Edition als Konstruktion

Streitfall Hölderlin: Die Kontroverse zwischen Martin Heidegger und Friedrich Beißner und ihre Rezeption in der Literaturwissenschaft

Von Heinrich KaulenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Kaulen

Friedrich Hölderlin gehört zu jenen Autoren, an denen aufgrund ihrer exponierten Position quer zu den beliebten Epochengliederungen der Literaturgeschichte, ihres widerspruchsvollen Rezeptionsprozesses und nicht zuletzt aufgrund des problematischen Überlieferungsstatus ihrer Texte immer wieder grundlegende Fragen der Literaturwissenschaft diskutiert worden sind. Dies gilt in besonderem Maße auch für Probleme der Editionstheorie. Die zahlreichen Fragen, die insbesondere Hölderlins Spätwerk aufwirft, haben von Franz Zinkernagel und Norbert von Hellingrath, den Entdecker des späten Hölderlin, über Friedrich Beißners viel diskutiertes „Stufenmodell“ in der Stuttgarter Ausgabe (1943-1985) bis zu Dietrich E. Sattlers präziser Rekonstruktion der textgenetischen Prozesse in seiner modellhaften Frankfurter Ausgabe (1975-2008) immer wieder neue editorische Anstrengungen provoziert, die für andere Bereiche der Kulturwissenschaft wegweisend geworden sind (vgl. Kaulen 1991/92 und 1994).  

Diese Bemühungen haben das Bewusstsein dafür verschärft, dass kontroverse Fragen des angemessenen Verstehens für die Textwissenschaften nicht erst mit der Interpretation einer bereits in gesicherter Form vorliegenden literarischen Aussage, sondern sehr viel früher beginnen. Die Textedition, die ja erst den „gültigen“ Text konstituiert, ist selber ein Akt der Textkonstruktion, in den eine Vielfalt oft undurchschauter und nicht offen gelegter Prämissen, Kategorien und Intentionen eingeht. Ohne ein wie immer geartetes „Vorverständnis“ von Literatur, Werk und Autor gibt es keine Textedition. Mit anderen Worten: Der „gesicherte“ Text ist nur scheinbar „gesichert“. Bei näherem Hinsehen zeigt sich häufig, wie viele Entscheidungen eines Herausgebers tatsächlich nur aufgrund seiner spezifischen methodologischen Voreinstellung sinnvoll sind. Welche methodologischen Probleme die Textedition aufwirft, soll im Folgenden an einem konkreten Beispiel illustriert werden. Dabei geht es auf den ersten Blick nur um den Streit um ein einzelnes Verbum aus Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage…‚ der sich – so belanglos dieser Anlass auch scheinen mag – zu einer regelrechten Kontroverse um Grundfragen der Textedition ausgeweitet hat.

Textedition als Konstrukt: Martin Heidegger über Hölderlins „Wie wenn am Feiertage…“

Ausgelöst wurde die Debatte von Martin Heideggers eigenwilliger Interpretation des Hölderlin’schen Gedichts, erschienen als Einzeldruck 1941 (Heidegger 1941) und dann wieder 1951 in Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Heidegger 1951). In der Großen Stuttgarter Ausgabe bezog dann der Herausgeber Friedrich Beißner die Gegenposition zu Heidegger, zu dessen Verfechter sich andererseits mit Nachdruck Beda Allemann machte. In den 1960er und -70er Jahren nahmen Peter Szondi und Erwin Leibfried zu den strittigen Fragen Stellung.

Zunächst zum Ausgangspunkt des Streites: 1941 veröffentlichte Martin Heidegger seine Interpretation der berühmten Hymne Hölderlins. Heidegger konnte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf die Beißner’sche Ausgabe stützen, er bezog sich vielmehr auf die Erstausgabe des um 1800 entstandenen Gedichts, die Norbert von Hellingrath im Jahr 1910 veröffentlicht hatte. Um über eine gesicherte Textgrundlage zu verfügen, überprüfte Heidegger zusätzlich die Druckvorlage durch eine Autopsie der Handschrift. Das Ergebnis dieses Textabgleichs ist die Konstruktion einer eigenen Fassung des Gedichts, die in einigen Punkten von der Hellingrath’schen abweicht. Heidegger stellt also seiner Interpretation eine editorische Neufassung der Hymne voran und bezieht sich in seiner Deutung auf diese eigene Fassung des Gedichts. Herausgeber und Interpret treffen sich in ein- und derselben Person.

