Das Beängstigendste
Louise Erdrichs Roman „Der Gott am Ende der Straße“ vermag auf Dauer nicht zu fesseln
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDiesseits und jenseits des Atlantiks ist Louise Erdrich eine weithin anerkannte Schriftstellerin, deren neue Romane nicht nur von einer Fangemeinde mit Interesse, ja fast einer gewissen Spannung erwartet werden. So auch ihr jüngstes Werk Der Gott am Ende der Straße. Es handelt im US-amerikanischen Bundesstaat Minnesota, dessen Hauptstadt Minneapolis, kleineren Ortschaften und einem Reservat der indigenen Ojibwe. Wann sich die teils rätselhafte, teils dramatische Geschichte vollzieht, wird zwar nicht explizit gesagt, doch handelt es sich offenbar um die allernächste Zukunft.
In den ersten Kapiteln ist immer wieder von einer mysteriösen Katastrophe die Rede, die sich zwar gerade vollzieht, allerdings lange Zeit nicht benannt, sondern nur als „große, unbegreifliche Umwälzung“ beschrieben wird, von der im Alltag der Figuren merkwürdigerweise jedoch nichts zu bemerken ist. „Alles ist aus den Fugen und man tut ganz normale Sachen“, sinniert die Protagonistin angesichts dieses Missverhältnisses zwischen der geheimnisvollen Katastrophe und ihrem eigenen Alltag, in dem die Dinge wie immer ihren Gang gehen würden, wenn sie nicht gerade erfahren hätte, wer ihre leibliche Mutter ist. Unmittelbar nach deren Niederkunft war sie von einem gutsituierten alternativ-liberalen Anwaltspaar adoptiert worden. Inzwischen ist sie 26 Jahre alt und selbst im fünften Monat schwanger.
Das Buch tritt als „Bericht“ oder Brief auf, den die Erzählerin für ihr ungeborenes Kind schreibt, das sie immer wieder direkt anspricht. Der Stil eines Briefes oder eines niedergeschriebenen Berichts wird zwar nicht einmal ansatzweise durchgehalten, auch nicht der eines „Sendschreibens“. „Lang“ und „verwickelt“ ist er allerdings schon.
Erst nach einer Weile stellt sich für die Figuren wie für die Lesenden heraus, was es mit der durch alle Nachrichten geisternden Katastrophe auf sich hat. Die Evolution scheint „erschreckend schnell“ rückwärts zu laufen und zwar von einer Generation zur nächsten, was sich zuerst an einigen Pflanzen- und Tierarten bemerkbar macht. Doch auch die Menschen sind nicht davon ausgenommen. Daher werden alle schwangeren Frauen, so man ihrer habhaft werden kann, zwangsweise in Institutionen eingeliefert, die zugleich Krankenhaus, Entbindungsstation und Psychiatrie, vor allem aber Gefängnislager sind. Veranlasst werden diese „präpartalen Ingewarsamnahmen“ von einer Organisation, die sich „The Church of the New Constitution“ nennt und offenbar die Macht in den USA übernommen hat. Um bislang unentdeckt gebliebene Frauen, die ein Kind erwarten, aufzuspüren, bedient sie sich der Mittel der Inquisition. Zudem gilt es nun als „Verbrechen, eine Schwangere zu beherbergen oder ihr zu helfen“. Aber auch die von ihr verfolgte Ich-Erzählerin ist ausgesprochen religiös und gibt ein „Magazin für katholische Fragen“ mit dem Titel Zeal heraus. Mag sie auch kaum zur Identifikationsfigur taugen, fiebert man doch mit ihr, wenn sie versucht, den sich zuckersüß gebenden Häschern zu entkommen.
Die Lesenden wissen immer nur so viel wie die Erzählerin. Das ist wenig genug und bleibt ganz auf ihr unmittelbares Erleben und ihr Innenleben konzentriert. Einen Überblick über die Gesamtereignisse erhält man kaum. Dafür stellt sie immer wieder laienphilosophische Reflexionen über die Welt und – vor allem – über Gott und andere religiöse Probleme an. Zudem „rasen“ ihre Gedanken „so schnell“, dass sie selbst „kaum Schritt halten“ kann, was auch daran liegen mag, dass ein Gedanke bei aller Geschwindigkeit auch noch ständig die Richtung wechselt, gleich einem Hasen, der flüchtend Haken schlägt.
Insbesondere der erste Teil ist mit einem mal feinen, mal ironischen, mal satirischen Humor durchwoben, der immer wieder schmunzeln lässt. So etwa, wenn sie zum ersten Mal ihre leibliche Familie in einem Reservat der Ojibwe aufsucht. Doch schon ihr Name spielt mit den Erwartungen der Lesenden, nicht nur weil sie zwei hat, Cedar Hawk Songmaker und Mary Potts, sondern weil ersterer ihr Adoptivname ist, letzterer ihr Geburtsname. Später, wenn das Geschehen dramatischer wird, bleibt von dieser spielerischen Leichtigkeit des Textes allerdings nichts mehr übrig.
Der Roman verhandelt eine ganze Reihe teils zentraler, teils eher randständiger Themen oder spricht sie doch zumindest an. An erster Stelle zu nennen wären Religion und (katholischer) Glaube. AtheistInnen und wohl auch AgnostikerInnen werden mit dem Buch daher vermutlich eher wenig anfangen können. Auch bleibt unklar, warum eine der Figuren mehrfach erfreut meint, dass die rückläufige Evolution KreationistInnen und das Konzept des Intelligent Design widerlege. Denn während sich der Evolutionstheorie zufolge von zufälligen Mutationen die an ihre Umwelt angepasstesten Varianten durchsetzen und sich die Evolution somit weder vor- noch zurückentwickelt, könnte sie ein Kreator oder Designer nach Belieben vor- und rückwärts laufen lassen. Das „Beängstigendste“, meint jedenfalls ausgerechnet die hochreligiöse Ich-Erzählerin, sei, dass Gott „an der Macht“ sein könne.
Weitere große Themen des Buches sind die Entwicklung des Fötus und Embryos während der Schwangerschaft sowie eine komplexe Mutter-Adoptivtochter-Beziehung. Hinzu treten etliche weniger zentrale Probleme, von denen hier nur eines genannt sein soll: Die Landenteignung indigener Völker, namentlich der Ojibwe, die von der allgemeinen Katastrophe zumindest zunächst nicht nur merkwürdig unberührt bleiben, sondern sogar noch von ihr profitieren, denn die Weißen flüchten sich in die Städte und sie können ihr Land zurückerobern.
Der Gott am Ende der Straße entwickelt zunächst einen ganz eigenen Sog. Doch schwächt er sich im Laufe der Lektüre immer mehr ab, sodass man die Protagonistin und ihre Welt am Ende recht gleichgültig verlässt. Zuviel hat die Autorin zusammengerührt, zu wenig wird schlüssig erklärt. Von besonderer Intensität sind allerdings die sich jeweils über mehrere Seiten erstreckenden Beschreibungen einer Geburt und eines Mordes. Vielleicht lohnt die Lektüre allein um ihretwillen.
|
||