Ein Lebenszeichen, eine Provokation

Saou Ichikawa probt mit „Hunchback“ neue Ansätze für das Thema Behinderung in der japanischen Literatur

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Hanchibakku (dt. Hunchback, 2025) erhielt Saou Ichikawa (*1979) den 165. Akutagawa-Preis – als erste Autorin mit Behinderung, wie die inländische und ausländische Presse festhält. Die Wahl der Jury entspricht in diesem Fall zunächst dem seit der im Jahr 2003 erfolgten Auszeichnung von Hitomi Kaneharas (*1983) Hebi ni piasu (dt. Tokyo Love) anhaltenden Trend, spektakuläre Werke möglichst aus der Feder einer ungewöhnlichen Person zu prämieren. Zum einen erhofft man sich dadurch wohl, neue Leserkreise zu erreichen, zum anderen liegt es im Interesse der Verlage, mit Bestsellern erfolgreich zu sein – Hunchback verkaufte sich kurz nach dem Erscheinen in über 200.000 Exemplaren.

Ein gewisses Schock- und Skandalpotenzial kann man Ichikawa sicher nicht absprechen. Der autobiographisch unterlegte Text greift auf Pornoszenen zurück und präsentiert sonderbare Tötungsphantasien bezüglich eines allein zum Zwecke der Abtreibung gezeugten Fötus. Kaneharas Hebi ni piasu hatte mit seiner Schilderung eines in der urbanen Subkultur beheimateten jungen urban tribe, der seine aus der Enge der japanischen Gesellschaft resultierenden Frustrationen durch Bodymodifikation, sadomasochistische Spiele und mordlüsterne Grenzüberschreitungen hinter sich lassen will, den Zeitgeist der frühen 2000er getroffen. Hunchback (2023) artikuliert in Gestalt der Protagonistin Shaka Izawa einen Freiheitsdrang anderer Art. Es ist der nicht ohne Ironie vorgetragene Wunsch, „Mensch zu werden“, indem sie versucht, ihrem durch eine angeborene neuromuskuläre Störung stark eingeschränkten Körper Grunderfahrungen der Fleischlichkeit (Sexualität, Empfängnis, Abtreibung) abzutrotzen. Ichikawas Schreibstil weist dabei eine klischeehafte Bewertung der prekären Situation Shakas als mitleiderregend zurück, auch fordert er keine vordergründige Bewunderung für die stoisch viele Widrigkeiten überwindende Heldin ein.

Saou Ichikawas Positionierung zwischen Ästhetik und Agenda

Der Text behandelt das Thema Behinderung aus der Perspektive einer Betroffenen (jap. tōjisha). Mit ihr ist die Agenda verbunden, die oft stereotype Literarisierung der Lebensumstände der tōjisha durch Verfasser, die die spezifische Erfahrung nicht teilen, in Frage zu stellen, um die gängigen Muster abzulösen und eine authentischere Sichtweise zu etablieren. Zu diesem Zweck liefert die Autorin direkte Einblicke in die Alltagsrealität der Ich-Erzählerin Shaka, die auf Atemgerät und Rollstuhl angewiesen ist:

Ich stoße den Absaugkatheter in den Schleim, den die in den knapp zwanzig Minuten durch den Schlauch ein- und ausströmende Luft aufgeschäumt hat, sauge ihn schmatzend ab und stecke den Adapter des Beatmungsschlauchs auf die Atemkanüle […].

Später kommentiert sie etwas ausführlicher:

Mein mit einem Elektroantrieb von Yamaha ausgerüsteter Rollstuhl ist mit einem OB-Mini versehen, einem tragbaren Sekretsauger. Auf einen Sekretsauger kann ich, selbst wenn ich nicht künstlich beatmet werde, keine Sekunde verzichten. Solange mir das Plastikding namens „Trachealkanüle“ im Halse steckt, kämpfen die Schleimhäute dagegen an, und Abhusten ist mir mit meiner fehlkonstruierten Atemmuskulatur nicht möglich.