Ein Zufall zweifellos, verglichen mit der Situation, in der sich ein durchschnittlicher Rezipient befindet, dem, zumindest bis zum Erscheinen der Faksimileausgaben Sattlers und vor der Publikation der heutigen Online-Editionen, in der Regel weder Zeit noch Mittel zur Rekonstruktion eines einwandfreien Textes anhand der handschriftlichen Quellen zur Verfügung standen. Und doch drückt dieser Tatbestand zugleich mehr aus: Ihm entspricht die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit von Textinterpretation und Textedition, die eine strikte Trennung in die Funktionen des scheinbar nach objektiven Maßstäben verfahrenden Herausgebers und des bloß subjektiv deutenden Lesers unmöglich macht. Textedition ist aus der Perspektive Martin Heideggers immer schon Textdeutung.

Heidegger kann deshalb gleich am Anfang seiner Schrift einen Satz wagen, der unsere gewöhnliche Vorstellung auf den Kopf stellt. Er schreibt: „Der hier zugrunde gelegte Text beruht, nach den urschriftlichen Entwürfen erneut geprüft, auf dem folgenden Versuch einer Auslegung.“ (Heidegger 1941, S. 5) Interpretation folgt nicht bloß der Texterstellung, sondern geht ihr auch – im Sinne eines hermeneutischen Zirkels der Edition – immer schon voraus. Die Identität von Herausgeber und Interpret ist, mit anderen Worten, für Heidegger keineswegs eine zufällige Ausnahme, sondern die Regel. Wer einen Text in einem bestimmten Sinn ediert, der interpretiert ihn zugleich.

Dieser noch recht allgemein gehaltenen Aussage werden wohl auch die meisten Kontrahenten Heideggers zustimmen können. Problematisch wird der angedeutete Sachverhalt erst, wenn an einzelnen konkreten Textstellen der Spielraum des zulässigen individuellen Eingriffs in ein vollständig oder fragmentarisch überliefertes Textgebilde zur Debatte steht. Auf der einen Seite wird in solchen Diskussionen gewöhnlich die These vertreten, alle äußeren Eingriffe in den Text seien nach Möglichkeit zu vermeiden oder doch auf ein Minimum zu beschränken, da sie die Vorlage unweigerlich verfälschen. Übersehen wird hierbei, dass viele Texte aufgrund unzureichender handschriftlicher Überlieferung nur durch nachträgliche Textverbesserungen und bisweilen kühne Konjekturen überhaupt als Texte lesbar zu machen sind. Auf der anderen Seite kann Heideggers Position sehr leicht dazu verleiten, einen Text so lange zu modifizieren, bis er den Wünschen des Interpreten weitgehend entspricht; missachtet werden in diesem Fall der Stellenwert und der Rang der Handschrift.

Führt das eine Extrem aus Gründen der Treue zur Überlieferung zu einem unverständlichen oder gar unlesbaren Text, so das andere zu einer kohärenten Fassung um den Preis schrankenloser Freiheit des Editors. In beiden Fällen wird die ursprüngliche Intention des Textes verfehlt. Diese kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, einen Ausweg aus dem Dilemma sklavischer Abhängigkeit von der Handschrift einerseits, unbegrenzter interpretatorischer Willkür andererseits zu finden.

Sowohl Heidegger als auch Beißner haben das in ihren jeweiligen Fassungen versucht. Strittig ist zwischen ihnen also keineswegs die Notwendigkeit einer Textbereinigung – Zweifel daran erübrigen sich in Anbetracht der Handschriftenlage bei Hölderlin von selbst. In Frage steht lediglich die Legitimität und Plausibilität einiger von Heidegger vorgenommener Texteingriffe. Wir brauchen deshalb im Folgenden nicht auf Heideggers gesamte Interpretation einzugehen. Es genügt, wenn an einem Einzelfall die entscheidenden Differenzen sichtbar gemacht werden.

Die wichtigste Korrektur, die Heidegger am Hellingrath’schen Text vornimmt, bezieht sich auf den Vers 39 des Gedichts. Heidegger liest:

Und die uns lächelnd den Aker gebauet,
In Knechtsgestalt, sie sind bekannt, die
Die Allebendigen, die Kräfte der Götter.
Erfrägst du sie? im Liede wehet ihr Geist,
Wenn es von der Sonne des Tags und warmer Erd
Entwacht, […].

