Eine Frage des Überlebens

Myra Marx Ferree betrachtet die deutsche Frauenbewegung aus globaler Perspektive

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es heißt zwar oft, US-amerikanische WissenschaftlerInnen schrieben besser als ihre deutschen KollegInnen. Myra Marx Ferrees Studie Feminsmen zeigt allerdings, dass dies keineswegs immer der Fall ist. Auch weicht der Untertitel Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive von demjenigen der Originalausgabe German Gender Politics in Global Perspective ab.

Tatsächlich beschränkt sich die globale Perspektive weitgehend darauf, die Geschichte und natürlich nicht immer einheitliche Politik deutscher Feministinnen mit derjenigen ihrer US-amerikanischen Gesinnungsgenossinnen zu vergleichen. Dabei erscheint die deutsche Frauenbewegung nicht selten homogener, als sie in ihren einzelnen Phasen und Wellen tatsächlich war.

So gelangt Marx Ferree zu grundsätzlichen Befunden, die etwa besagen, der „Feminismus in Deutschland“ gehe von der „politischen Grundannahmen“ aus, in denen neben „sozialer Gerechtigkeit“ und der „Verantwortung des Staates für das Gemeinwesen“ auch „Familienwerten“ ein „besonderer Stellenwert eingeräumt“ werde. Darüber hinaus erklärt Marx Ferree, „im deutschen Kontext“ sei der Begriff radikal „wenig produktiv“. So spielt die für die historische Frauenbewegung übliche Unterscheidung zwischen dem gemäßigten und dem radikalen Flügel der ‚bürgerlichen‘ Frauenbewegung keine Rolle. Stattdessen stülpt sie den deutschen Verhältnissen und vor allem der deutschen Frauenbewegung ihre US-amerikanischen Analysekategorien „liberal“ und „sozialistisch“ über. Zudem moniert sie wenig überzeugend, „infolge der Klassenkämpfe“ werde die Kategorie Geschlecht von deutschen FeministInnen „analog zur Kategorie Klasse betrachtet“, sodass „die Einheit der Frauen Priorität“ genieße und ihnen dem „Klassenmodell“ gemäß „andere Arten der Ungleichheit als lediglich untergeordnete Formen“ gelten. Dabei seien die feministischen Themen in Deutschland die gleichen „wie überall auf der Welt: Gleichheit und/oder Differenz, Autonomie und Exklusion, Teilhabe und politische Repräsentation von Frauen“. So wichtige Kämpfe und Streitpunkte wie etwa Prostitution, Familien- und Eherecht lässt sie völlig außer Acht.

Marx Ferrees Untersuchung geht nicht der Frage nach, ob der US-amerikanische oder der deutsche Feminismus „besser oder schlechter, schneller oder langsamer“ ist, sondern will herausarbeiten, dass die Politik einer Frauenbewegung „immer spezifischer Ausdruck dessen“ ist, „was im jeweiligen Kontext politisch wichtig ist“. So erklärt sie die gegenüber der US-amerikanischen Frauenbewegung „größere Fähigkeit des deutschen Feminismus, Fragen der Ethnizität und nationalen Identität von denen des Geschlechts zu trennen“, nicht unzutreffend damit, dass „nationale Identität, ethnische Zugehörigkeit, Klasse und Sexualität“ in beiden Ländern „auf sehr unterschiedliche Weise mit Geschlechterpolitik zusammenhängen“.

Für ihre Argumentation sei „entscheidend“, dass es sich bei Deutschland „nicht um ein im traditionellen Sinne liberales Staatswesen handelt“, wie es die USA mit ihrem Ideal der individuellen Freiheit ohne Einmischung, aber auch ohne nennenswerte Hilfe für sozial Schwache durch den Staat, sind. Die „deutsche Politik“ verbinde stattdessen „konservative patriarchalische Autorität mit sozialdemokratischen Gerechtigkeitsidealen zu einem Wohlfahrtsstaat, in dem die Förderung der Familie und die Reproduktion der Nation vorrangig sind“. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht die Beantwortung der Frage, „was für und durch feministische Politik in Deutschland sichtbar, machbar und tatsächlich erkämpft wurde und was nicht“. Weniger interessiert die Autorin, wie, also mit welchen Strategien dies erreicht wurde.

