Vademecum für das kultivierte Zwerchfelltraining

Eugen Egners „Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!“ reflektiert äußerst unterhaltsam die Totalität des real existierenden Irrsinns

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Liste von Eugen Egners Veröffentlichungen ist lang: Zeichnungen, Comics, Hörspiele und Prosa hat er über viele Jahrzehnte veröffentlicht, dazu als Gitarrist in Bands mit so schönen Namen wie Armutszeugnis oder Gorilla Moon gewirkt und in den 1980ern sieben Jahre lang Bildergeschichten für Die Sendung mit der Maus gestaltet. Egner, 1951 geboren in Ingelfingen in Baden-Württemberg und aufgewachsen in Wuppertal, versuchte sich nach der Mittleren Reife in verschiedenen Professionen, die ihn allesamt offenbar nicht wirklich überzeugen konnten. Weder als Schaufensterdekorateur noch als Chemigraph oder als Werbekaufmann hielt er es lange aus und schmiss jeweils die Ausbildung. Als Grafiker und Comiczeichner hatte er dann in den 1970er Jahren erste Erfolge, und sein Bildband Als die Erlkönige sich Freiheiten herausnahmen (1986) gefiel seinem Idol Loriot so gut, dass er ihn beim Haffmanns Verlag unterbrachte. Seit 1989 beschickt er darüber hinaus die Satirezeitschrift Titanic mit seinen Cartoons.

Die Prosastücke Eugen Egners sind ganz eindeutig die Hervorbringungen eines durch und durch im besten Sinne subversiven Charakters. Das zeigte sich schon bei Romantiteln wie Der Universums-Stulp (1993) oder Androiden auf Milchbasis (1999). Mit seinem neuesten Geschichtenband Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie! belegt der inzwischen Siebzigjährige, dass Alter und Schalk keine Gegensätze sein müssen: die Wechselfälle des Lebens hinterlassen auch in seinem neuesten Werk ihren Abdruck, freilich surreal-drastisch das Phantastische anverwandelnd.

Die 65 kurzen Grotesken in diesem Band handeln meist von Ich-Erzählern, die unversehens in unvorhersehbare und unwahrscheinliche Situationen geraten, die nie den Gesetzen der Realität, wie wir sie vermeinen zu kennen, entsprechen. Die Protagonisten begegnen dem nicht selten wenig überrascht, mit geradezu stoischem Gleichmut, beispielsweise die namenlose Hauptfigur aus Wiedersehen im Wald:

Ein Fremdkörper im Mund bewirkte, daß ich mich zu Fuß in einer Straße wiederfand, die ich seit meiner Jugend nicht mehr aufgesucht hatte.

Ein zugegebenermaßen merkwürdiger Kausalzusammenhang, der durch den Fortgang der Geschichte nichts an Rätselhaftigkeit einbüßt, denn der besagte Fremdkörper findet keine weitere Erwähnung mehr. Das Ich vermisst das ehemalige Umspannwerk, sucht es in einem Wäldchen, in welchem sich seit langer Zeit „aus Gründen der Angst“ ein Reisebusunternehmer mit seiner Frau versteckt hält:

Das Reisen schien in den Jahrzehnten des Versteckens von ihnen abgefallen zu sein. Der Inhaber des Unternehmens graste versonnen auf einer Schneise.

Seine Frau lädt den Erzähler, den Egner das Ganze im Ton eines lapidaren Berichtes vom letzten Sonntagsspaziergang wiedergeben lässt, schließlich zum allwöchentlichen Insektenrennen ein, das Ich setzt seinen gesamten Wochenlohn auf die Motten. Der letzte Satz lautet dann:

Die Spannung stieg, schon wärmten die konkurrierenden Wespen ihre Fahrräder an.

Egner schleudert seine Leserschaft von einem skurrilen Detail zum nächsten, und am Ende steht ein wie willkürlich gesetzter Abbruch der Handlung.

Überfressen sollte man sich freilich nicht an diesen Geschichten. Zwei oder drei hintereinander entfalten diesen spröden Reiz aberwitzigen Verwundert-, ja Verwundet-Seins am Leben und der eigenen Wahrnehmung. Wie bei allem an zu viel genossenem Guten aber stumpft auch der Geist rasch ab, lässt man sich dazu hinreißen, das Buch womöglich komplett am Stück zu lesen – wozu durchaus die Tatsache verführt, dass kaum eine der Grotesken länger ist als ein oder zwei Seiten und Egners durchgedrehte Phantasie durchaus imstande ist, einen gewissen lesesüchtig machenden Rausch zu entwickeln. Sie sollten dem widerstehen und das Buch lieber aufs stille Örtchen oder den Nachttisch für die Kurzlektüre legen. Ihre Verdauung und Ihre nächtliche Traumwelt werden es Ihnen danken.

Die meisten der Texte sind in den letzten vier Jahren entstanden, viele davon wurden zuerst auf der satirischen Seite „Die Wahrheit“ in der taz veröffentlicht. Somit zeigt sich auch schon, dass die Rezeption eigentlich auf den jeweiligen Einzeltext abzielt und nicht auf die geballte Ladung Irrwitz, der hier auf den rund hundertachtzig Seiten versammelt ist.

Am besten zeigt sich Egners Talent für das Unheimlich-Abseitige freilich in den Erzählungen, die über das Grelle der Groteske hinausgehen, was auf Dauer auch ein wenig beliebig wirkt – der Wahrnehmung von permanent Unvorhersehbarem wohnt paradoxerweise wiederum ein Moment der Vorhersehbarkeit inne. Diese meist um einige Seiten längeren Texte zeigen, wie gut Egner auch Spannungsmomente zu solider Phantastik auszubauen in der Lage ist, wie etwa in Der Schatten auf dem Flur, eine Geschichte, in welcher reale Einsamkeit und Isolation eine enge Verbindung mit übersinnlichen Wahrnehmungen eingehen und der Grenzbereich mit einfacher, unverstellter Sprache dargestellt wird, die sich deutlich von den sonst vorherrschenden (freilich gewollten) Überspanntheiten und sarkastischen Untertönen unterscheidet.

Eugen Egners neuer Prosaband vereint diese beiden literarischen Sprechweisen dennoch mühelos zu einem ungemein ideenreichen und handwerklich ausgefeilten Ganzen. Er hat mit Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie! geradezu ein universelles Vademecum für das kultivierte Zwerchfelltraining in absurden Zeiten wie unseren abgeliefert. Wenn wir damit durch sind, ist uns unmissverständlich klar: die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Alles andere haben wir uns bestimmt nur eingebildet.

Titelbild

Eugen Egner: Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!
Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
180 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324962

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