Anders Hellingrath: er liest – wie später auch Friedrich Beißner:

[…] im Liede wehet ihr Geist,
Wenn es der Sonne des Tags und warmer Erd
Entwächst, […].

Der Streit entzündet sich also an einem einzelnen Verbum: „entwacht“ das Lied, wie Heidegger meint, oder „entwächst“ es „der Sonne des Tags und warmer Erd“, wie Beißner und Hellingrath glauben? Ist diese Frage überhaupt entscheidbar? Mit welchen Argumenten rechtfertigt Heidegger seine divergierende Lesart?

Werfen wir einen Blick auf den Kontext der entsprechenden Passage. Die Gedanken Hölderlins kreisen in der genannten Hymne um die besondere Stellung des Dichters und sein problematisches Verhältnis zum Volk. Es ist interessant zu beobachten, dass Heidegger in seiner Deutung darauf verzichtet, irgendeinen Bezug zur sozialen und politischen Situation um 1800 herzustellen, obschon das Gedicht selbst an vielen Stellen ein solches Verständnis geradezu nahelegt. Im Mittelpunkt von Heideggers Interpretation steht der Begriff der heiligen, allebendigen Natur, ohne dass dieser Begriff auf seine möglicherweise verdeckten historischen Implikationen abgeklopft würde. Ausgehend vom Beginn des Gedichts, des tagenden Morgens, sieht Heidegger im Erwachen und Entwachen der Natur die Kernaussage des Gedichts.

Er skizziert den Anfang der Hymne:

Die Natur ruht. Ihre Ruhe bedeutet keineswegs das Aufhören der Bewegung. Ruhe ist das Sichsammeln auf den in aller Bewegung gegenwärtigen Anfang und sein Kommen. Deshalb ruht auch die Natur ahnend. Sie ist bei sich, indem sie in ihr Kommen vordenkt […]. Die dem wunderbar Allgegenwärtigen, dem Mächtigen, dem göttlich Schönen Entsprechenden sind die Dichter […]. Sie allein verharren in der Entsprechung zur ahnend ruhenden Natur. (Heidegger 1941, S. 9)

Dann kommt plötzlich Bewegung in das ruhende Leben. Die Natur

enthüllt als das Tagende ihr Wesen im Erwachen […], im Erwachen kommt sie zu sich selbst. Die Begeisterung fühlt neu sich wieder, „die Allerschaffende“. So heißt jetzt die allgegenwärtige Natur […]. Die Natur begeistert als die allgegenwärtige, allerschaffende. Sie ist selbst die „Begeisterung“ (ebd., S. 14).

Inwieweit Heideggers Deutung den Hölderlin’schen Text im Einzelnen trifft, kann hier unerörtert bleiben. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass Heidegger immer wieder – und durchaus in Übereinstimmung mit dem Text – den Moment des Neuanfangs, des Erwachens, des Übergangs von Tag zu Nacht hervorhebt. Auf diesen Textzusammenhang gründet sich nämlich seine Kritik an Hellingraths Fassung des Gedichts. Heidegger deutet die umstrittene Passage wie folgt und begründet damit zugleich seine abweichende Lesart:

Erst im „Gesang“ und nur in ihm fügt sich der „Geist“ zum besinnbaren Gefüge des Heiligen. Aber nicht in jedem „Sang“ wehet der Geist. Dies ereignet sich nur im Lied,

Wenn es von der Sonne des Tags und warmer Erd
Entwacht, …

In der Urschrift steht eindeutig „entwacht“, nicht wie die bisherigen Ausgaben lesen „entwächst“. Das Lied muß dem Entwachen der Natur „hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder“ entstammen. Wenn es so mit der „erwachenden Begeisterung“ miterwacht, weht in ihm der Anhauch des Kommens des Heiligen. Wie sonst ist jetzt der Ursprung des Liedes.

Sein Entwachen geschieht in „Wettern, die …hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern“. Der Aufruhr jenes ganzen Bereiches ist nötig, in dem vormals die Natur zu schlafen schien. Dieser Aufruhr des Alls entspringt einer Erschütterung die „vorbereiteter in Tiefe der Zeit“. Das Entwachen reicht in die älteste Zeit zurück, von der her alles Kommende schon vorbereitet ist. (Ebd., S. 20f.)

