nachweis erbringen die versammelten Studien zu den Dramatischen Eigenzeiten des Politischen. Kritisch anzumerken wäre, dass man insgesamt doch mehr darüber erfahren möchte, wie sich dies auf der formalen Ebene der dramatischen Texte niederschlägt, zumal mit Blick auf den einleitenden, durchaus nachdrücklichen Bezug auf Szondis Formsemantik. Überdies stellt sich die Frage nach den Gattungsinterferenzen, die Sophie Witts Beitrag zwar aufwirft, die aber wiederum auf der Verfahrensweise vertieft werden könnte, denkt man beispielsweise an den inflationären Gebrauch von Erzählformaten im Drama um 1800 oder auch an die zunehmende Bedeutung des Nebentextes und schließlich an Gattungshybride.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Gamper / Peter Schnyder (Hg.): Dramatische Eigenzeiten des Politischen im 18. und 19. Jahrhundert.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2017.
279 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865255983

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch