Der Dissens zwischen Macht und Gesellschaft

Sieben Autoren widmen sich sechs osteuropäischen Ländern, um Positionen und Strategien in der unabhängigen Systemkritik der Zeit vor 1989 darzustellen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1976 in einem kleinen linken Verlag in Westberlin das unscheinbare Bändchen „Solschenizyn und die sowjetische Linke“ erschien, nahm kaum jemand Notiz von der kritischen Polemik des russischen Historikers und Dissidenten Roy Medwedjew. Seine Feststellung, daß der inoffizielle Diskurs innerhalb der Sowjetunion längst auch von gegensätzlichen Standpunkten gekennzeichnet ist, obwohl die Bedingungen ihrer Austragung für alle Beteiligten gefährlich und nicht ohne Risiko war, interessierte im Westen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, weder die politische Linke noch die Konservativen. Ein symptomatischer Fehler, der sich letztlich bis in die heutige Zeit hinein nachweisen läßt. Auf diese Weise läßt sich erklären, wie eine tückische Verkettung politischer Fehleinschätzungen, Mißverständnisse und Vorurteile das Verhältnis zu Mittel- und Osteuropa nachhaltig trüben können.

Der vorliegende Band ist in hervorragender Weise geeignet, fundierte Einblicke in eigenständige Denkwelten Mittel- und Osteuropas zu gewähren. Mit dieser Aufhellung oppositioneller kultureller und politischer Strömungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird ein längst überfälliges Verständnis nicht nur politischer sondern auch mentaler Einstellungen ermöglicht.

Diverse Strömungen der illegalen Opposition in der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Rumäniens versuchten als marginalisierte Minderheit, einem gleichgeschalteten Diktat wie auch einem vergifteten Diskurs jenseits kritischer Auseinandersetzung gegenzusteuern.

In den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ hatte ein Austausch unabhängiger Meinungen nicht zuletzt auch die Aufgabe, das historische Gedächtnis zu bewahren. Ohne offene Diskussion waren weder politische Alternativen noch unabhängige Betrachtungen bezüglich der eigenen historischen Entwicklung möglich. Die sich in Folge etablierenden Ansätze zu irrationalen Selbstbildern und Verschwörungstheorien hatten ein Eigenleben angenommen und fanden ungeprüft Eingang in kollektive Selbstbilder.  

Für den Machtbereich der Sowjetunion unternimmt Aleksandr Daniėľ in seinem Beitrag „Positionen und Richtungen im politischen Samizdat der UdSSR“ den Versuch, vor allem die im Untergrund erschienenen Publikationen auszuwerten. Da in den offiziellen Medien kaum Verbreitungsmöglichkeiten bestanden, zirkulierten sowohl im politischen aber auch im künstlerischen Sinne unabhängige Meinungsäußerungen als „Samizdat“, also in hektographierten oder abgetippten Selbstausgaben. Nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch galt allerdings die Verbreitung von Literatur ohne die entsprechende Druckgenehmigung als antisowjetische Agitation und Propaganda und wurde mit Lagerhaft, Verbannung oder Gefängnis geahndet. In ähnlicher Weise traf die strafrechtliche Bedrohung auf die eigenhändige Verbreitung von Texten auch auf die anderen Länder des „real existierenden Sozialismus“ zu, wenngleich die Anwendung repressiver Maßnahmen in abweichender Weise zur Geltung kam.

Während Andrzej Krajewski „Diskurse im polnischen Dissens und der Opposition“ für die damalige Volksrepublik Polen vorstellt, befassen sich gleich zwei Beiträge mit der Lage in Ungarn:

Máté Szabó „Systemkritik im ungarischen Dissens: Politische Diskurse der Opposition“ und András Bozóki „Die demokratische Opposition in Ungarn: Selbstbild, Identität und politischer Diskurs“. Über das deutlich repressivere Umfeld in Rumänien unter der Herrschaft von Nicolae Ceauşescu berichten Cristina und Dragoş Petrescu in ihrer Analyse „Dissidenten im kommunistischen Rumänien: Kritik, Handlungsstrategien und selbstgestellte Aufgaben (1977-1989)“.

Die DDR und die Tschechoslowakei werden in Jan Pauers Analyse „Diskurse über Politik, Gesellschaft und Geschichte im tschechischen, slowakischen und ostdeutschen Dissens der 1970 und 1980er Jahre“ einer über die Landesgrenze hinweg vergleichenden Betrachtung unterzogen, die sich neben dem oppositionellen Dissens einer zusätzlichen Skizzierung kulturhistorischer Debatten widmet. Da die im Untergrund stattfindenden Diskussionen über politische wie geschichtliche Fragen von einem weltanschaulichen Pluralismus geprägt waren,

fällt die materialreiche Analyse von Jan Pauer entsprechend umfangreich aus. Aufschlußreich ist hier die Diskussion über die Zukunft der realsozialistischen Herrschaftsform nicht zuletzt in Hinblick auf eine mögliche Reformierbarkeit der „Systeme sowjetischen Typs“(Zdeněk Mlynář). Zusammenfassend hält Jan Pauer fest:

Fand in der DDR Systemkritik vermittels einer abstrakten theoretischen Analyse statt, richtete man im tschechischen und slowakischen Dissens den Blick stärker auf den konkreten Menschen und sein Verhältnis unter den Bedingungen des späten Realsozialismus. Dabei wich die Frage, warum das System ungerecht ist und nicht funktioniert, der Frage, warum sich ein solches System trotz mehrheitlicher Ablehnung aufrechterhalten kann.

Je nach landesspezifischer Tradition und konkreter historischer Prägung orientierte sich im Dissens die thematische Bandbreite an philosophischen, politischen oder auch religiösen Kategorien. Aktuelle Stichworte wie „Europa“, „Nationalismus“, „Totalitarismus“ oder „Zivilgesellschaft“ waren in den damaligen Diskussionen bereits zum Ausdruck gekommen.

Mit dem vorliegenden dritten Band wird die auf vier Bände angelegte Reihe, die von Wolfgang Eichwede unter dem Titel „Das Andere Osteuropa“ herausgegeben wird, komplettiert. Aus Forschungseinrichtungen in acht Ländern haben es sich zwanzig Wissenschaftler zur Aufgabe gemacht, die letzten dreißig Jahre der Länder des „real existierenden Sozialismus“ unter der Maßgabe des Verhältnisses von offizieller Staatsmacht zu widerständigen Lebensentwürfe zu analysieren. Zutreffend betonen die Herausgeber in ihrer Einleitung: „Liefen in der Vergangenheit Ansätze der Politik-, Geschichts- und Kulturwissenschaften oftmals nebeneinander her, kommt die Dissensforschung ohne ihre Zusammenführung überhaupt nicht aus“. Eine länderübergreifende Perspektive sorgt darüber hinaus für einen vergleichenden Überblick, um Gemeinsamkeiten aber auch spezifische Unterschiede herauszuarbeiten.

Titelbild

Wolfgang Eichwede / Jan Pauer (Hg.): Ringen um Autonomie. Dissidentendiskurse in Mittel- und Osteuropa.
LIT Verlag, Münster 2017.
632 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783643112187

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