Heidegger führt zwei gewichtige Gründe an, die für die von ihm konstruierte Version des Gedichts sprechen:

1. In der Urschrift steht unmissverständlich „entwacht“ und nicht „entwächst“, das heißt Heidegger kann sich – anders als seine Kontrahenten – auf die konkrete Materialität der Handschrift stützen.

2. Der Kontext des Gedichts, in dem – wie gezeigt – von Tag und Morgen die Rede ist, legt im Sinne der Textkohärenz die Annahme eines Bezugs des Verbs auf die vorangegangenen Strophen nahe. Das „Entwachen“ des Liedes steht in direktem Zusammenhang mit dem „Erwachen“ der Natur.

Mit dem Handschriftenvergleich und der Kontextverifizierung ist somit für Heidegger das editionstechnische Problem gelöst. Aus seinem Verständnis des Ganzen gibt nur „entwacht“ einen adäquaten Sinn. „Entwächst“ ließe sich in die Textfassung nur integrieren, wenn man einen für das Gedicht konstitutiven Sinnzusammenhang an dieser Stelle zu durchbrechen bereit ist.

Die Kontextverifikation Heideggers ist unterdessen nicht unproblematisch. Denn einerseits übersieht Heidegger, wie es scheint, die semantische Verwandtschaft von „entwacht“ und „entwächst“ – beide Verben deuten schließlich auf Anfang und Neubeginn hin –, andererseits missachtet er zugunsten der großen Zusammenhänge im Ganzen des Gedichts den unmittelbaren Kontext des Worts. Die „Sonne des Tags“ könnte man noch mit „entwachen“ assoziieren, aber die „warme Erd“ legt doch wohl eher den Gedanken an das organische Wachsen der Blumen und Pflanzen nahe. Auf dem Wege einer kontextuellen Verifikation könnte man also genauso gut zu einem Ergebnis gelangen, das dem Heideggers diametral entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten: Es wäre möglich (Erwin Leibfried weist später darauf hin), Heidegger durchaus „immanent“ zu widerlegen, ihn also mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Friedrich Beißner als Kontrahent Heideggers

Die Kritik Friedrich Beißners versucht freilich – und das hat zur Ausweitung der „Debatte“ erheblich beigetragen – einen anderen Weg zu gehen. Ohne den Kontext genauer zu berücksichtigen, bemüht Beißner sich, in den Anmerkungen zur Großen Stuttgarter Ausgabe Heidegger mittels eines den Naturwissenschaften entlehnten induktiven Analogieschlusses zu widerlegen. Er weist nach, dass Hölderlin in nicht weniger als sieben anderen Fällen „entwacht“ und ähnliche Formulierungen durchgestrichen und durch „entwächst“ korrigiert hat. Da dieser empirische Befund einen Schreibfehler auch in der vorliegenden Hymne nahelegt, fühlt Beißner sich verpflichtet – gewissermaßen stellvertretend für Hölderlin – auch in diesem achten Fall eine Korrektur vorzunehmen. Auf diesen logischen Schluss gründet sich im wesentlichen seine Argumentation; teilt man Beißners methodologische Voraussetzungen, so spricht der handschriftliche Befund – trotz des entgegengesetzten Wortlauts der einzigen Handschrift, die das Gedicht überliefert – nicht für, sondern gegen Heidegger. Die erste Basis seines Beweises ist damit erschüttert.

Heideggers zweites Hauptargument – die kontextuelle Verifikation – verwirft Beißner unter Hinweis auf den Gesamtkontext des Sprachgebrauchs bei Hölderlin und in seiner Zeit. Er führt drei Gründe gegen eine Lesart „entwacht“ an:

1. Ein Verbum „entwacht“ sei zu Hölderlins Lebzeiten nicht nachweisbar.

2. Das Verbum sei bei Hölderlin nicht belegt, es sei denn als Schreibfehler.

3. Die Bedeutung von „entwacht“ sei unklar.

Auch hier bringt Beißner im Grunde einen Analogieschluss zur Anwendung, wenn auch in gleichsam umgekehrter, negativer Form. Zum Beweis dient nicht länger wie anfangs das Zitieren von Parallelstellen, sondern im Gegenteil das Fehlen jeglicher Parallelstellen in der poetischen und außerliterarischen Sprachverwendung. Auch der logische Schluss kehrt sich um: was es im Allgemeinen nicht gibt, darf auch als Besonderes oder als Ausnahmefall nicht existieren. Die Ausnahme wird im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Ausnahme, die lediglich die Regel bestätigt und deshalb als Ausnahme zu eliminieren ist, so dass die Regel triumphieren kann.

