Lernen als notwendiger Fortschritt oder Luxus?

Jennifer Bunselmeier ermöglicht mit dem „Engelhus-Vokabular“ einen interessanten Blick in das Lernen früherer Zeiten

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar wussten bereits die alten Römer, dass sie nicht für die Schule, sondern für das Leben lernten, gleichwohl fällt beides – insbesondere in einem standardisierten Bildungs- und Berufssystem – häufig zusammen. Und spätestens angesichts kurzfristig eingepaukten Stoffes, der gerade einmal bis zur anstehenden Prüfung präsent bleibt, wird oft genug dann doch mehr für die Schule oder Hochschule gelernt als für das Leben.

Non scholae, sed vitae discimus war vermutlich auch im späteren Mittelalter eine Weisheit, die im Kontext des Latein-Unterrichts zur Sprache kam, wobei dieser tendenziell dann doch eher an kirchlichem Latein ausgerichtet gewesen sein dürfte. Diese Zeit, zwar noch vor der Reformation, aber auch schon von künftigen Verwerfungen und Brüchen überschattet oder besser gesagt: deren Auslöser gewissermaßen in sich tragend, war von weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die auch Auswirkungen auf das Lehren und Lernen hatten. Sicherlich sind die von Martin Luther angestoßene Reformierung und die schließlich vollzogene Spaltung der abendländischen Kirche aufgrund des Diktums sola scriptura Auslöserinnen einer deutlichen Verbreiterung des Wissens und damit große ‚Bildungsmotoren‘ gewesen, aber bereits in vorreformatorischer Zeit wurden Weichen in diese Richtung gestellt. Durch die steigende Bedeutung der Städte, hier ist nicht zuletzt das wirtschaftliche Potenzial gemeint, entwickelte sich sukzessive eine laikale Kultur der Bildungsvermittlung, die natürlich nicht komplett mit vorhandenen Traditionen brach, aber doch neue Entwicklungen mit sich brachte.

Damit wurde ein Weg in die (westliche) Moderne angelegt, der letzten Endes auch von heutigen Generationen noch beschritten wird. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass Begrifflichkeiten wie etwa der ‚Wechselunterricht‘ seinerzeit bekannt gewesen oder gar verstanden worden wären, dennoch mögen unvermutete Verbindungen aufscheinen, die sich vor allen Dingen anhand der Quellen erkennen lassen, die als Grundlage zu Forschungen über und Aussagen zum spätmittelalterlichen Unterrichtsgeschehen dienen können. In gewisser Hinsicht sind oder vielmehr waren derlei Wörterbücher oder auch Grammatiken Instrumente des ‚Distanzunterrichts’, denn das Selbststudium war auch in der Vergangenheit ein nicht unwesentlicher Aspekt des Wissenserwerbs und gehörte in den allgemeineren Kontext didaktischer Praxis.

In der Mediävistik sind Wörterbücher, Glossen et cetera ein lang bearbeitetes Forschungsfeld, wobei dies insbesondere für die entsprechenden (vor-)althochdeutschen Texte gilt. Aber auch für die späteren Phasen des Mittelalters sind Wörterbücher oder allgemeiner: didaktische Texte immer wieder in den Blick genommen worden. Somit greift Jennifer Bunselmeier auf eine bemerkenswerte Traditionslinie zurück, die sich auf Wörterbücher im Allgemeinen, aber eben auch auf das von Dietrich Engelhus verfasste Engelhus-Vokabular erstreckt. Das vorliegende Werk ist die Publikation ihrer 2018 abgeschlossenen Dissertation, die sich mit jenem um 1400 entstandenen Wörterbuch beschäftigt, das seine Titelspezifikation nach dem Verfasser trägt und neben vornehmlich lateinischen in geringerem Umfang auch griechische und hebräische Wortübersetzungen beinhaltet. Dieses Vokabular sowie seine verschiedenen Handschriften werden hier vorgestellt und in den weiteren Kontext didaktischer Literatur des späten Mittelalters eingebettet.

