Roman eines Wurzellosen

Ulrike Edschmid erzählt in „Levys Testament“ von einem Engländer polnisch-jüdischer Herkunft auf der Suche nach seiner Identität

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dieser Saison steigt der Traditionsverein Schalke 04 – wieder einmal – aus der ersten Bundesliga ab. Sogar vollständig an Fußball Desinteressierte werden sich ungefähr vorstellen können, was das für eingefleischte Fans dieses Vereins aus dem Ruhrgebiet bedeutet. In ihrem knappen, aber beeindruckenden Roman Levys Testament zeigt Ulrike Edschmid, wie Fußball für einen Menschen ein wesentlicher und womöglich sogar letzter Identitätsanker sein kann.

Den Buchumschlag ziert ein Stadtplan des Londoner Nordens, wobei der Stadtteil Tottenham ins Zentrum gerückt ist. Der Verein, um den es geht, ist der Tottenham Hotspur Football Club, kurz Spurs genannt, der im Jahr 1882 gegründet wurde und auf eine ähnlich wechselvolle Geschichte zurückblickt wie in Deutschland Schalke 04. Der letzte Satz im abschließenden 49. und kürzesten Kapitel des Romans ist ein Kommentar zu diesem Verein: „Our team lost […] but the game was better than Shakespeare.“

Dass Fußball zu einem Leitmotiv des Romans werden könnte, deutet sich am Anfang nicht an. Hier erzählt die Ich-Erzählerin, wie sie im Winter 1972 von Berlin nach London kommt und dort „den Engländer“ kennenlernt, von dem im weiteren Verlauf fast ausschließlich die Rede sein wird. Die Erzählerin deutet nur an, dass sie in London Ruhe vor den polizeilichen Nachstellungen sucht, die einem Mann gelten, „der aus meinem Leben verschwunden und mit falschen Papieren untergetaucht ist“.

Dem Milieu linker politischer Aktivisten, in dem sie sich in West-Berlin bewegt hat, entgeht die Erzählerin auch in London nicht. Die Atmosphäre in dem Haus in Holloway, in dem sie, wie auch immer, „landet“, ist von hektischer Aktivität geprägt. Leute gehen ein und aus, drucken Flugblätter und Plakate und planen Solidaritätskundgebungen für acht Anarchisten, die Sprengsätze vor der Botschaft des damals noch von Franco beherrschten Spanien und vor dem Haus des englischen Arbeitsministers gezündet haben sollen.

Wie bei früheren Büchern der Autorin, vor allem bei ihrem bisher größten Erfolg Das Verschwinden des Philipp S. (2013), ließe sich der autobiographische Gehalt dieser Ausgangssituation rekonstruieren. Die Verfasserin weist in einer Nachbemerkung darauf hin, dass sich alles, was im Buch erzählt wird, „auf diese oder jene Weise ereignet“ habe, jedoch mit der Wirklichkeit nicht gleichzusetzen sei. Die Fiktionalisierung von erlebter Realität dürfte sich vor allem auf jene Teile des Romans erstrecken, in denen die Erlebnisse und das Innenleben des Engländers geschildert werden. Ihn verliert die Erzählerin nach sporadischen Begegnungen und einer Phase des Zusammenlebens in Frankfurt am Main als Kleinfamilie – die Erzählerin hat aus einer früheren Beziehung einen Sohn – aus den Augen.

Die erzählte Zeit des Romans umfasst beinahe fünfzig Jahre, von 1972 bis 2019. In Binnenerzählungen ist der Zeitrahmen viel weiter gespannt: 1886 wanderte Levy, der Urgroßvater des Engländers, von Polen nach England aus; 1924 machte eine geschäftliche Katastrophe einen Zweig der Familie zu Ausgestoßenen; 1939, nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen, wurden die Juden auch im Herkunftsort der Familie ghettoisiert; 1943 schließlich rettete der Metropolit im bulgarischen Plovdiv die dortigen Juden vor der Deportation. Zu diesem Ereignis plant der Engländer, der nach unsteten Jahren mit wechselnden Tätigkeiten Karriere als Theaterregisseur macht, eine Performance, deren Realisierung behördlich untersagt wird.

