Kleine Einblicke ins Aichinger-Universum

Das „Ilse Aichinger Wörterbuch“, herausgegeben von Birgit Erdle und Annegret Pelz, ist eine gelungene Hommage an die österreichische Schriftstellerin

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel Wörterbuch ist ein arges Understatement, denn der von Birgit Erdle und Annegret Pelz herausgegebene Band ist weit mehr als ein einfaches Wörterbuch. Aber natürlich ist der Titel nicht nur als Gattungsbeschreibung zu verstehen, sondern darin verbirgt sich schon die erste Anspielung auf den Star des Buches: Ilse Aichinger, die 2021 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. Wörter waren das, worum es ihr ging, immer wieder kommt sie selbst darauf zurück, schlechte Wörter ist auch der Titel einer ihrer radikalsten Textsammlungen, aus der ein kurzer Auszug ebenfalls abgedruckt ist. Aichinger ging es, wie die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort schön herausarbeiten, um die Präzision in der Sprache, so offen ihre Ästhetik sich auch präsentierte, wie zersplittert und abgründig ihre Texte auch sein mochten, die Basis in ihren Bausteinen, den Wörtern musste genau sein, darauf legte Aichinger ungemeinen Wert. Und so könnte der auf den ersten Blick etwas formal wirkende Titel Wörterbuch nicht besser gewählt sein. 

In über 70 Einträgen von „Atlantik“ bis „zwei/Zwilling“ gehen jeweils unterschiedliche Autorinnen und Autoren Aichingers Wörtern nach – Wörter, die für sie eine Rolle spielten, die sie verwendete oder die mit ihrer Biographie zu tun haben. Da finden sich erwartbare Einträge wie „Eich“ und „Kino“, Connaisseurs werden von Lemmata wie „Conrad“ oder „Schwedenbrücke“ nicht überrascht sein, überraschender ist es da schon, was es mit dem „Beerensuchen“ oder dem „Esel“ auf sich hat. Die einzelnen Beiträge sind wenige Seiten kurz, stilistisch ganz unterschiedlich gehalten, mal eher wissenschaftlich, mal mehr literarisch oder feuilletonistisch. Eher unbekannte Aichinger-Texte werden vor den Vorhang geholt, nur Fragment gebliebene Texte vorgestellt. Manche Beiträge, wie jener von Ann Cotten, sehr passend zu ihrem eigenen Schreiben zum Stichwort „Lücke“, sind kleine Kunstwerke für sich. Jede Autorin, jeder Autor (darunter Namen wie Yoko Tawada, Bodo Hell, Daniela Strigl und Teresa Präauer) wählt einen eigenen Zugang zu Aichinger und wie vielfältig das Gesamtergebnis ist, spiegelt die Vielfalt von Aichingers Kosmos.

Sammelbände dieser Art laufen häufig Gefahr, etwas einseitig ins Biographische, Schwärmerische oder – noch schlimmer – in spröde Wissenschaftlichkeit abzugleiten. Das passiert hier erstaunlicherweise gar nicht, auch nicht in den Beiträgen, die einen analytischen Zugang wählen, wie etwa Belinda Kleinhans, die sich mit dem Motiv Hai/Fisch auseinandersetzt. Sie rechnet etwa vor, dass „die Konzentration [der Haie] geringer wird: Zählte Die größere Hoffnung noch elf Haie, so sind es im Erzählband Zu keiner Stunde nur noch acht, und in den Bänden Eliza Eliza und Auckland je nur einer. Das ist eine amüsante Spielerei, die von einer profunden Spurensuche nach den Haien und Fischen im Werk Aichingers gefolgt wird. 

Dass die einzelnen Beiträge lose nebeneinanderstehen und die Auswahl der Lemmata etwas willkürlich wirkt, ist dem Format des Wörterbuchs geschuldet. Es ist in Hinblick auf Aichingers Schaffen aber sehr passend. Auch da hat vieles nebeneinander Platz, ohne miteinander verbunden werden zu müssen und es ist die Vielfalt, nicht die Einheit, die Aichinger so lesenswert macht. Die vor Lesebeginn aufkommende Vermutung, dass das Ilse Aichinger Wörterbuch nur für passionierte Aichinger-Leserinnen und -Leser interessant sein könnte, erhärtet sich erfreulicherweise nicht. Ganz im Gegenteil. Zwar mögen einige Beiträge eine gewisse Kenntnis der Aichinger’schen Vita und Textwelten voraussetzen und an manchem Zugang wird man mehr Genuss haben, wenn man Aichingers Texte tatsächlich gut kennt. Abgesehen von der Tatsache, dass jemand, der Aichinger nicht schätzt, wahrscheinlich ohnehin nicht zu diesem Band greift, eignet er sich dennoch auch zur Annäherung an Aichingers Schaffen. Und so kann sich der Fischer-Verlag, bei dem die Aichinger-Werkausgabe erschienen ist, beim Verlagskollegen Wallstein bedanken: Das Wörterbuch macht mit diesem gelungenen Mix nämlich unglaubliche Lust darauf, Aichinger (wieder) zu lesen. Wie es sich für ein Wörterbuch gehört, wird man auch dieses immer wieder zur Hand nehmen. Am besten hat man dann einen Stapel der Primärtexte an seiner Seite.

Titelbild

Ilse Aichinger: Wörterbuch.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
368 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835350441

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