Die Seensucht des verstorbenen Vaters

John von Düffel begleitet in seinem neuen Roman „Der brennende See“ eine Tochter während ihrer Selbsterkenntnis zur Beerdigung des Vaters

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John von Düffel kann nicht ohne das feuchte Nass. Seine Werke tragen schon im Titel seine Begeisterung zur Schau: Vom Wasser (1998), Schwimmen (2000) oder Wassererzählungen (2014) heißen sie und unterstreichen bereits vor der Lektüre, dass er nicht nur privat – als leidenschaftlicher Langstreckenschwimmer – in seinem Element ist, sondern auch als Erzähler. Flüsse, Seen und andere Gewässer sind dabei topografische Ordnungskategorien und als solche identitätsstiftend.

Auch im Mittelpunkt seines neuen Romans steht ein (Bagger-)See, der im Leben des Vaters von Hannah, der jungen Hauptfigur, eine zentrale Rolle spielte – nicht nur zum täglichen Schwimmen. Sie kehrt zur Beerdigung des Vaters an den Ort ihrer Jugend zurück, bewohnt eine Zeit lang noch sein Haus und entdeckt „in diesem leer gestorbenen Raum“ – der Vater war Schriftsteller und ein Minimalist, der sich ständig mit leichtem Gepäck auf der Durchreise befand, mit nur einem einzigen Apfel als Proviant – in seiner Bettlektüre ein Foto jener jungen Frau, die ihr beim Besuch am kühlen, unnahbaren See kurz zuvor das Fahrrad gestohlen hatte. Ab da schwelgt sie bei Zigaretten und Wein in Gedanken an ihren Vater, doch stärker als dessen Tod – „[s]ein Tod änderte nichts an seiner Abwesenheit in ihrem Leben. Es wurde weder leerer noch schwerer“ – beschäftigt sie die Frage, wer die Unbekannte ist und welche Rolle sie im Leben des Vaters gespielt hatte.

Dass sich auf der Ebene des Plots kaum etwas ereignet, tut dem literarischen Genuss keinen Abbruch. Der Roman lebt von den Begegnungen, die Hannahs Stimmungen, innere Leere und Orientierungslosigkeit unterstreichen. Sie lässt sich zunächst auf die Avancen des Rechtsanwalts Dr. Lüders ein, eines angesehenen Mannes in der Stadt und langjährigen Vertrauten ihrer Familie, der von der Testamentseröffnung wie von einem Date spricht. Fast zufällig trifft sie danach auf die alles ahnende alte Schulfreundin Vivien, einst erfolgreich mit einem pferdegestützten Coachingprogramm und nun drauf und dran, mit ihrem Mann Matthias am Baggersee eine lukrative Seniorenresidenz zu erschaffen. Nur widerwillig, aber auch, weil sie so am See sein kann, nimmt Hannah ihre Einladung an und verbringt mit den beiden und dem kleinen Sohn Marvin die kommenden Tage.

Dessen sechzehnjährige Schwester ist hingegen mehr oder weniger von Zuhause ausgezogen und widmet sich ganz dem aktiven Klimaschutz. Mit Julias Erscheinen, die sich als die gesuchte Frau auf dem Foto entpuppt, geht Hannahs Suche zu Ende, aber nicht ihre Obsession für sie. Von Düffel, der in seinen Texten Phänomene des Zeitgeschehens – wie schon in Beste Jahre (2007) das Thema der Reproduktionsmedizin, in Klassenbuch (2017) die Smartphone- und Drohnenwelt junger digital Natives – in den Mittelpunkt seiner literarischen Auseinandersetzung rückt, entwirft mit ihr eine Friday-for-Future-Aktivistin samt obligatorischer Demobeschreibungen und Aktionen. Seine zweiteilige Geschichte spielt überhaupt in den sehr trockenen, ozonbelasteten Tagen vom 21. bis 24. April 2019. Jedes Kapitel wird durch einen Wetterbericht eingeleitet, in dem verschiedenste Begriffe zu von Düffels Lieblingselement eingesetzt werden: Es geht um Oberflächenwasser, Rasensprengverbot, Löschwasserentnahme, Hitzegewitter, sintflutartige Regenfälle, Regenwahrscheinlichkeit, Frühnebel- und Wolkenfelder. Ja, auch Wolken, denen der verstorbene Vater sein wichtigstes Buch mit dem Titel Wolkenbuch gewidmet hatte, bestehen schließlich aus Wassertröpfchen.

„Ist es denn wirklich so falsch, wie wir leben?“, fragt Vivien, die Julia an den Klimaschutz verloren glaubt und Hannah schwermütig von der Beziehung ihrer Tochter zu deren verstorbenen Vater berichtet. Hannahs Vater und Julia verband die Erkenntnis, dass Wolken „eine bedrohte Spezies“ sind, und die Unruhe über den Zustand der Welt. Sie befanden sich in einem seelischen Einklang, der Julia zur Annahme verleitete, sie sei die Tochter des Schriftstellers. Sie schloss sich der Öko-Bewegung an und radikalisierte sich immer mehr, was ihre Mutter ratlos zurücklässt.

Auch Hannah beobachtet mit einer gehörigen Portion emotionalem Abstand eine der Freitagsdemonstrationen, bei der sich die Jüngsten und die Ältesten zusammengetan haben. Doch sie – wie auch ihre Generation, „die das System am Laufen hielt und somit verantwortlich war“ – bleibt der abschließenden Kundgebung fern. Ebenso wie sie den Rechtstreit der Grundspekulanten und der Öko-Aktivisten um den See lediglich zur Kenntnis nimmt, aber hierzu bis zum Schluss keinen Standpunkt entwickelt.

Von Düffels handlungsarmer Roman, der einen Generationenkonflikt heraufbeschwört, ihn aber seltsam blutleer ausstaffiert, ist trotz seiner anklagenden Erzählperspektive und mancher Redundanzen lesenswert. Besonders die Darstellung des problematischen Selbstverständnisses der Hauptfigur und der beiden Nebenfiguren Vivien und ihrem Mann Matthias, die die Entfremdung in ihren jeweiligen Beziehungen hingenommen haben beziehungsweise im Alltagstrott die Kraft nicht aufbringen, ihr entgegenzuwirken, werden die Leserschaft aufhorchen lassen. Denn während wir uns unseren kleineren und größeren Lebensprojekten widmen – so führt uns von Düffel vor – sind wir drauf und dran emotional zu verkümmern.

Titelbild

John von Düffel: Der brennende See. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181222

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