Auf einer zweiten Ebene kommt das akademisch erworbene Wissen von Shaka Izawa/Saou Ichikawa zum Tragen. Shaka hat per Online-Studium an der renommierten Waseda-Universität Seminare über die Kulturgeschichte des Umgangs mit Behinderung belegt. Sie rezipiert Sekundärliteratur wie die Histoire du corps des Historikers Alain Corbin und hört per Aufzeichnung – in diesem Punkt deutlich besser als die anderen Studenten informiert – die Vorlesung „Assistive Technologien“. Zur Geschichte der Behinderung in Japan zählt auch der von Shaka erwähnte Anschlag mit rotem Spray auf die Mona Lisa, den Tomoko Yonezu (*1948) anlässlich einer Ausstellung 1974 in Tokyo verübte, um den fehlenden Zugang für Behinderte anzuprangern. Offensichtlich studiert die Protagonistin das in Japan um das Jahr 2003 (basierend auf dem Aktivismus der Gruppe Aoki Shiba no Kai in den 1970ern und einschlägigen Studien in den 1990er Jahren) eingeführte Fach Disability Studies. Unter seinen Initiatoren waren Shinya Tateiwa (1960–2023), der ehemalige Direktor des Instituts für Ars Vivendi an der Ritsumeikan-Universität, sowie Jun Ishikawa und Osamu Nagase. Shaka versteht sich kaum als glühende Aktivistin, obwohl sie sich in dem von ihr genannten Forum Disability & Queer Studies zu Missständen in Bezug auf Barrierefreiheit und Ableismus (Fachbegriff der Disability Studies für Ungleichbehandlung/Diskriminierung) äußert.

Ein dritter Bestandteil des Hunchback umfasst die Literarizität des Dargestellten, das sich nicht auf das Label Disability-Schrifttum in Romanform reduzieren lässt. Der Text durchbricht den an der Oberfläche simulierten autobiographischen Rahmen zum einen mit der Aufspaltung der sprechenden Persona in verschiedene (digitale) Identitäten (S-chan, Shaka, Syaka, Xhaka), zum anderen mit den nicht zuletzt als Provokation zu denkenden sexuellen Ambitionen der Hauptfigur. Auf ihrem wenig frequentierten Twitter-Account bekennt diese, im nächsten Leben „Edelnutte“ sein zu wollen. Für ein Onlinemedium verfasst sie Artikel zur Swingerclub-Szene und unternimmt mit dem augenscheinlich durch die Beiträge von Xhaka ausreichend angeregten Pfleger Tanaka ein riskantes Sexualexperiment; der kleinwüchsige Betreuer findet im Übrigen seine Entsprechung im beiläufig zitierten Zwergenkönig Alberich. Literarische Qualität ergibt sich insgesamt aus der ironisch-selbstreflexiven Erzählweise, die mit metafiktionaler Verve einsetzt und zum Auftakt einen Internet-Fake-Text präsentiert.

Aufmerksamkeitsstrategie und Pornographie

Am Ende der in mehreren Sequenzen dargebotenen Geschichte wird von einer Sprechstimme eingeworfen, dass die auftretenden Personen möglicherweise gar nicht existent seien, sondern von ihrer Hauptinstanz (Saou Ichikawa) erschaffen worden wären, „um sich in der Gesellschaft sichtbar zu machen“. Das Kind, „das Shaka töten wollte“, heißt es, werde wohl „ich“ empfangen: Hier tritt indirekt die Autorin auf, die mitteilt, dass sie es ist, die ihr literarisches Kind („irgendwann/jetzt sofort“) zur Welt bringt, womit sie an den Anfang des Werks anknüpft, in dem ihr Alter Ego einen Text fertigstellt.

Dass es der „Buckligen“ gelingt, mit einem scheinbar echte autobiographische Details enthüllenden, übervoll mit pornographischem Material angereicherten Bericht den begehrten Akutagawa-Preis zu erhalten, verrät eben den Willen zur Innovation der Behindertenerzählung. Zugleich startet man eine kleine Attacke auf den Preis, da sich das Auswahlkomitee darauf eingelassen hat, eine solche zum Voyeurismus verleitende Literatur anzuerkennen, und das in zweifacher Hinsicht: Als erotische Darreichung und als vorgeblich wahren Einblick in intime Sphären einer schwer behinderten Frau. Während also das Komitee und die Leser insgeheim der Sensationslust frönen mögen, gewinnt die planvoll taktierende Autorin symbolisches Kapital durch die Beachtung, die ihr zuteilwird – letztlich die höchste Währung in Zeiten der sozialen Isolation; „Corona“ spielt am Rande eine Rolle, u.a. freut sich Shaka, dass die obligatorische Maske hilft, eine eventuell verräterische Mimik zu verbergen.