Es ist erstaunlich, wie viel historische Wirklichkeit Ulrike Edschmid in ihrem Roman unterbringt. In knappen Sätzen wird die politisch aufgeheizte Situation der 1970er Jahre geschildert: Bombenanschläge der IRA und der Angry Brigade, Urteile über Mitglieder dieser Gruppe in einem der längsten Prozesse der britischen Justizgeschichte, Häuserkampf im Frankfurter Westend, „politische Fabrikarbeit“, der sich der Engländer anschließt, indem er zwei Jahre bei Degussa arbeitet, die „Nelkenrevolution“ in Portugal, Flugblattaktionen gegen Francos Diktatur in Spanien, schließlich der Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980. Hinzu kommen Schlaglichter auf Prozesse, die im Old Bailey, dem zentralen Strafgerichtshof Großbritanniens, geführt wurden: gegen Ruth Ellis, über die 1955 das letzte Todesurteil verhängt wurde, 1968 gegen die Kray-Zwillinge, berüchtigte Bandenchefs, die im Gefängnis von Brixton einsaßen, wo auch Bertrand Russel und Mick Jagger kurzzeitig interniert waren.

Als das wiedergefundene Testament des Urgroßvaters Levy Jahrzehnte nach seinem Tod verlesen werden soll, reist auch der Engländer zu der Familienfeier. Von vornherein fühlt er sich dort wegen des zur Schau getragenen Reichtums fehl am Platz. Er findet heraus, dass sein Großvater Jacob nach einem gemeinsam begangenen Versicherungsbetrug vom Vater durch Losverfahren ausgewählt worden war, die Schuld auf sich zu nehmen. Während der Vater und der jüngere Bruder mit milden Strafen davonkamen, starb Jacob infolge von „h.l.“ (bürokratische Abkürzung für „hard labour“, also Zwangsarbeit). Er und seine Nachkommen, der Ginger Joe genannte Sohn Joseph und dessen Sohn, der Engländer, wurden daraufhin aus der Familiengeschichte, die nach diesem Vorfall als Erfolgsgeschichte weiterging, getilgt.

Gewidmet hat Edschmid ihren Roman Ginger Joe, dem Vater des Engländers, der ein kümmerliches Dasein in der englischen Arbeiterklasse führte. Der Sohn versteht nun den einzigen Satz, den sein Vater jemals über seine Familie sagte: „They did not look after me.“ Er selbst fühlt sich als doppelt Ausgestoßener: als Mitglied dieses vergessenen Zweigs einer Oberklassenfamilie und als Jude in Deutschland, wo er später hauptsächlich lebt.

Künstlerisch versucht er sich seiner Existenz, die ihm als Leerstelle erscheint, zu nähern, unter anderem dadurch, dass er seiner internationalen Karriere als Regisseur entsagt und sich an der Schauspielschule von Bytom, nicht weit vom Ursprungsort seiner Familie, als Lehrer betätigt. Nach einer aktualisierenden Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum endet seine Tätigkeit auch dort, weil sein Vertrag nicht verlängert wird. Ist sein Argwohn berechtigt, dass die Nichtverlängerung ihm als Juden gilt?

So wie der Engländer aus Shakespeares Komödie das Tragische herausgearbeitet hat, so gewinnt Ulrike Edschmid der Tragödie des Engländers wenn nicht das Komische, so doch etwas Versöhnliches ab. Der Fußball, die Leidenschaft für die Spurs ist es, die ihn mit seinem Vater verbunden hat und die ihn am Ende mit einem Cousin verbindet. Als in Frankfurt die kleine Familie mit der Ich-Erzählerin und ihrem Sohn auseinanderbricht, heißt es: „Am Ende ist Tottenham sein letzter Halt.“ Bei einem Spiel im Frankfurter Waldstadion muss er mit ansehen, wie seine Mannschaft gegen die Frankfurter Eintracht verliert. In diesem Fall leidet er nicht allein, sondern das Leiden verbindet ihn mit den anderen Fans des Vereins.

Ulrike Edschmid ist bekannt für ihre dichte Sprache und ihren gedrängten Erzählstil. Auch ihr neues Buch zeichnet sich dadurch aus. Manche Passagen sind anschaulich wie Fotografien oder Film-Stills. Verben sind dabei oft überflüssig. Flüchtigen Augenblicken im unerbittlichen Ablauf der Lebenszeit wird so Dauer verliehen. Konstant sind die Einsamkeit und das Gefühl der Fremdheit, das in dieser weitgespannten, trotz des geringen Umfangs romanhaften Geschichte seinen Anfang nimmt mit Levys „Schritt über die Schwelle, aus der Tür hinaus“.

Titelbild

Ulrike Edschmid: Levys Testament.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429747

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