Engelhus’ Anliegen war es, seinen Schülern das komplexe System der lateinischen Sprache nahezubringen und im besten Fall begreifbar zu machen. Der um 1360 geborene und 1434 gestorbene Lehrer war sicherlich Teil der oben skizzierten Bewegung in die Moderne hinein. Als Angehöriger des wohlhabenden Patriziats der Stadt Einbeck steht er symbolisch für jenen wirtschaftlichen Aufschwung der spätmittelalterlichen Städte. Letztlich wirkt seine Entscheidung, theologische Studien aufzunehmen, dann aber doch wieder etwas ‚rückwärtsgewandt‘. Die Studien an der Universität von Prag und ab 1392 an der ein Jahr zuvor gegründeten Universität in Erfurt machen deutlich, in welchem Maße Engelhus seinen Horizont nicht nur geistig-intellektuell, sondern auch geographisch erweiterte.

Die eigene Lehrtätigkeit, in der auch der nach seinem Verfasser benannte Text entstand, erfolgte in städtischem Umfeld, also handelte es sich nicht ausschließlich um klerikal orientierte Bildung – so etwa in Hannover, Göttingen, Erfurt und sicherlich auch Einbeck. Das wäre dann gewissermaßen der vorausweisende, ‚moderne‘ Aspekt in Leben und Arbeit des Dietrich Engelhus. Der Umstand, dass der Urheber dieses Vokabulars kurz vor seinem Tode in das Kloster der Augustinerchorherren in Wittenburg bei Hildesheim eintrat, passt dann hingegen doch eher in die mittelalterliche Idealvorstellung eines Lebensabschlusses im klerikalen Umfeld. Das – vielleicht auch nur vermeintliche – Primat der Diesseitigkeit und Individualität wurde durch die Einbindung in eine spirituell ausgerichtete Gemeinschaft gebrochen.

Diese biographischen Informationen stammen aus dem mit „Entstehungsgeschichte“ überschriebenen ersten Block der Publikation, der insbesondere entstehungsgeschichtliche, aber auch formale Aspekte zum Vokabular behandelt, welches offenbar als derart attraktiv empfunden wurde, dass es alsbald ins Mitteldeutsche und schließlich auch Oberdeutsche übertragen wurde. Dies ist ein Hinweis auf die Wertschätzung, die dem Wörterbuch entgegengebracht wurde, wohlgemerkt vor der flächenhaften Etablierung des Buchdrucks. Es muss also einen Bedarf an derlei didaktischem Material gegeben haben, der hier durch handschriftliche Vervielfältigung gedeckt wurde. Fast noch bemerkenswerter ist, dass Jennifer Bunselmeier anhand der beiden Wolfenbütteler Handschriften des Engelhus-Vokabulars die bereits zuvor geäußerte Vermutung, beide könnten nach Diktat entstanden sein, zwar nicht absolut beweist, aber doch so viele Hinweise und damit Argumente für die Wahrscheinlichkeit dieser These zusammenträgt, um diese zumindest in hohem Maße wahrscheinlich zu machen. Gerade dieser Aspekt zeugt von der Widersprüchlichkeit auch kulturell-technologischer Entwicklungen dieser Phase unmittelbar vor der anhebenden Frühmoderne.

Im sich anschließenden zweiten Hauptteil werden Mikro- und Makrostruktur des Wörterbuchs vorgestellt und dabei auch Aspekte der Anwendung in der Schul- respektive Unterrichtssituation in den Blick genommen. Hierbei gelingt es der Autorin, immer wieder auch ‚vitalere‘ Ebenen aufzutun, als dies bei einer ausschließlich rein formalen Betrachtungsweise der Fall gewesen wäre. Die Entstehung dieses Vokabulars und seine Anwendung in der spätmittelalterlichen didaktischen Praxis wird so nicht auf ausschließlich metabezogener Deskriptionsebene abgehandelt, sondern findet gewissermaßen ihren Sitz im Leben.