Beißner stützt seine Begründung ebenso wie Heidegger auf Handschrift und Kontext. Dennoch gelangen beide zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Der Grund dafür liegt in ihrem unterschiedlichen methodischen Ansatz. Während Heidegger sich auf die Untersuchung der hermeneutischen Wechselbeziehung von Detail und Ganzem im Rahmen des Gedichts beschränkt, stellt Beißner mittels Analogieschlusses zwischen dem individuell-einmaligen Gedicht und dem Gesamtwerk des Autors eine Beziehung her.

So fruchtbar und notwendig die Beißner’sche Methode auch sein mag, gerade weil sie eine Fülle in positivistischer Kleinarbeit gesammelter Daten und Fakten berücksichtigt, so groß ist auch die Gefahr, dass durch sie die unverwechselbare Individualität des einzelnen Gedichts verfehlt wird. Wenn Abweichungen von der sprachlichen Norm per se als falsch disqualifiziert werden, verstellt man sich den Blick auf die literarische Qualität solcher scheinbar fehlerhaften Wendungen. Es fragt sich, ob Beißners Verfahren nicht in letzter Konsequenz gerade die sprachlichen Eigentümlichkeiten liquidieren muss, die Literatur als Literatur auszeichnen. Das Aufspüren von Gesetzmäßigkeit im Gesamtwerk eines Autors kann leicht dazu verleiten, zu übergehen und einfach auszumerzen, was immer sich der Gesetzmäßigkeit widersetzt, ohne es in seinem Eigenwert, in seiner speziellen Funktion als sinnvoll zu erkennen. Das Detail hat schließlich nur noch Lebensrecht, wenn es sich unter ein allgemeines Gesetz subsumieren lässt.

Weniger das Resultat als vielmehr die spezifische Methode des Beißner’schen Lösungsvorschlages, sein Versuch, mittels Analogieschluss und Parallelstellensuche zu einer gültigen und einwandfreien Fassung zu gelangen, hat deshalb in der Literaturwissenschaft eine lebhafte Kritik hervorgerufen. Viele Literaturwissenschaftler, so Beda Allemann und später auch Peter Szondi, erblicken in Beißners Verfahren einen direkten Angriff auf die künstlerische Individualität.

Die Kontroverse weitet sich aus: Beda Allemann als Kritiker Beißners

Beda Allemann, ein Schüler Emil Staigers und über diesen auch mit Heidegger vertraut, setzt sich schon 1954 in seinem Buch Hölderlin und Heidegger kritisch mit Beißner auseinander. Er weist zunächst auf die immanenten Widersprüche in Beißners Argumentation hin und bringt Einwände gegen ihn vor, die in dem Maß, in dem sie Heidegger wieder ins rechte Licht rücken, zugleich die Problematik jeder eindeutigen Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Seite verdeutlichen. Es gelingt Allemann zu zeigen, dass

keine der sieben Belegstellen Beißners dem Fall entwacht-entwächst vollkommen gerecht wird, indem sie alle wohl den Ausfall des s, nicht aber jenen des Umlautzeichens wahrscheinlich machen und schon gar nicht das Zusammentreffen beider Fehler in dem einen Wort erklären können (Allemann 1954, S. 6). 

Die Parallelstellen lassen sich also nicht ohne Weiteres zum Beweis der Lesart „entwächst“ anführen. Freilich ist Beißner damit noch nicht widerlegt: Der Prosa-Entwurf des Gedichts, in dem an der entsprechenden Stelle „entwachsen“ steht, scheint dessen Annahme im Gegenteil zu bekräftigen.

Auch der Versuch, über den Kontext Aufschluss über die richtige Lesart zu erhalten, löst das Rätsel nicht, wie Allemann zeigt, sondern vergrößert nur seine Dunkelheit. Denn „sowohl Heidegger als auch Beißner [legen] je einen Text [vor], in welchen ‚entwacht‘ beziehungsweise ‚entwächst‘ allein hineinpasst.“ (Ebd., S. 7) Heidegger rekonstruiert: „wenn es von der Sonne des Tages und warmer Erd entwacht“, Beißner dagegen „wenn es der Sonne des Tags und warmer Erd entwächst…“.

