Sozialer Realismus aus Georgien
In ihrem Debütroman „Das Birnenfeld“ erzählt Nana Ekvtimishvili vom Umbruch der 1990er Jahre
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuf den ersten Blick ist Das Birnenfeld ein klassischer Internatsroman: Das Setting ist begrenzt, der Personenkreis ebenso. Im Mittelpunkt steht der Mikrokosmos, den ein Internat für (mutmaßlich) geistig behinderte Kinder bildet. Hauptfigur ist die 18-jährige Lela, aus deren Perspektive der Roman geschrieben ist. Eigentlich hätte Lela das Internat in den Außenbezirken von Tiflis längst verlassen müssen, da sie die Schule abgeschlossen hat, doch im bürokratischen Chaos der Post-Sowjetzeit gehen solche Details leicht unter. Tatsächlich bevölkern die Schule die Ausgestoßenen der Gesellschaft.
Inmitten von halb ausgebrannten Plattenbauten beherbergt das baufällige Gebäude Kinder, die niemand mehr haben will. Sie werden von den Außenstehenden die „Debilen“ genannt, aber ob die Kinder tatsächlich geistig zurückgeblieben sind oder einfach für nicht wert befunden werden, Teil der Gesellschaft zu sein, ist eine der Fragen, die der Roman aufgrund seiner eng an Lelas Gedanken und Empfindungen geknüpften Perspektive, nicht aufklärt. Unter ihnen ist etwa der kleine Irakli, der mit seiner Beschützerin Lela einmal die Woche zu den Nachbarn im Plattenbau geht, um seine Mutter anzurufen und sie zu fragen, warum sie ihn wieder nicht besucht hat. Da ist der freche Waska, der scheinbar nie etwas Gutes im Schilde führt. Da ist die strenge, aber gutmütige Direktorin Zizo, die versucht, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Die Geschichten, die von den Kindern erzählt werden, sind fast ausnahmslos trostlos und deprimierend. So beginnt der Roman gleich mit dem Tod des Jungen Sergo, der aus Versehen vor ein Auto rennt. Kapitel Drei widmet sich der Erinnerung Lelas an ehemalige Schüler, von denen die meisten einfach so verschwunden sind. Das Verschwinden der Kinder ist den Leitern des Internats scheinbar gleichgültig und wird nicht weiter hinterfragt. Ein zentrales Leitmotiv ist Lelas Hass auf den Geschichtslehrer Wano, der sie, so findet der Leser anhand expliziter Schilderungen zur Hälfte des Romans heraus, als kleines Mädchen monatelang sexuell missbraucht hat.
So ist es kein Wunder, dass die Handlung sich eher aus hastig hintereinander erzählten Anekdoten und kleinen Geschichten zusammensetzt, was Das Birnenfeld jedoch umso faszinierender macht. Tatsächlich ist gerade das Element, welches die Handlung narrativ vorantreibt – Amerikaner wollen den kleinen Irakli adoptieren und in die USA mitnehmen, obwohl dieser das eigentlich gar nicht so recht will – der Schwachpunkt des Romans, da die Geschichte in einem etwas unglaubwürdigen und Slapstick-artigen Showdown endet.
Es ist vielmehr der schonungslose soziale Realismus, mit dem Nana Ekvtimishvili überzeugt. Hierbei fasziniert vor allem, wie es der Autorin gelingt, trotz der teils extremen Brutalität ihrer Beschreibungen den Bogen nie so zu überspannen, dass das Ganze so wirkt, als sollten hier nur voyeuristische Tendenzen beim Leser befriedigt werden. Natürlich beherrscht Ekvtimishvili die Klaviatur des dramatischen Aufbaus, so dass sich Das Birnenfeld letztlich mehr als spannender Roman denn als experimentelle Milieustudie liest, dennoch sind es gerade die Beschreibungen der topographischen Trostlosigkeit, die den Roman so überzeugend machen.
Dazu kommt das bewusst gesetzte Moment der Unsicherheit beim Leser, was die Einschätzung der Protagonisten angeht. Durch ihre Charakterisierung streut Ekvtimishvili Zweifel, ob ihre Figuren tatsächlich so „debil“ sind, wie sie von der Außenwelt empfunden werden, oder ob es sich lediglich um einen abwertenden, gleichsam hilflosen Zuschreibungsmechanismus seitens der Nachbarn handelt. Dass am Ende doch noch der Glaube an das Gute im Menschen siegt, ohne diesen allzu pathetisch zu inszenieren, rundet das Buch dramaturgisch ab. All das macht Das Birnenfeld letztlich zu einem wunderbaren, kompromisslosen, bewegenden Roman.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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