Ihrem Durchgang durch die Geschichte der deutschen Frauenbewegung hat Marx Ferree einen theoretischen Abschnitt vorangestellt, in dem sie ihre These der „Geschlechterpolitik als praktische Theorie“ entwickelt. Wobei das womöglich der Übersetzung anzulastende Oxymoron offenbar eine Theorie der Praxis meint. Denn unter „ praktischer Theorie feministischer Politik“ versteht die Autorin „ein heuristisches Instrument, um Frauen zu politischer Durchsetzungskraft zu verhelfen und bei der Wahl von Allianzpartnern und Prioritätensetzung zu bestärken“.

Das „Grundkonzept“ ihrer Analyse ist der „relationale Realismus“. Die „Geschlechterverhältnisse werden dabei als Teil eines komplexen, mehrdimensionalen Systems von Ungleichheiten betrachtet“. Daher weise ihr Ansatz über eine bloße „Theorie der Geschlechterverhältnisse“ hinaus und mache Intersektionalität zu einem „Schlüsselbegriff“. 

Marx Ferree unterscheidet zwar zwischen Frauenbewegung  und Feminismus, doch meint sie damit nicht den Unterschied zwischen der Praxis und der Theorie einer auf Frauenemanzipation zielenden Politik. Vielmehr definiert sie erstere allein über das biologische Geschlecht der Akteurinnen. Organisieren sich Frauen oder machen sie sich gemeinsam für politische, religiöse oder soziale Vorhaben stark und „mobilisieren“ ihre Mitstreiterinnen „über deren Geschlechtszugehörigkeit“, so handelt es sich stets um eine Frauenbewegung, mögen ihre Ziele auch noch so reaktionär oder antiemanzipatorisch sein. „Feministische Bewegungen“ setzen sich der Definition Marx Ferrees zufolge hingegen für „die Autonomie und Rechte von Frauen“ ein und bestehen nicht zwangsläufig nur aus Frauen.

Das erste der chronologischen Kapitel zur deutschen Frauenbewegung gilt der Zeit von 1848 bis 1968. Es umfasst etwa 30 Seiten, auf denen mithin ein Zeitraum von 120 Jahren behandelt wird. Damit ist es ungefähr ebenso umfangreich, wie jedes der folgenden fünf Kapitel, die Zeiträume zwischen fünf und zehn Jahren abdecken. Entsprechend oberflächlich – und nicht selten auch fehlerhaft – bleiben die Betrachtungen über die Zeit von 1848 bis 1968. Zitate der Frauenrechtlerinnen dieser Zeit werden, wenn überhaupt, zumeist vage anhand von (oft US-amerikanischer) Sekundärliteratur ausgewiesen. Aus dem Leben der Akteurinnen bekommen die Lesenden einige historische Brocken und Momentaufnahmen hingeworfen, die meist nicht völlig falsch sind. Aber eben auch nicht immer richtig, jedenfalls aber ein verzerrtes Bild bieten. So erfährt man über Gertrud Bäumer nur, sie sei die „letzte Vorsitzende“ des Bundes deutscher Frauenvereine gewesen, und habe sich 1933 „im Rahmen der Gleichschaltung […] in die nationalsozialistische Politik einbinden“ lassen. Ersteres ist schlicht unzutreffend. In einer Endnote wird denn auch richtigerweise nicht wie im Haupttext selbst Bäumer, sondern Agnes Zahn-Harnack als letzte Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine genannt. Und Bäumer auf diese letzte, unrühmliche Phase ihrer Biographie zu reduzieren, wird ihrer herausragenden, Jahrzehnte langen Rolle als einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des gemäßigten Flügel der Frauenbewegung nicht gerecht.