Die versuchte Verifikation mittels der Handschrift scheitert. Die handschriftliche Quelle erlaubt nämlich, sowohl „von der Sonne“ als auch „der Sonne“ zu lesen, weil „von und der (?) an der nämlichen Stelle aufeinandergeschrieben“ zu finden sind. Damit erweist sich der Streit um „entwacht“ und „entwächst“ als eine Debatte um einen locus desperatus, die im Grunde nicht positiv zu entscheiden ist. Aber es geht Allemann auch gar nicht um ein endgültiges, gesichertes Resultat. Er will mit seiner Stellungnahme lediglich den Absolutheitsanspruch des positivistischen Induktivismus à la Beißner erschüttern:

Aber was besagen solche Parallelstellen-Belege überhaupt? Kann mit ihnen je eine Lesart „bewiesen“ werden? Wenn man solches für das vorliegende Beispiel behaupten wollte, müsste man die absurde Voraussetzung machen, dass Hölderlin selbst in seinem ganzen Werk nie Entwacht habe setzen können, und noch viel weniger ein entwachsen im Entwurf durch ein entwachen in der Reinschrift ersetzt habe, weil ein jedes Entwacht zum vornherein eine Verschreibung von Entwächst sein müsse. (Ebd.)

Mit der Exaktheit der Textkritik ist es offenbar nicht so weit her, wie ihre Vertreter gerne behaupten. Auch in die Beißner’sche Methode gehen, wie man sieht, ungeachtet ihres Objektivitätspostulats und ihres darauf gegründeten Geltungsanspruchs, eine Reihe unbefragter Hypothesen und Vorentscheidungen ein. Deshalb fragt Allemann:

Ist nicht auch sie [die Textkritik, H.K.], obwohl man von Editionstechnik spricht, viel eher eine Kunst denn eine Technik der Interpretation? Das heißt nun gerade nicht, sie gehorche weniger strengen Gesetzen; aber ihre Strenge ist nicht von der Art der Exaktheit der Naturwissenschaften. Dann ist es aber vielleicht doch nicht so unberechtigt, den hermeneutischen Zirkel auch für die Textkritik anzusetzen. (Ebd.)

Peter Szondis Beitrag zur Hölderlin-Kontroverse der 1950er und -60er Jahre

Auf Allemanns Seite stellte sich 1962 in seinem Traktat über philologische Erkenntnis der berühmte Berliner Komparatist Peter Szondi. Er knüpft an einen Streit zwischen Allemann und Beißner um die metaphorische Auslegung eines Verses aus Hölderlins Friedensfeier an – eine Kontroverse, die in vielem Ähnlichkeiten mit der zwischen Heidegger und Beißner aufweist. Auch ihm geht es weniger darum, Beißners Methode pauschal zu verwerfen, als vielmehr ihre Voraussetzungen und Grenzen aufzuweisen.

Problematisch wird die Parallelstellenmethode zum einen aufgrund der besonderen Struktur eines poetischen Textes, der – anders als ein naturwissenschaftliches Objekt – nicht ohne weiteres unter allgemeine Gesetze subsumiert werden kann, sondern als individuelles ästhetisches Gebilde begriffen werden will. „Sobald die Literaturwissenschaft ihre eigentliche Aufgabe im Verstehen der Texte sieht, verliert der naturwissenschaftliche Grundsatz des ‚einmal ist keinmal‘ seine Geltung. Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare.“ (Szondi 1962, S. 21) Zum anderen ist auch die vermeintlich objektive Tatsachenforschung nicht frei von subjektiven oder gar willkürlichen Implikationen. Nach Ansicht Szondis lassen sich subjektive Interpretation und objektives Material schon deshalb nicht im strengen Sinne trennen, weil die „Verwendung des Materials selber schon Interpretation“ (Ebd., S. 25) ist.

Der philologische Beweis ist also auf Verständnis in ganz anderer Weise angewiesen als etwa der mathematische. Denn nicht bloß die Beweisführung muß verstanden werden. Sondern auch der Beweischarakter des Faktischen wird erst von der Interpretation enthüllt, während umgekehrt das Faktische der Interpretation den Weg weist. Diese Interdependenz von Beweis und Erkenntnis ist eine Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels. Wer nicht wahrhaben will, daß ein Faktum erst als gedeutetes die Richtigkeit einer Deutung zu beweisen vermag, verfälscht den Kreis des Verstehens in jenes Wunschbild der Geraden, die vom Faktischen stracks zur Erkenntnis führen soll. Da es aber diese Gerade in der Philologie nicht gibt, wären die Tatsachen eher als Hinweise denn als Beweise zu bewerten. (Ebd., S. 26)

Es gibt für Szondi keinen Weg zurück hinter den hermeneutischen Zirkel. Dieser ist auch dann wirksam, wenn, wie bei Beißner, um der vermeintlichen Objektivität willen alles nur Subjektive sorgsam ausgeklammert werden soll.

