Ein Mann und ein Kind
Zu Fontanes Briefen – Eine Rezension aus dem Jahr 1972
Von Marcel Reich-Ranicki
Was der alte Fontane für ein Mensch war, das wissen wir doch. Ein jovialer und schalkhafter Gentleman. Ein geistreicher und augenzwinkernder Zeitkritiker. Ein souveräner und amüsanter Causeur. Ein skeptischer Bürger mit Grandezza und Temperament. Ein nüchterner und trotzdem urgemütlicher Berliner. Ein Preuße und dennoch charmant. Ein weiser Patrizier, etwas burschikos und sehr tolerant.
Dieses Bild vom liebenswürdigen alten Herrn hat in der Vorstellung der deutschen Leser mittlerweile so feste Umrisse gewonnen, dass es sich einem Klischee zumindest nähert. Ganz falsch muss es deshalb noch nicht sein. Nur sollten wir nicht vergessen, wer es uns allen aufgenötigt hat: kein anderer als Fontane selber.
Welche seiner Figuren hinterlassen eigentlich den dauerhaftesten Eindruck? Neben Effi und Melusine, Lene und Corinna, neben diesen jungen Damen, die glücklicherweise stets etwas intelligenter und beredter sind, als junge Damen im Leben zu sein pflegen, doch wohl vor allem jene bejahrten, aber gar nicht greisenhaft wirkenden Gutsbesitzer und Geistlichen, Professoren, Militärs und Kommerzienräte, die er immer wieder mit höchst sympathischen Eigenschaften ausgestattet hat, ohne sich viel darum zu kümmern, ob sie für die Vertreter dieser Berufe und Stände denn auch unbedingt charakteristisch waren.
Zu den in der Regel überaus menschenfreundlichen und mitunter kräftig idealisierten Porträts seiner Generationsgenossen hat den alten Fontane, glaube ich, nichts anderes gedrängt als der Trieb zur Selbstdarstellung. Es ist nicht ohne Reiz, zu beobachten, wie er ihn einerseits unter Kontrolle zu halten wusste – Eigenlob war ihm nicht fremd, aber peinlich, den Exhibitionismus hat er verabscheut – und wie er ihm andererseits scheinbar spielerisch nachgab, doch dann, um eine allzu große Ähnlichkeit zu verhindern, die Linien rasch wieder verwischte.
Immerhin hat er diesem Trieb niemals freien Lauf gelassen, nicht einmal im „Stechlin“. Dass Dubslav von Stechlin, der an „unanfechtbare Wahrheiten“ nicht glaubte, hingegen an Paradoxen seinen Spaß hatte, der gern eine freie Meinung hörte („je drastischer und extremer, desto besser“) und der „hinter alles ein Fragezeichen machte“, weniger ein ostelbischer Junker ist als vielmehr eine Mischung aus Fontanes Autoporträt und ldealbild, das kann als sicher gelten.
Aber es kommt mir etwas leichtsinnig vor, die Worte, die Pastor Lorenzen (fast ein märkischer Bruder des weisen Nathan) am Grab des alten Stechlin spricht, auf Fontane selber zu beziehen, zumal die seit einem halben Jahrhundert in diesem Sinn zitierten Sätze: „Er war recht eigentlich frei. Wußt es auch, wenn er’s auch oft bestritt.“ Auf den Stechlin mag dies schon zutreffen. Doch war, vermute ich, des Autors innere Freiheit häufiger und in einem höheren Maße gefährdet als die seines Protagonisten.
Was unterscheidet denn die beiden? Zunächst einmal: Sie üben verschiedene Berufe aus. Gewiss hat Fontane seinen Stechlin mit einem Formuliertalent ausgestattet, das auf beachtliche literarische Fähigkeiten des Gutsbesitzers verweist. Aber er konnte ihm die Erfahrungen und Leiden eines professionellen Schriftstellers ersparen und ihm jenes besinnliche Leben in idyllischer Umgebung gönnen, das ihm selber versagt geblieben ist. So fehlt in diesem zärtlich und liebevoll entworfenen Autoporträt eine ganze Dimension der Fontane’schen Existenz.
