Mit fleischigen Küssen

Enzensberger lockert die Erde mit einer neuen Auswahl seiner Gedichte von 1950–2020

Von Christian RößlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Rößler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Tuscheln, Jibbern, Girren und Keuchen“ sendet Hans Magnus Enzensberger einen sprach-verliebten Gruß, anlässlich seines 90. Geburtstages. Einmal mehr zeigt er, dass einen Autor die Menge der Kenntnis von Wörtern auszeichnen kann, wie er es in der Wiedergabe eines „Audiosignals vom 15. Mai 1912 demonstriert. Alle fünf Jahre erneuert Suhrkamp die Auswahl seiner Verse, die er dabei auch um neue Gedichte bereichert.

Wer Enzensberger nur in die politische, moralisierende Schublade stecken möchte, wird mit diesem Band eines Besseren belehrt. Die neue Auswahl bildet getreu die vielen Interessengebiete des Autors ab. Das Gedicht dient ihm vor allem als Medium, seinen Witz und seine Spürnase („Intimität) im Politischen, wie im Privaten auszuleben. Diesen fällt beispielsweise auf, dass „Knöpfe“ in mannigfaltiger Varianz vorkommen, in mehr oder minder wichtiger Bedeutung – das Leichenhemd jedoch kommt ohne aus. So kontrastiert er häufig die kleinsten Dinge des Alltags und die großen Probleme der Welt und des Menschen und knüpft überraschende Zusammenhänge. „Manche Wörter lockern die Erde, später vielleicht.

Immer schafft es Enzensberger düster, doch nicht finster zu sein, humorvoll, aber nicht albern. Diese Lockerheit, mit der er seine Einfälle und Kritik vermittelt, durchzieht sein Werk, nimmt sich hier und da zurück für mehr Ernst, wo er angebracht ist („Niccolo Machiavelli“). Er sieht die verwahrlosten Menschen in der U-Bahn Wittenbergplatz, wie sie ihm entgegensinken, doch verliert er dabei nicht die stoische Gelassenheit. Ironisch entschuldigt er sich für große und kleine „Unterlassungssünden“, nachdem ihm in der Vergangenheit seine politische Zurückhaltung vorgeworfen wurde. Sein Metier ist eben die Kunst, die Literatur, das Gedicht.

Allerdings kann man hinterfragen, ob die zehn neuen Gedichte, die man hier abdruckt, eine neue Zusammenstellung rechtfertigen, zumal sieben davon im neuen Gedichtband Wirrwarr mit Jan Peter Tripp wieder erscheinen. Hinzu kommt, dass die späten Gedichte gewaltig an Schärfe verlieren, sodass man weiter fragen muss, ob man jemanden, der sich zur Ruhe setzt, nicht lieber auch in Ruhe lässt. Dennoch leitet der Band abwechslungsreich durch das poetische Werk des Autors und bleibt als Ganzes interessant und wertvoll  eine „Profane Offenbarung“ ist eben auch eine Offenbarung.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950-2020.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
244 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518470138

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