Der vorläufige Abschluss der Kontroverse: Erwin Leibfrieds Versuch einer Synthese (1970)

Anders als Allemann und Szondi unternimmt der Gießener Literaturwissenschaftler Erwin Leibfried in seiner Kritischen Wissenschaft vom Text aus dem Jahr 1970 den Versuch einer Synthese der scheinbar unversöhnlichen Gegensätze (Leibfried 1970, S. 209-213). Er will an einem Beispiel illustrieren, dass alle Editionsprinzipien eine Vorentscheidung implizieren „im Hinblick auf das, was als Dichtung dann erscheint“ (ebd., S. 209). Die Edition eines gesicherten Textes wird von Leibfried explizit als ein Problem hermeneutischer Konstruktion begriffen: „Das Ergebnis einer solchen Textherstellung ergibt sich aus dem wechselseitigen Verhältnis zwischen einzelnem Faktum und übergreifender Idee, wobei das Faktum durch die Idee nuanciert ist.“ (Ebd.)

Leibfried stimmt also mit Heidegger, Allemann und Szondi darin überein, dass eine Textherstellung immer schon eine konstruktive Textdeutung impliziert. Wo die hermeneutischen Vorannahmen nicht gänzlich ausgeschaltet werden können, komme es darauf an, sie ins Bewusstsein zu heben und als wichtige Determinante zu erkennen. Beißners Methode hat für Leibfried daher ebenso ihr gutes Recht wie die seiner Kontrahenten. Während er Alleman vorwirft, die philologische Methode in Bausch und Bogen zu verwerfen, anstatt ihren kritischen „Geltungsbereich“ zu bestimmen, und ihm gar ein naturwissenschaftliches Objektivitätsideal unterstellt, hebt er die Bedeutung von Beißners Ergebnissen für die Textinterpretation hervor. Mit Recht weist er darauf hin, dass Beißner gewichtige Einwände gegen Heidegger vorbringt und dass auch seine Fassung sich immanent mit Heidegger’schen Mitteln einsichtig machen lässt. Beide Lösungsversuche sind aus dieser Perspektive also gleichwertig, beide methodischen Verfahren sind je für sich legitim, aber jedes nur innerhalb der Grenzen, in „denen es allein Geltung beanspruchen kann“ (ebd., S. 212).

Leibfrieds Synthese schlichtet den Streit zwischen den Konfliktparteien nicht, sondern bestimmt nur den formalen Rahmen, in dem sich aus seiner Sicht die Debatte fortan bewegen soll. Es komme nicht darauf an, den monopolistischen Geltungsanspruch einer Fassung dogmatisch zu behaupten, sondern lediglich die spezifischen methodologischen und konzeptionellen Voraussetzungen der unterschiedlichen Hölderlin-Deutungen zu bestimmen. Weil Leibfried darauf verzichtet, am konkreten Beispiel den Geltungsraum der gegensätzlichen Ansätze und Methoden zu analysieren, bleiben die entscheidenden Fragen bei ihm letztlich offen und unentschieden. Das ist unbefriedigend und führt nicht wirklich weiter. Übrig bleibt dann nur noch der Appell, die Pluralität der Meinungen in einem fairen, toleranten Dialog zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Literaturverzeichnis

Allemann, Beda: Hölderlin und Heidegger. Zürich/Freiburg 1954.

Heidegger, Martin: Hölderlin „Wie wenn am Feiertage“. Halle 1941.

Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1951.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. 8 Bde. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1943-1985.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. 20 Bde. Hrsg. v. Dietrich E. Sattler. Frankfurt am Main 1975-2008.

Kaulen, Heinrich: Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888-1916). In: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/1991), S. 182-209.

Kaulen, Heinrich: Rationale Exegese und nationale Mythologie. Die Hölderlin-Rezeption zwischen 1870 und 1945. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 554-577.

Leibfried, Erwin: Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie. Stuttgart 1970.

Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1967, S. 9-34.