Wichtige Kämpfe wie der gegen die Prostitution oder der Kampf ums Familienrecht im BGB werden gar nicht behandelt oder wie der Kampf ums Frauenwahlrecht nur kurz erwähnt. Ungenannt bleiben einige der wichtigsten Feministinnen wie etwa Anita Augspurg. Andere werden nur beiläufig genannt. Hedwig Dohm, Lily Braun, Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Alice Salomon werden etwa als „linksliberale Feministinnen“ zusammengestellt. Kleinere Fehler sind sicher nie ganz zu vermeiden. Hier sind sie aber einfach zu zahlreich. Kurz: Dieser Abschnitt ist unbrauchbar. Für die Zeit von 1949, dem Gründungsjahr der DDR an wirft Marx Ferree bis zu deren Ende immer auch einen Blick auf die dortige Frauenbewegung.

Etwas besser gelingt der Abriss des von 1968 bis 1978 reichenden Jahrzehnts des „Autonomen Feminismus“. Dass die es einleitende Rede Helke Sanders und der anschließende Tomatenwurf von Sigrid Damm-Rüger „ein kollektives Unbehagen an gesellschaftlichen Zuständen artikuliert“ habe, ist jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Es war nicht eine kollektives, sondern eines der Frauen. Es war auch kein bloßes Unbehagen, sondern eine rational begründete Kritik. Und schließlich ging es nicht allgemein um die gesellschaftlichen Zustände, sondern ganz konkret um die Geschlechterverhältnisse im SDS. Richtig ist immerhin, dass Rede und Tomatenwurf „eine neue Welle des Feminismus“ in der BRD „mobilisierten“. Sanders Rede wird zwar relativ ausführlich vorgestellt. Doch auch im Zusammenhang mit ihr muss man manchen Beleg vermissen. Wo „schalt“ sich Sander später „naiv, weil sie wirklich geglaubt hatte, die Männer würden sich auf weibliche Perspektiven und Deutungen einlassen“? Zu Recht geht Marx Ferree in diesem Abschnitt ausführlich auf den Kampf gegen den § 218 und den beginnenden politischen Lesbianismus ein. Insgesamt ist der Abschnitt etwas weniger fehlerbehaftet als der vorherige.

Grundlegend ändert sich das erst mit dem nächsten. Mit ihm beginnt die Zeit, in der die Autorin ihre „über drei Jahrzehnte gesammelten Einblicke in die Entwicklung des deutschen Feminismus“ vor Ort gewann. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass Marx Ferree nun gerne kleine Anekdoten einflicht, etwa über ihre Erlebnisse in WGs, Frauenbuchläden oder bei einem Vortrag Judith Butlers in Berlin. Die Jahre zwischen 1975 und 1985 bezeichnet sie treffend als Zeit der „Frauenprojektbewegung“, wurden in diesen Jahren doch allerorten Frauenzentren, Frauenhäuser, Frauenbuchläden, Frauencafés, Frauenzeitschriften und dergleichen gegründet. Ihre Kernanliegen waren „Selbstemanzipation“ und der „normative Anspruch, Distanz zum Staat und zum Kapitalismus zu wahren und gemäß eigener ‚Frauenwerte‘ zu operieren, und zwar unter Ausschluss nicht nur von „einzelnen Männern“, wie Marx Ferree schreibt, sondern von Männern überhaupt, wofür sie zumeist gute Gründe hatten.

Allerdings stellte sich den autonomen Projekten, insbesondere den Frauenhäusern bald die „Gretchenfrage Staatsknete“: Sollte man finanzielle Unterstützung vom Staat, den Ländern oder den Kommunen einwerben und dafür die Autonomie riskieren? Das war allerdings keine Frage, die sich spezifisch der Frauenbewegung stellte, sondern allen Projekten der autonomen Alternativbewegungen dieser Zeit. Sie wurde im Laufe der Jahre um des Überlebens der Projekte willen zunehmend positiv beantwortet. Zudem zeigten sich „innere Widersprüche, die sich für Feministinnen zwischen ihren Prinzipien der Parteilichkeit für Frauen und der persönlichen Betroffenheit auftaten“, sodass insbesondere in Frauenhäusern und Notrufen für vergewaltigte Frauen und Mädchen, zunehmend zwischen „Klientinnen und Dienstleisterinnen“ unterschieden werden musste.

