Fernweh

Ein Handbuch zu Postkolonialismus und Literatur

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Handbuch zu Postkolonialismus und Literatur kommt rechtzeitig. Migration, Globalisierung, Fragen der kulturellen Hege- oder Heteronomie und nicht zuletzt Integration sind Sachverhalte, die ohne ein Verständnis für den Anderen, seine Fiktionen und Imaginationen nicht zu verstehen sind. Es ist ein Handbuch, das also zur rechten Zeit kommt und an der Zeit ist.

Um zu verstehen, was „Postkolonialismus“ ist oder sein kann, muss man zunächst klären, was „Kolonialismus“ war oder ist. Das Koloniale als eine Chiffre für das „Andere“ spielt, so die Auffassung der Vertreterinnen und Vertreter dieser Richtung, im imaginativen und politischen Selbstverständnis des Westens eine Rolle, auf die initial Edward Said in seinem Buch „Orientalismus" (1978, dt. 1981) wohl am wirkungsmächtigsten hingewiesen hat. Theoriepolitisch heikel wird die Darstellung dann, wenn behauptet wird, die „Aufarbeitung des Holocaust“ habe die „Beschäftigung mit dem Kolonialismus“ lange Zeit „überlagert“. Das kann nur jemand behaupten, der sich seiner Sache moralisch, politisch, theoretisch ganz, ganz sicher ist. Wenn theoriepolitisch der Holocaust als das Andere der Kolonialgeschichte fungiert, dann funktioniert das zwar innerhalb des Ansatzes, doch trifft außerhalb des Ansatzes auf keinerlei Faktizität.

Wie hat man das Präfix „post“ in Postkolonialismus zu verstehen? Zum einen zeitlich, weil die Zeit der Kolonialstaaten vorbei ist; zum anderen aber natürlich auch kategorial, weil erst nach dem Ende des kolonialen Zeitalters die Auseinandersetzung mit dem, was Kolonialismus gewesen ist, möglich ist. Allerdings muss man auch kritisch einwenden, dass die Formen des Neokolonialismus, wie sie derzeit in Afrika zu beobachten sind, sicherlich nicht mit „Postkolonialismus“ zu beschreiben wären, sondern alte Muster unter neuen Vorzeichen wiederholt werden. Auch ein Blick zurück in jene Zeiten, in der die Vermittlung des Anderen Aufgabe von Diplomatie und Handel gewesen ist, hätte nicht geschadet. Die Verfahren, die etwas Fremdes zum Eigenen machen, wären unter kulturpoetologischen Aspekten zu untersuchen; wie etwa die Archive der East India Company, jener Korporation, die, wie Nick Robins in „The Corporation that changed the world" von 2012 ausgeführt hat, die Internationalisierung des Handels im Auftrag des Staates betrieben hat.

Die Herausgeber verstehen den Band einerseits als Überblicksdarstellung über postkoloniale Theorie und Forschung, andererseits als Einführung in die Praxis der postkolonialen Theorie in den ‚Nationalphilologien‘. Darüber hinaus ist der Band eine Einführung in jene „Paradigmen“ postkolonialer Forschung wie Interkulturalität, Memory Studies, Gender Studies.

Dementsprechend gestaltet sich auch der vierteilige Aufbau des Bandes. Der erste Teil „Theorie“ ist wiederum in drei Teile unterteilt, die „Grundlagen“ vermitteln, die „Rezeption und Ausfaltung“ in unterschiedlichen Fächern und Philologien darstellen und zum Ende die zentralen „Paradigmen“ erläutern und kontextualisieren.

Der zweite Teil klärt dann die Grundbegriffe postkolonialer Forschungspraxis. Hier finden sich Einträge von „Agency“, „Kreolisierung“ „Kontaktzone“, „Orientalismus“, „Whiteness“ bis zu „Writing back“. So wird auf anschauliche Weise das Funktionieren des postkolonialen Ansatzes deutlich. Für einen schnellen Einblick in das Wirken und die Heuristik zentraler Begriffe eignet sich dieser Teil besonders gut. In gut lesbaren, präzise zusammenfassenden Einträgen zu den jeweiligen Lemmata vermitteln diese Einträge dem Leser Orientierung und ermöglichen so weiterführende Beschäftigung.

Der dritte Teil (Literatur) schließlich klärt zunächst mit Blick auf die deutschsprachige Literatur über die Literaturgeschichte des Themas auf. So findet sich dort ein überaus instruktiver Artikel zum Thema „Kolonialliteratur“, der den „imaginären Gemeinschaften“ in der Literatur zwischen 1896 (Frieda von Bülows Tropenkoller) und 1926 (Hans Grimms Volk ohne Raum) nachgeht. Damit wird deutlich, dass Fiktionen des Anderen immer auch ihren politischen Kontext haben, der für die analysierende Lektüre der Texte wichtig bzw. bestimmend ist. Insbesondere anhand der kurzen Bemerkungen über Hans Kaempffers Das erste Jahr aus dem Jahr 1940 wird das sehr deutlich, wenn die Fiktion „DSWA“ durch den zweiten Weltkrieg und die Eroberungszüge im Osten Europas gleichsam substituiert wird. Die allesamt einen präzisen Überblick bietenden Artikel zur Literatur- und Diskursgeschichte des Anderen (Vom Mittelalter bis zur Migrationsliteratur unserer Tage) schließen jeweils mit einer aktuellen Forschungsbibliographie ab. Dasselbe gilt auch für die Einblicke in die französische, die englischsprachige, die amerikanische, die niederländische und flämische, die spanische und portugiesische, italienische und skandinavische Literatur.

Den Abschluss bildet ein „Anhang“ genannter Teil, der aber gar nicht als Appendix daherkommt, sondern noch einmal den Imaginationen und Repräsentationen der Kolonialgeschichte in Politik, Kultur und Mediensystemen der ehemaligen Kolonialmächte nachgeht.

Insgesamt gibt das Buch einen sehr guten Überblick über Stand, Methoden und Möglichkeiten des postkolonialen Ansatzes. Ein Handbuch für Studierende, Forschende und Laien, die sich für das, was ein nicht allzu kleiner Teil der Literatur- und Kulturwissenschaftler an den Universitäten treibt, interessieren. Der Band und die einzelnen Lektüren machen neugierig auf den postkolonialen Ansatz.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dirk Göttsche / Axel Dunker / Gabriele Dürbeck (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017.
459 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025517

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