Ichikawa pflegt keine Rhetorik der political correctness, sondern wirft ihr Produkt mit seinem Kalkül und seinen Fake-Fassaden, die sich durchaus zu erkennen geben, in den Ring. Nicht einmal die Swingerclub-Schilderungen dürfen als um ihrer selbst Willen verfasste Arbeiten gelten; sie dienen als SEO-Beiträge, wie ein Kommentar im Text informiert, in erster Linie dem Zweck, Besucher auf die Webseite zu locken und den Traffic zu erhöhen. Die Schlussfolgerung liegt nahe, Shakas Einlassungen zu ihrer kurzen Interaktion mit Tanaka wären ebenfalls im Rahmen einer Lockvogelstrategie erdacht worden. Zumindest seien sie aber vorrangig im Reich der Phantasie anzusiedeln.

Frau, schwarze Karte, Penis

Indem Ichikawa das Sexuelle in den Vordergrund stellt, artikuliert sie den Wunsch der Protagonistin, die digitale Welt und die der Medizintechnologie zu verlassen, um sich endlich das Biologische zu erschließen. Shaka bietet dem Pfleger eine hohe Summe Geld, wenn er sie schwängern würde. Anlässlich dieser Wende offenbart sich mit großer Deutlichkeit die ungewöhnliche Position, die die Erzählerin innehat. Sie ist die Tochter sehr reicher Eltern, denen per „schwarzer Karte“ die ganze Welt verfügbar war. Das Pflegeheim für Schwerbehinderte, in dem sie lebt, befindet sich in ihrem Besitz.

Mit Tanaka kommt es dann nur zum Oralverkehr. Sein Samenerguss tief in ihrem Rachen verursacht zunächst einen Erstickungsanfall, später eine Entzündung. Shaka muss mit Aspirationspneumonie ins Krankenhaus. Nach ihrer Rückkehr hat Tanaka die Einrichtung verlassen und auf das Geld (umgerechnet immerhin 950.000 Euro) verzichtet. Die Auseinandersetzung mit dem Pfleger hängt mit Shakas Schuldbewusstsein aufgrund ihrer privilegierten Stellung als vermögende Erbin zusammen, wobei sie sein Ressentiment nachvollziehen kann. Die Tanaka-Szene bietet einen Einblick in die schwierige Lage der behinderten Frau – in ihrer körperlichen Schwäche und Isolation sowie in ihrem ambivalenten Status als fragile Existenz und finanzmächtige Sponsorin des Heims:

Kaum habe ich meine Zunge bestmöglich gespitzt, um jeden Millimeter Naht zu erforschen, packt Herr Tanaka meinen Kopf und stößt mir sein Teil ganz in den Mund. Da er mich wahrscheinlich ohnehin nur wie Müll ansieht, traue ich mich nicht, den Blick zu heben.

Die Vermessung des Machtgefälles zwischen den beiden Charakteren gibt – ebenso wie die fiktiven pornographischen Konstellationen der Internetprosa – Auskunft über Misogynie und sexistische Mikroaggressionen als gesellschaftliche Tendenzen in Japan. Der Vorteil liegt immer auf der Seite des Männlichen. Der Phallus, sei er auch noch so mangelhaft, muss nachgerade in Gold aufgewogen werden. Durch intellektuelle Distanz zum Geschehen gelingt es Shaka, sich nicht nur von Tanakas Verachtung weitgehend zu befreien, sondern sogar in ihrer misslichen Lage seinen defizitären Charakter (Penisvergrößerung eines Kleinwüchsigen) analytisch zu verorten. Sie stellt anhand der mit der Zunge erspürten Narbe am Penis fest, dass er sich offenbar einer operativen Vergrößerung des Glieds unterzogen hat:

Ich stoße dabei auf eine zarte Erhebung, die auf einen mindestens fünf Jahre zurückliegenden Eingriff deutet, für den man heute noch zwischen zweihundert- und dreihunderttausend Yen berappen muss. Als Kassenleistung ist der beliebte Eingriff im Ergebnis nicht so schön, vermutlich aber um einiges günstiger. Für so etwas gibt der also Geld aus.