Gleichwohl liegt das Hauptaugenmerk auf den formalen Bereichen in der Makro- und Mikrostruktur, und so finden sich neben etwa nur auf den ersten Blick absonderlichen Fragen der Leserichtung auch relevantere Aspekte wie etwa Abkürzungen, Zuweisungen oder auch die Übersetzungsäquivalentangaben hinsichtlich der ‚Zielsprache‘ Deutsch (mit den Ausgangssprachen Latein, Griechisch und Hebräisch). Gemeint ist hiermit allerdings lediglich die Übertragung fremden Wortschatzes in deutsche Begrifflichkeiten, also nicht eine Art anwendungsorientierter Hinführung zu einer konstruktiven Produktion deutscher Texte auf Grundlage der aufgenommenen fremdsprachlichen Wörter, die Bunselmeier als notwendiges Kriterium für die Verwendung des Begriffs der ‚Zielsprache‘ ansieht. Hinsichtlich der Anwendung beziehungsweise der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Vokabulars erscheinen die Aussagen der Autorin allerdings mitunter widersprüchlich, da sie einerseits auf die breit gefächerten Anwendungsmöglichkeiten abhebt, andererseits eben diese Anwendungsbreite und vor allem auch -tiefe weitgehend negiert. Nach nochmaligem Lesen wird schließlich klar, was gemeint ist, allerdings eben nicht sofort, und das ist zunächst etwas irritierend.

Als letzter Hauptteil wird die Rezeptionsgeschichte des Wörterbuchs in den Blick genommen. Unter diesem Blickwinkel werden die beiden Wolfenbütteler Abschriften abermals und hier in erster Linie hinsichtlich erkennbarer Benutzungsspuren miteinander verglichen. Auch hier sind es wie schon bei den zuvor bereits erwähnten frühen voralthochdeutschen oder althochdeutschen Textzeugnissen Marginalien und Interlineare, die zum Erkenntnisgewinn führen – Frustrationserlebnis oder nachträgliche Rechtfertigung angesichts der insbesondere im Rahmen der Lernmittelfreiheit besonders verpönten Notizen in Schulbüchern unserer Tage.

Das Engelhus-Vokabular ist zweifellos ein interessanter und im Kontext der Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung auch wichtiger Mosaikstein, gerade für die Beschreibung sowie das Verständnis der Bildungsentwicklung in dieser Phase am Beginn der Frühmoderne. Der erkennbar hohe Arbeitsaufwand und die erbrachte Sorgfalt lassen keine Zweifel an der Solidität des Unterfangens und der Kompetenz der Autorin. Die verschiedenen Textüberlieferungen werden detailliert in den Blick genommen, sodass auch der zeitgenössische Rezeptionshorizont annähernd erkennbar wird. Allgemeine Rahmenbedingungen spätmittelalterlicher Didaktik, die Verortung in den Kreis des aufstrebenden (Groß-)Bürgertums und in gewissem Sinne die damit verbundene Etablierung von Bildungsidealen werdem zumindest in ihrer grundsätzlichen (Fort-)Entwicklung her dargestellt. Technische Feinheiten wie die Standardisierung von Kürzeln, aber etwa auch der Hinweis darauf, dass in manchen der überlieferten Abschriften Interlineare – quasi die Essenz vor- und frühalthochdeutscher Textproduktion und -rezeption – erst in deutlich späterem Zeithorizont zu beobachten sind, ist äußerst reizvoll.

Die Publikation ist also eine Fleißarbeit im positiven Sinne. Bunselmeier behält bei konzentriertem Blick auf Engelhus den allgemeinen historischen wie gesellschaftlich-bildungsbezogenen Rahmen im Blick und legt ihre Argumentation stringent dar. Dies, also der rein inhaltliche Aspekt sowie der äußere Rahmen (der feste Einband und die eingestreuten Abbildungen – ein großer Teil davon in Farbe – relevanter Textpassagen aus den beiden Wolfenbütteler Vokabular-Handschriften) hat seinen Preis. Dennoch könnte man argumentieren, dass hier die falsche Preispolitik verfolgt wird. Die knapp 100 Euro für ein zwar ohne Zweifel ansprechendes Produkt, das von der Thematik her dann aber doch zu randständig ist, um sich sozusagen automatisch im ‚Erwerbepizentrum‘ mediävistisch Interessierter zu befinden, werden sicherlich ein Kaufs- beziehungsweise Verkaufshemmnis darstellen. Das ist bedauerlich – aber womöglich sieht der Rezensent hier ja auch nur zu schwarz?

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jennifer Bunselmeier: Das Engelhusvokabular. Lexikographie, Diktat und Lateinunterricht im Spätmittelalter.
De Gruyter, Berlin 2020.
X, 256, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110646832

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