Natürlich spricht das nicht im Geringsten gegen den Epiker und seinen „Stechlin“. Nur dass auf Fontanes im Bewusstsein des deutschen Publikums längst verfestigtes „Image“ keiner seiner älteren Herrn einen so entscheidenden Einfluss ausgeübt hat wie eben sein letzter Held: Dieses „Image“ weicht von einem Abziehbild des Dubslav von Stechlin nur wenig ab. Indem wir zulassen, dass die beiden in unserer Vorstellung allmählich zu einer einzigen Gestalt zusammenschmelzen, sehen wir Fontane genau so, wie er gesehen werden wollte: mild getönt und leise verklärt und auf jeden Fall sehr einseitig. Aber die andere Seite muss nicht im Dunkel bleiben. Sie ist zu finden in privaten Dokumenten, die gleichwohl von höchstem öffentlichen Interesse sind: in seinen Briefen also.
Der Brief sei – meinte Goethe – „eine Art von Selbstgespräch“. Das mag richtig sein, für die Korrespondenz Fontanes gilt dies jedoch kaum. Denn nicht das Monologische war seine Sache, sondern immer das Dialogische. Er war auf das tägliche Gespräch angewiesen, doch fehlten in seiner Nähe die Menschen, die seine Gesprächspartner sein könnten. Er gehörte zum Typ des Kaffeehausliteraten. Indes gab es in Berlin damals nicht genug Kaffeehäuser und in den Kaffeehäusern nicht genug Intellektuelle, mit denen sich reden ließ. Und es fehlte das Telefon, heute der Rettungsring des zur Arbeit in der Einsamkeit verurteilten freien Schriftstellers. Also musste Fontane korrespondieren.
Aber er schrieb niemals so vor sich hin. Er wandte sich immer an einen bestimmten Adressaten, und er verlor ihn nie aus dem Blick. Bruchstücke einer großen Konfession? Nein, das beliebte Goethe-Wort ist hier nicht am Platz. Fontanes Briefe sind vielmehr Bruchstücke einer großen Konversation.
Vermutlich ist eines der Geheimnisse seines Erfolges die unbeirrbare und auf dem Hintergrund der deutschen Literatur eher ungewöhnliche Liebe zum Konkreten. Von ihr zeugen nicht nur seine großen Romane, sondern auch noch die schwächsten seiner patriotischen Balladen und sogar die belanglosesten seiner Rezensionen – und erst recht die Briefe. Man findet in ihnen immer wieder Erwägungen jeglicher Art. Und doch bildet die eigentliche Substanz eben nicht die Reflexion, sondern die Information, der direkte Bericht. Während viele andere Meister der Epistolographie korrespondierend vor allem Klarheit über sich selbst suchten, folgte er einem, wenn man so will, primitiveren Impuls: dem schlichten Mitteilungsbedürfnis. Seine Briefe sind Rapporte aus dem Alltag eines Schriftstellers.
Hatte Thomas Mann recht, als er ihn – in dem berühmten Essay von 1910 – einen „unsicheren Kantonisten“ nannte? Fontane war doch ein außerordentlich solider Autor, fleißig und zuverlässig als Romancier und Theaterkritiker, als Chronist, Biograph und Reiseschriftsteller. In der Korrespondenz suchte er den dringend benötigten Ausgleich: Andere spielten Domino, züchteten Rosen, hörten Musik oder verführten Mädchen. Er aber schrieb Briefe, Hunderte, Tausende. Hier gab er Stimmungen und Launen nach, redete unbekümmert auf den Adressaten ein, behauptete heute dies und morgen jenes, ließ sich zu raschen, bewusst überspitzten und bisweilen kaum diskutablen Äußerungen hinreißen, hier experimentierte er spielerisch mit Gedanken, Motiven und Formulierungen. Das Korrespondieren war sein Hobby und seine Passion. In den Briefen, nur in den Briefen erlaubte er sich, ein „unsicherer Kantonist“ zu sein.
Natürlich war die Selbstkontrolle auch des Stilisten Fontane in dieser gigantischen Korrespondenz ungleich milder als in seinen für die Veröffentlichung bestimmten Texten. Auf Grund der erhaltenen Konzepte kann man nachweisen, dass er manche seiner Briefe sorgfältig redigiert hat. Die weitaus meisten hingegen sind zweifellos flüchtig und mitunter sogar etwas schlampig geschrieben. Man sollte nicht verheimlichen, dass dieser Epistolograph sich sehr oft gehen ließ.