Ichikawa portraitiert eine Heldin, die sich ermächtigt, Sexualität zu kaufen, entblößt jedoch dabei deren tief verankerte Minderwertigkeitsgefühle. Warum muss sie die lieblose Behandlung erdulden, um körperliche Nähe jenseits der Pflegesituation zu erfahren? An diesem Punkt ergeben sich leichte Zweifel an der Repräsentation von Shakas Gedankenwelt. In der New York Times möchte man Hunchback als einen „angry cry against ,ableist machismo‘“ interpretieren. Der Text erweist sich komplexer als eine solche Einschätzung. Fraglich bleibt, inwieweit die Protagonistin scheinbar problemlos die Muster der Pornos und die darin enthaltenen männlichen Standards, d.h. der Erniedrigungslust des Mannes gegenüber einer Frau, annimmt. Wurden eigene erotische Visionen bereits vollends kontaminiert und möchte die Autorin eine von patriarchalisch dominierten Strukturen ausgelöste „Deformation“ ihrer Hauptfigur aufzeigen? Wahrscheinlich. Das einzig mehr oder weniger positive Bild von Partnerschaft erschafft sie mit dem Mietgalan („Host“) Tan aus dem Universum von S-chan, bezeichnenderweise erneut ein käuflicher Freund, was den seit 2018 virulenten Trend zu Liebesdiensten für Frauen (joseiyō fūzoku) spiegelt. In S-chans Welt wurde im Übrigen die Frau „mit dem etwas seltsamen Namen“ und der etwas seltsamen Krankheit, d.h. S-Chans Schöpferin, umgebracht.

Manchmal entsteht der Eindruck, die Protagonistin arbeite primär an der Festigung einer geistigen Haltung, um dem Unabänderlichen in Gefasstheit und mit „menschlicher Würde“ (dem „wahren Nirwana“) zu begegnen. Sie denkt über den Sinn ihres Lebens nach und bedauert die durch die Erbkrankheit verlorenen Chancen. Irritationen treten vor allem bei den Gedanken an die gestorbenen Eltern auf, die ihr den Reichtum, aber auch die Tatsache, „nie einen sozial lebendigen Körper zu haben“, hinterließen. Trotz Shakas geistiger Überlegenheit und ihren meist abgeklärten Schilderungen bleibt ein authentischer Nachklang von Traurigkeit, den ironische Kommentare und Selbstverspottung nicht relativieren. Das Kind, das den Tod finden soll, deutet vielleicht auf sie selbst hin. Shaka alias „Buddha“ ist sich klar darüber, dass der Körper sie jederzeit im Stich lassen kann. Ihre sterblichen Überreste hat sie vorsorglich der „KS-Universität“ vermacht.

„Literatur der Behinderung“

Charaktere mit Behinderung sind in der japanischen Gegenwartsliteratur einige zu entdecken. Darunter sind die Werke des 39. Akutagawa-Preisträgers (1958) Kenzaburō Ōe mit dem Alter Ego seines Sohns Hikari Ōe, Fumiko Enchis Roman Onnamen (1958; Die Dichterin und die Masken), in dem die geistig behinderte Harume auftritt, Shûji Terayamas Aomori-ken no semushi otoko (1967; Der Bucklige aus Aomori) oder Hisashi Inoues Theaterstück Yabuhara kengyō (1973; Meister Yabuhara), das die historische Blindengilde Japans und einen ihrer ebenso erotomanen wie mörderischen Vertreter behandelt.

Saou Ichikawas Strategie, als eine von körperlichen Einschränkungen betroffene Schriftstellerin in die Reihe der Akutagawa-Preisträger aufgenommen zu werden, trug Früchte im Jahr 2023. Die landeseigene literarische Repräsentation von Behinderung hat damit sicher ein Mehr an Authentizität gewonnen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Saou Ichikawa: Hunchback. Roman.
Aus dem Japanischen von Katja Busson.
Harper Collins, Hamburg 2025.
80 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783753001050

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