Wissenschaft im Taschenbuch

Eine umfassende Darstellung der legendären Reihe „rowohlts deutsche enzyklopädie“

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur wenige Jahre nach dem Start der Taschenbuchreihe rororo brachte der Rowohlt Verlag eine Subreihe heraus, die stilprägend dafür war, wie Wissenschaft im Taschenbuch (erfolgreich) publiziert werden konnte. Unter der Herausgeberschaft von Ernesto Grassi, dem ständigen Gastprofessor für die Philosophie des Humanismus an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erschienen unter der Reihenbezeichnung rowohlts deutsche enzyklopädie (rde) relativ schmale Taschenbücher, deren Ziel es war, „jedem geistig Interessierten alle Gebiete der Wissenschaft durch ihre angesehensten Vertreter“ zu erschließen, so der Rückseitentext in den Anfangsjahren der Reihe.

Der in der Zeitschriftenreihe Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen erschienene Band Wissenschaft im Taschenbuch beschreibt in 15 Beiträgen die Entstehung der Reihe, stellt wichtige Einzelwerke vor, beschreibt spezielle Aspekte wie das Titelbild gegenüber dem Haupttitel oder die lesepädagogische Funktion der Zwischentitel und bietet vor allem eine vollständige Bibliografie aller publizierten Bände mit genauen Auflagenzahlen. In den Jahren zwischen 1955 und 1968 erschienen 298 Bände in 396 Nummern. Die Differenz zwischen Band- und Nummernzahl erklärt sich daraus, dass rund ein Drittel der Titel Zwei- oder Dreifachbände waren. Der Verlag konnte so den Einheitspreis von 1,90 Mark für den Einfachband bis 1960 halten.

Die Periodizität der Reihe betrug weniger als zwei Titel pro Monat, was einerseits verglichen mit den großen Reihen der Taschenbuchverlage wenig ist, für eine wissenschaftliche Taschenbuchreihe jedoch bemerkenswert viel. Die bei Weitem höchsten Verkaufszahlen erreichten bis 1970 Soziologie der Sexualität von Helmut Schelsky (168.000 Exemplare) und Der Aufstand der Massen von José Ortega y Gasset (165.000 Exemplare). Mit deutlichem Abstand folgten Der Mythos vom Sisyphos von Albert Camus (126.000 Exemplare) und der Eröffnungsband der Reihe, Die Revolution der modernen Kunst von Hans Sedlmayr (125.000 Exemplare). Insgesamt kamen neun Bände auf eine Zahl von 100.000 und mehr verkauften Exemplaren. Damit lagen die Zahlen höher als vergleichbare Titel in der edition suhrkamp, die das wissens- und ideengeschichtliche Narrativ dominiert, wenn von Wissenschaft im Taschenbuch die Rede ist.

Warum gerade Grassi Herausgeber der rde wurde, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Auf jeden Fall kamen hier der schillernde Verleger Ernst Rowohlt (1887–1960), der sich selbst gern als Sozialisten bezeichnete und gute Kontakte nach Ostberlin hatte, und der wertkonservative italienische Heidegger-Schüler Ernesto Grassi (1902–1991) zusammen, der 1941 in Arthur Rosenbergs Nationalsozialistischen Monatsheften publiziert hatte. Grassi setzte sich in der Konzeption der Reihe gegen den Rowohlt-Lektor Kurt Marek durch, der 1949 unter dem Pseudonym C. W. Ceram mit seinem Buch Götter, Gräber und Gelehrte einen Bestsellererfolg gelandet hatte und für versierte, schreibprofessionelle Autoren zur Popularisierung von Wissensbeständen plädierte. Grassi schrieb später: „Der Erfolg meines Unternehmens besteht gerade in der Tatsache, dass ich dem Publikum für Dm. 1,90 keine popularisierende Wissenschaft biete“, sondern Werke von auf diesem Gebiet ausgewiesenen Wissenschaftlern.

Im umfangreichsten Beitrag des Bands stellen Jörg Döring und David Oels diese Konzeptionskontroverse, die Programmatik der Reihe im Spannungsverhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, die Struktur der Bände (bis hin zum Grassischen Diktat der Verwendung von Zwischenüberschriften, dazu gibt es einen eigenen Beitrag) – auch in Abgrenzung zu den Büchern des Wissens aus dem Fischer Verlag –, die Strategie der Titelformulierungen und das Ideal der verständlichen Sprache dar. Aber auch Verkaufszahlen, Vertriebsdetails und Daten zur Leserstruktur werden präsentiert. Besonders interessant ist die Kritik am Taschenbuch durch Theodor W. Adorno (Theorie der Halbbildung) und Hans Magnus Enzensberger (Bildung als Konsumgut), zielen beide doch letztlich auf rowohlts deutsche enzyklopädie: Adorno war ein wichtiger und einflussreicher Autor und Berater bei Suhrkamp, Enzensberger dort Lektor. Beide waren eingebunden in die Vorbereitungen der edition suhrkamp, die ab 1963 erschien und in Konkurrenz zur rde stand.

Sechs Beiträge sind kleine Buchgeschichten und behandeln Helmut Schelskys Soziologie der Sexualität (rde 2), Werner Kempers Der Traum und seine Be-Deutung (rde 4), Louis Baudins Der sozialistische Staat der Inkas (rde 16), Arnold Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter (rde 53), David Riesmans Die einsame Masse (rde 72/73) sowie René Königs Die Gemeinde (rde 79), also frühe Bände aus den Jahren 1955 bis 1958.

Die weiteren Artikel sind thematisch nicht so konsistent, aber nicht weniger interessant: eine Skizze der Beziehung zwischen Grassi und Adorno, ein Gutachten Grassis über Marcel Reich-Ranickis Vorschlag, einen Band mit dem Titel Erzähler der DDR in die rde aufzunehmen, ein Beitrag zum erziehungswissenschaftlichen Diskurs in der BRD sowie Grassis Lektorat in Form eines Briefs an den Opernregisseur Götz Friedrich zu einem letztlich nicht zustande gekommen Buch über das Musiktheater.

Und am Ende des Buchs Der Anfang vom Ende, der Bericht über den „Perspektivplan“ zur Reform der rde. Im Lauf der 1960er Jahre waren die Auflagenzahlen der Reihe beständig gesunken und es wurden verlagsintern Überlegungen angestellt, wie man die stark gewachsene Zielgruppe der Studierenden besser erreichen könnte. Ursprünglich sollte die rde umgestaltet werden, doch mündeten die Planungen schließlich in die Reihe Rowohlt Studium, in der 117 Bände im Zeitraum von 1972 bis 1980 veröffentlicht wurden.

Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Wissenschaft im Taschenbuch 1955–68 ist ein Buch, wie man es sich als Aufarbeitung einer der prägenden wissenschaftlichen Taschenbuchreihen wünscht: informativ, analytisch, durchaus auch anekdotisch, sehr gut geschrieben. In der Verwendung der Zwischenüberschriften folgt es ganz dem Gegenstand und dessen Herausgeber. Grassi war der Auffassung, „dass ein durch viele Zwischenüberschriften aufgelockerter Text leserfreundlicher und einladender sei als ein Fließtext in der sprichwörtlichen Bleiwüste“.

Titelbild

Jörg Döring / David Oels / Sonja Lewandowski (Hg.): Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Wissenschaft im Taschenbuch 1955–68.
Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen. 12. Jahrgang 2017 Heft 2.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2017.
361 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783865255822

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