Nur dass gerade die vermeintlichen Untugenden ihn umso sympathischer und umso attraktiver machen: Von diesen Dokumenten geht etwas Verführerisches aus. Sie haben den Charme salopper und gleichwohl makelloser Eleganz. Sie demonstrieren die Synthese aus subtiler Anmut und deftiger Natürlichkeit. Sie erweisen sich als vollkommene Prosa ohne eine Spur von Perfektion. Und da es ungezwungene und spontane Äußerungen sind, lassen sie auch erkennen, dass es vor allem das Temperament ist, das Fontane von den in seinen Romanen auftretenden älteren Herrn deutlich unterscheidet. So jovial und besonnen, so überlegen und distanziert, so weise und souverän, wie wir ihn unter dem Eindruck seiner zahlreichen Selbstpräsentationen zu sehen gewohnt sind, war er keineswegs.
Die Korrespondenz zeigt eben nicht einen gelassenen oder abgeklärten, vielmehr einen unruhigen und auffahrenden, impulsiven und leidenschaftlichen Mann, einen nervösen und reizbaren Künstler, einen aggressiven, oft ungerechten und gelegentlich bösartigen Zeitgenossen. „Heiteres Darüberstehen“ – so heißt doch eine der traditionellen Kennmarken Fontanes. Damit indes war es nicht weit her: Gewünscht und angestrebt hat er es bestimmt, realisiert nur selten. Der alte Stechlin konnte heiter darüberstehen, aber nicht einer, der von allerlei Dämonen bedrängt wurde.
Dämonen? Allzu gewichtig scheint die Vokabel, wo von einem nüchternen Berliner die Rede ist, dem immer das Understatement lieber war. Doch er selber verwendet sie: „Neid und Eifersucht der Andern in Gemeinschaft mit Eitelkeit und ungesättigtem Ehrgeiz in der eignen Brust, das sind“ – schreibt er 1885 – „die Dämonen, die kein reines Glück aufkommen lassen.“ Wenige Tage später erwähnt er, dass eine Bekannte, die humoristische Novellen verfasste, sich schon „ein ganzes Archiv von Huldigungszuschriften angelegt“ habe: „Und vergleiche damit mein mehr als 40 Jahre umfassendes literarisches Leben. Wenn ich alles zusammenzählen wollte, was mir von Dankesbriefen zugegangen ist, kämen doch nicht 100 heraus (also jährlich 2) und ‚begeisterte‘ nicht 10 … Das Beste ist, man denkt gar nicht darüber nach …“
Aber er konnte nicht auf hören, darüber nachzudenken. Wie sehr er unter der Nichtanerkennung seiner literarischen Leistung gelitten hat, ist vor allem dem Briefwechsel mit Mathilde von Rohr zu entnehmen. Wenn er gerade ihr besonders häufig sein Leid klagte und sich über seine Situation besonders aufrichtig äußerte, so nicht nur deshalb, weil er an dem Wohlwollen und an der Geduld der mütterlichen Freundin nie zu zweifeln brauchte. Zugleich repräsentierte sie jene Schicht, die er für seine Misere verantwortlich machte – den preußischen Adel –, und schließlich erhoffte er sich von ihren zahlreichen Kontakten in den Kreisen der Aristokratie eine reale Änderung.
Viel ist in diesen Briefen von finanziellen Fragen die Rede, von jener materiellen Sicherheit, um die er sich ständig bemühte und die ihm immer wieder verweigert wurde. Und doch ging es ihm, meine ich, nur in zweiter Linie um Geld. Gewiss, das Finanzielle ärgerte ihn sehr, was ihn aber verletzte und verbitterte, war die „Bettelvorstellung, die man von einem deutschen Schriftsteller hat“. Mit einem recht bescheidenen Leben konnte er sich offenbar eher abfinden als damit, dass andere ein solches Leben „als vollständig ausreichend für einen ansehn“. Das Verhältnis der Behörden zu ihm – es war nicht grausam, doch schäbig – hielt er für einen „Beweis mehr, daß dies vielgerühmte Zopfpreußentum mit seinem Dünkel, seiner Filzerei und seiner Grobheit wenig paßt zu dem Zuge meines Herzens“.