Zu Beginn der 1980er Jahre öffnete sich die „Kluft zwischen projekt- und parteifeministischen Vorstellungen“, wobei die Grünen für die feministische Parteipolitik zur wichtigsten Größe wurden. Marx Ferree weist in diesem Zusammenhang auf die Nähe des aus Kreisen der Grünen hervorgegangenen „Müttermanifestes“ von 1986 zu frauen- und familienpolitischen Positionen der CDU hin. Ende der 1980er Jahre rückte mit dem berüchtigten Prozess von Memmingen, in dem 174 Frauen wegen illegaler Abtreibung zu Geldstrafen und ein Arzt zu zweieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt wurden, noch einmal das Abtreibungsrecht in den Mittelpunkt. Es blieb über die Wiedervereinigung hinaus im Fokus feministischer Politik, da die Frauen aus den nunmehr ostdeutschen Bundesländern mit dem bundesdeutschen frauenfeindlichen Abtreibungsrecht konfrontiert wurden, während sie bislang bis in den dritten Schwangerschaftsmonat ohne Angabe von gründen Abtreiben hatten abtreiben können.

Zudem betrat in den 1990er Jahren Judith Butler die Bühne, deren Ideen gerade in Deutschland „einschlugen wie eine Bombe“. Gender Mainstreaming, Geschlechterverhältnisse und -politik wurden zum universitären Forschungsfeld. An die Stelle feministischer Frauenpolitik trat für etliche Studentinnen die zunehmend weniger feministische Geschlechterpolitik. Das hatte vielfältige Folgen. Frauenbuchläden mussten mangels Kundinnen schließen und „Feministinnen, die einst aktiv Gewalt gegen Frauen bekämpft hatten, begannen nun beim Thema häuslicher Gewalt auch an Senioren und Kinder und sogar Männer als potentielle Opfer zu denken“.

Während der nächsten Jahre „wurde die Kategorie ‚Geschlecht‘ im Zuge des Intersektionalismus in die Liste der Unterschiede aufgenommen, die es anzuerkennen und zu schützen galt“. Eine „bei Feministinnen umstrittene“ Entwicklung, drohen die Anliegen der Frauen seither doch in zunehmendem Maße hinter denjenigen diverser Minderheiten zu verschwinden, wie noch heute deutsche Radikalfeministinnen klagen.

Marx Ferree aber fordert dessen ungeachtet „eine intersektionelle feministische Politik“. Denn eine „wirksame diskursive Politik“ müsse sich „den verschiedenen Bedeutungen von Intersektionalität in nationalen, historisch-bedingten politischen Kontexten zuwenden“. Stattdessen schössen jedoch „Frauenprojekte, die darauf abzielen, ‚die anderen‘, sprich fremde unterdrückte Frauen zu retten, sowie ‚Vielfalt‘ lehrende Mainstreaming-Projekte wie Pilze aus dem Boden“. Immerhin aber hält sie „deutschen Aktivistinnen“ zu gute, bewiesen zu haben, dass  „erfolgreich gemeinsame Projekte“ entstehen können, „wenn man Feminismus als bewusste politische Entscheidung und ‚Frauen‘ als soziale Gruppe mit politischen Zielen begreift, können“.

Beginnt das Buch auch mit einem schwachen Abriss der frühen deutschen Frauenbewegung, so werden die diskursiven und argumentativen Entwicklungen des deutschen Feminismus doch von Kapitel zu Kapitel konziser dargestellt. Dies gilt insbesondere für die Jahre ab etwa 1980, also denjenigen, in denen die Autorin mehrmals für längere Zeit in Deutschland war. Wenigstens diese Abschnitte lassen sich – ungeachtet von Marx Ferrees nicht ganz überzeugendem theoretischem Instrumentarium, ihrer wenig plausiblen Parallelisierung deutscher feministischer Frauen- mit marxistischer Klassenpolitik sowie ihrer nicht eben bahnbrechenden Thesen – mit einigem Gewinn lesen.

Titelbild

Myra Marx Ferree: Feminismen. Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Buchholtz und Bettina Seifried.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
368 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783593502922

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