So stolz und trotzig viele seiner Äußerungen, so sehr machen ihm doch Minderwertigkeitsgefühle zu schaffen: Er zählt die Schriftsteller auf, denen Dotationen bewilligt wurden, er spricht nicht ohne Neid von den Erfolgen Spielhagens und Auerbachs, während er „in allem nur so mitschwimme und auch nicht ein einziges Prosa-Buch geschrieben habe, das über den succes d’estime hinausgewachsen wäre“. Die Arbeit als Theaterkritiker hat auf sein Selbstbewusstsein durchaus keinen günstigen Einfluss. Zustimmend zitiert er seine Frau: „Es ist nicht ganz Deiner würdig.“
Er glaubt auch zu erkennen, warum der preußische Staat von ihm nichts wissen will: „Man haßt die Schriftsteller, die sich mit Journalistik abgeben, oder man verachtet sie …“ Weihnachten 1874 bekennt er: „Ich bin unsagbar menschenmüde und müde des Strebens, das zu nichts führt. Könnt’ ich, ich zöge mich morgen zurück. Ich komme mir mit meinen Schreibereien vor wie ein Clown im Circus.“ Von Souveränität und heiterem Darüberstehen ist hier wenig zu spüren.
Als er 1876 den Posten eines Akademiesekretärs aufgibt, spricht er in den Briefen viel von Freiheit und Unabhängigkeit. Liest man sie genau, dann sieht man, dass es vor allem eine Prestigefrage war: „das Gefühl des Degradirtseins“ war für ihn unerträglich, man habe ihn „nie wie einen etablirten deutschen Schriftsteller, sondern immer wie einen ‚matten Pilger‘ behandelt, der froh sein könne, schließlich untergekrochen zu sein“.
Aus ihm – stellt er 1877 fest – sei nichts geworden: „Ich habe mich redlich angestrengt und bin so fleißig gewesen wie wenige, aber es hat nicht Glück und Segen auf meiner Arbeit geruht. … Ich murre nicht, und nehme die Loose wie sie fallen. Aber ich wollte doch mitunter, ich hätte besser gewürfelt.“
Hinzu kommt, dass die Berliner Gesellschaft Fontane noch in den achtziger Jahren ignoriert oder jedenfalls nicht gesucht hat. Er indes konnte ohne Gesellschaft nicht leben, und er hielt sich auch für „interessant und apart“: „Aber die Menschen wollen im Ganzen genommen wenig davon wissen. Es geht mir mit meinem Wesen, Charakter und gesellschaftlichen Auftreten wie mit meinen Büchern, einige sind sehr davon eingenommen, aber die große, große Mehrheit läßt mich im Stich.“
1888 – inzwischen ist er der Autor der Romane „L’Adultera“ und „Graf Petöfy“, „Cecile“ und „Irrungen, Wirrungen“ – konstatiert er sachlich: „Ich bin ganz allein und dies Alleinsein wird womöglich noch wachsen. Man empfindet auch daran, daß es Zeit ist, einen geordneten Rückzug anzutreten. Denn mit wem soll man noch verkehren? … Was soll ich mit dem jungen Nachwuchs, der sich längst daran gewöhnt hat, einen für einen todten Mann zu halten?“ Doch der fast Siebzigjährige, der schon für einen „todten Mann“ gehalten wurde, hatte noch einiges zu erzählen: Was jetzt kam – „Stine“ und „Frau Jenny Treibel“, „Effi Briest“ und „Der Stechlin“ –, ist das größte, das aufregendste und zugleich tröstlichste Finale, das die Geschichte der Weltliteratur kennt.
Man sollte Fontanes Leben nicht unnötig dramatisieren. Es verlief in ruhigen Bahnen; geruhsam freilich war es nicht, auch nicht harmonisch-versöhnlich. Sein Wesen war vielschichtiger und komplexer, als wir es uns vorgestellt haben. Und wenn es etwas gab, das seine Souveränität zeitweise in Frage stellen konnte, dann nicht die materielle Misere, wohl aber das lieblose und gleichgültige Verhältnis der Umwelt zu seinem Werk. Denn Fontane war – und damit sind wir doch wieder beim „Stechlin“ – „das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind“. Auch dies zeigen seine Briefe.
Hinweis der Redaktion
Erstdruck unter dem Titel Ein Mann und ein Kind. Zu Fontanes Briefen in: Die Zeit, 16. Juni 1972, S. 18 (Rezension zu Theodor Fontane: Briefe. Hg. von Kurt Schreinert, zu Ende geführt von Charlotte Jolles. Band III: „Briefe an Mathilde von Rohr“, Band VI: „Briefe an Karl und Emilie Zöllner und andere Freunde“. Propyläen Verlag, Berlin 1971). Die Rezension wurde zum Teil mit anderen Titeln in mehreren Büchern Reich-Ranickis nachgedruckt, zuletzt in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegewart. Hg. von Thomas Anz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. S. 189-195.